- Indianer
Indianer (hierzu die Tafeln »Indianische Kultur I-III«, mit Textblatt), die Ureinwohner Amerikas, so von den spanischen Entdeckern genannt, welche die Neue Welt für einen Teil In diens ansahen. Der neuerdings für sie vorgeschlagene Name »Amerind«, Abkürzung für »amerikanische I.«, dürfte schwerlich allgemeinern Eingang finden. Trotz großer Verschiedenheit in der körperlichen und geistigen Entwickelung werden sie, mit Einschluß der Eskimo, einer Rasse, der amerikanischen, zugerechnet, welche die nächste Verwandtschaft mit der mongolischen zeigt. Ihre Hautfarbe ist ein helles Braun mit einem rötlichen Unterton (daher Rothäute), das Haar ist schwarz, dick und straff, der Bartwuchs spärlich. Die Backenknochen sind vorstehend, die Augen klein und etwas schief gestellt; die Stirn ist niedrig, die Nase häufig gekrümmt, der Schädel größtenteils mesokephal. Sie sind im allgemeinen von mittlerer Größe und gedrungenem Körperbau. Ihre geistige Begabung ist nicht unbedeutend, doch sind sie wenig geschickt in der Aneignung einer fremden Zivilisation. Ihre Sinne sind stark entwickelt, die Gemütsstimmung meist ernst. Ihr Charakter zeigt ein Gemisch von Tugenden und Lastern: Mut, Standhaftigkeit, Ehrgefühl auf der einen Seite, Trägheit, Grausamkeit, Falschheit auf der andern. – Weiteres über die Herkunft und Einteilung der I. s. Artikel »Amerikanische Sprachen« und »Amerikanische Völker« mit Tafel I und II.
Das durch die Phantasie von Romanschriftstellern (Benjamin Cooper) geschaffene Bild des Indianers bezieht sich auf die nordamerikanischen Jägervölker, die eigentlichen Rothäute, entspricht jedoch nur wenig der Wirklichkeit. Im allgemeinen ist Verschlossenheit ein Grundzug ihres Charakters. Der I. trägt eine äußerliche Gleichgültigkeit zur Schau, während er sich leidenschaftlichen Erregungen (Spiel. Liebe) mit Lebhaftigkeit hingibt. Den Schmerz erträgt er mit einer aus Wunderbare grenzenden Selbstüberwindung; im Verkehr ist er gemessen und höflich, doch leicht verletzt und rachsüchtig, für empfangene Wohltaten selten dankbar. Im Kampfe gegen Feinde ist er mutig, listig und grausam. Er besitzt eine natürliche Rednergabe und poetischen Ausdruck. Seinen phantastischen Sinn offenbart er in der Bemalung des Gesichts mit schreienden Farben, dem Ausputz der Haare und dem bunten Zierat der Kleidung. Sein vorzüglichster Schmuck sind die Wampums, Arm- und Halsbänder aus farbigen Perlen, die ursprünglich aus Muschel- und Schneckenschalen gefertigt wurden. Dieser Schmuck diente auch als Zahlungsmittel; im Kriege war seine Übersendung Zeichen des angebotenen Friedens, unterworfene Stämme zahlten mit ihm ihren Tribut. Die ehemalige Pelzkleidung ist jetzt durch die wollene Decke, das Blanket, verdrängt worden. Die Wohnungen sind teils dauerhafte Holzhäuser, teils leichte, aus Baumrinde oder zusammengenähten Büffelhäuten gefertigte, meist kegelförmige Zelte (Wigwams), mit dem Feuerplatz in der Mitte und einer Rauchöffnung im Dach. Fast alle I. trieben neben der Jagd und dem Fischfang mehr oder weniger Ackerbau; im O. zeichneten sich die Algonkin und Irokesen durch die sorgfältige Anlage ihrer Felder aus, im S. die Yuma, Pueblo und Pima. Gebaut wurden Mais, Kürbisse, Melonen, Kartoffeln, Baumwolle und Tabak. Von Haustieren war nur der Hund bekannt. Die Kultur befand sich zur Zeit der Entdeckung überall im Zeitalter der geschliffenen Steinwerkzeuge, wiewohl Kupfer, Bronze und Edelmetalle zu verschiedenen Zwecken, namentlich zu Schmucksachen, verarbeitet wurden. Die Waffen (Speer, Keule, Beil und Bogen) waren aus Holz, Knochen oder Stein gearbeitet. Jetzt sind eiserne Beile (Tomahawk), Schlachtmesser und Flinten an ihre Stelle getreten. Die meisten Stämme waren mit der Töpferei vertraut, kannten aber nicht die Töpferscheibe und die Glasur. Webe- und Flechtarbeiten wurden, meist von Frauen, mit einfachen Hilfsmitteln gefertigt. Die mitunter recht ansehnlichen Bauten errichteten die I. ohne Winkelmaß und Lot; aus ausgehöhlten Baumstämmen, Baumrinde oder Fellen verfertigten sie geräumige Kanoes, aber sie kannten nicht den Gebrauch des Segels und Steuerruders und benutzten Schaufelruder, paddles, zur Fortbewegung. Sie hatten verschiedene Musikinstrumente, aber keine Saiteninstrumente. Eine Auswahl von Kunsterzeugnissen der I., Geräte, Waffen etc., ist auf beifolgenden Tafeln dargestellt; vgl. dazu noch die Tafeln »Wohnungen der Naturvölker«, »Kunst der Naturvölker«, »Rauchgeräte«, »Totenbestattung«. Die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens der nordamerikanischen I. ist nicht die Familie, sondern das Geschlecht (Sippe, Gens, Clan), das durch ein meist einem Tier entlehntes Sinnbild (Totem bei den Algonkin) gekennzeichnet wird. Eine Anzahl solcher Geschlechter bilden den Stamm. Jedes Geschlecht ist bis zu einem gewissen Grade selbständig und erwählt seinen eignen Häuptling, der alle Angelegenheiten innerhalb des Geschlechts ordnet. Der Stamm wird durch einen Rat geleitet, dessen Mitglieder von den einzelnen Geschlechtern gewählt werden. Dieser Rat wählt auch den Stammeshäuptling, meist aus einem bestimmten Geschlecht, während für den Krieg ein besonderer Häuptling auf Grund seiner Tüchtigkeit erwählt wird. Heiraten innerhalb der Geschlechter sind verboten. Die Erbfolge geschieht gewöhnlich in weiblicher Linie; dem Verstorbenen folgt der Sohn seiner Schwester. Diese Einrichtung erhöht die Stellung der Frau, die keineswegs bloß die Sklavin des Mannes ist. Ihre Stimme ist mitunter im Rate nicht ohne Einfluß; in einzelnen Fällen haben die Frauen selbst die Stelle eines Häuptlings eingenommen. Die Heirat wird durch Kauf abgeschlossen; nur die Reichen haben mehrere Frauen. Die früh reisenden Mädchen treten mitunter schon mit 11–12 Jahren in die Ehe, welken daher schnell. Die Zahl der Kinder ist gering. Fast bei allen Indianern wurden Sklaven, meist Kriegsgefangene, gehalten. Das religiöse Gefühl offenbart sich in einer Anzahl von Mythen, deren vornehmste von einem guten Wesen handelt, das als Schöpfer des Weltalls und Stammvater und Lehrer des Volkes gepriesen und oft in Gestalt eines Tieres (Rabe, Hase, Wolf u. a.) dargestellt wird. Bei fast allen Stämmen findet sich auch Sonnenverehrung in irgend einer Form; sehr verbreitet ist die Mythe vom Donnervogel. Außerdem glauben die I. an eine Menge höherer und niederer Geister, die dem Menschen teils wohlwollen, teils feindlich gesinnt sind. Die Beschwörung der bösen Geister wie überhaupt die Ausübung der religiösen Gebräuche liegt in der Hand der Medizinmänner (Schamanen), die als Ärzte, Wahrsager, Regenmacher, Leiter geheimer Gesellschaften und als Bewahrer der Stammesüberlieferungen einen großen Einfluß ausüben. Zu den religiösen Gebräuchen gehören auch die Aufführungen von Tänzen und oft furchtbare Selbstpeinigungen (Aufhängung an Stricken, die durch die durchbohrten Muskeln der Gliedmaßen, der Brust und des Rückens gezogen sind). Das zukünftige Leben wurde als eine Fortsetzung des gegenwärtigen gedacht, daher gab man den Toten ihre Lieblingsgeräte und Speisen mit ins Grab.
Von der frühern Eigentümlichkeit ist inzwischen durch unausgesetzte Berührung mit den Weißen viel verloren gegangen; gegenwärtig ist der größte Teil der I. zum Christentum bekehrt, und nur noch in den abgelegensten Gebieten Nord- und Südamerikas haben sich von der europäischen Kultur unberührte Reste erhalten. Im übrigen ist die Behandlung, welche die I. namentlich in Nordamerika seitens der Weißen erfahren haben, schmählich gewesen. In den Kriegen zwischen den beiden Rassen mußten die I. natürlich unterliegen und wurden schließlich auf abgegrenzte, ihnen gewährleistete Gebiete (die sogen. Reservationen) beschränkt; aber oft genug sind sie aus diesen Besitzungen mit Gewalt wieder vertrieben worden. Die zugunsten der I. vom Kongreß der Vereinigten Staaten gegebenen Gesetze kamen selten zur Geltung, und 1825 wurde unter dem Präsidenten Monroe der Beschluß gefaßt, die im O. des Mississippi wohnenden I. nach dem Westen zu verpflanzen. Doch fügten sich die Seminolen in Florida nicht ohne harten Kampf, und die Tscherokesen in Georgia, die dort blühende Dörfer hatten und Handwerke betrieben, wichen erst 1838 nach langer Mißhandlung. Die Kosten aller von den Vereinigten Staaten gegen die I. geführten Kriege hat man auf 1000 Mill. Doll. geschätzt. In mehr als 40 Indianerkriegen fielen gegen 14,000 Weiße und 30,000 Rothäute. Es ist natürlich, daß die Zahl der I. seit ihrer Berührung mit den Europäern abgenommen hat; manche Stämme sind ganz ausgestorben, andre sehr zusammengeschmolzen. Ein ansehnlicher Teil ist auch durch Vermischungen mit Weißen (vgl. Bois-Brulés) und Negern verloren gegangen. Dagegen hat sich die indianische Bevölkerung Südamerikas kaum vermindert. Die Gesamtzahl aller I. schätzt man auf 9–10 Mill., von denen
gezählt wurden. Der Aufwand der Vereinigten Staaten für die indianische Bevölkerung betrug 1901. 10,905,073 Doll. Zu den 56 Agenturen gehören 34 Mill. Hektar, von denen aber nur 149,222 Hektar kultiviert werden. Das Land liegt in kleinern Parzellen östlich vom Mississippi in New York, Nordcarolina, Michigan und Wisconsin, in großen zusammenhängenden Komplexen in fast allen Staaten des Westens (vgl. Indianerterritorium). Fast überall ist eine Zunahme des bebauten Areals, der Ernteerträge und des Viehstandes bemerkbar, der Zivilisationsprozeß würde aber noch vollständiger und schneller sein, wenn sich nicht unter die bessern Elemente der weißen Bevölkerung sehr viel schlechte, für die I. verderbliche mischten, so daß einige Stämme dem zwar durch strenge Gesetze verbotenen, aber dennoch ein geschmuggelten Branntwein und den ebenfalls eingeführten geschlechtlichen Krankheiten sicher erliegen müssen.
Vgl. Waitz, Anthropologie der Naturvölker, Bd. 3 und 4 (Leipz. 1862 u. 1864); Ratzel, Völkerkunde, Bd. 2 (2. Aufl., das. 1895); Brinton, The American race (New York 1891); ferner für die I. Nordamerikas: Heckewelder, Nachrichten von der Geschichte, den Sitten und Gebräuchen der indianischen Völkerschaften (deutsch, Götting. 1821); Catlin, Illustrations of the manners, customs and conditions of the North American Indians (neue Ausg., Lond. 1876, 2 Bde.; deutsch von Berghaus: »Die I. Nordamerikas«, Brüssel 1848); Drake, Indian tribes of the United States (neue Aufl., Philad. 1884, 2 Bde.); Schoolcraft, History of the Indian tribes (das. 1851–55, 5 Bde.); Bancroft, The native races of the Pacific states of North America (New York 1875, 5 Bde.); Grinnell, North American Indians. of to-day (Bilderwerk, Chicago 1900); Boas, Indianische Sagen von der nordpazifischen Küste Amerikas (Berl. 1895); Phillips, Indian fairy tales (Chicago 1902); Friederici, I. und Angloamerikaner (Braunschw. 1900); die Veröffentlichungen des Bureau of Ethnology in Washington und die Jahresberichte des Commissioner of Indian affairs. Über die Eingebornen Mittel- und Südamerikas vgl. die Reisewerke von d'Orbigny, Martius, Tschudi, Schomburgk u. a., aus neuerer Zeit besonders die von Karl von den Steinen und Ehrenreich (s. diese Artikel).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.