Seele [1]

Seele [1]

Seele (griech. psyche, lat. anima), ursprünglich und noch jetzt im gewöhnlichen Sprachgebrauch das in den Fähigkeiten der Empfindung, der willkürlichen Bewegung und (beim Menschen) der Sprache sich bekundende innere Tätigkeitsprinzip eines lebendigen Wesens. In der Weltanschauung des Naturmenschen gelten, wie die Erscheinungen des Animismus (s. d.) und Fetischismus (s. d.), die Mythen und Sagen der Urzeit beweisen, alle möglichen Dinge der Außenwelt als beseelt; bei nüchtern verstandesmäßiger Betrachtung der Natur beschränkt sich die Anwendung des Begriffes der S. im wesentlichen auf das Tierreich, obwohl es kaum möglich ist, das Reich des Beseelten nach untenhin fest abzugrenzen, so daß einige (z. B. in der Neuzeit Fechner) auch den Pflanzen eine S. zuschreiben zu müssen geglaubt haben, während andere (z. B. Descartes) selbst den Tieren den Besitz einer solchen absprechen. Obwohl ferner das primitive Denken durch die Tatsachen des Schlafes, des Todes etc. veranlaßt wird, die menschliche S. als etwas vom Körper Trennbares zu betrachten, wird sie doch ursprünglich allgemein (sogar noch in der griechischen und jüdischen Religion) für materiell gehalten, z. B. besteht bei Anthropophagen vielfach die Meinung, daß mit dem Körper des Erschlagenen auch seine S. verzehrt werde (vgl. Geist). Aber auch in die Wissenschaft hat die materialistische Auffassung der S. Eingang gefunden. Von den ältern griechischen Philosophen bezeichnete Anaximenes die S. als Luft, Heraklit als Feuer, die Atomistiker als ein Aggregat besonders seiner und glatter Atome, während der moderne Materialismus (s. d.) die seelischen Erscheinungen als Wirkungen körperlicher Organe ansieht. Der spiritualistische Begriff der S. als eines zwar mit dem Körper zeitweilig verbundenen, aber an sich rein immateriellen Wesens wurde, wenn wir von den noch nicht genügend aufgehellten Systemen der indischen Philosophie absehen (insbes. Sankhjasystem), zuerst durch Platon (s. d.) festgestellt. Dieser unterschied drei einander übergeordnete »Teile« der (menschlichen) S.: das Begehren, das im Bauche, das Gemüt, das in der Brust, und die Vernunft, die im Kopf ihren Sitz hat, und legte dadurch den Grund zu der später besonders durch Chr. v. Wolff ausgebildeten Annahme einer Mehrheit von Seelenvermögen (vgl. Psychologie). Aristoteles gestaltete diese Dreiteilung zu der Lehre um, daß es drei verschiedene Arten von Seelen gibt, indem die Pflanzen nur eine ernährende, die Tiere daneben noch eine empfindende, die Menschen zu beiden noch eine denkende S. besitzen, welch letztere allein (als Geist) vom Körper unabhängig ist, während die andern zwei mit ihm entstehen und vergehen. Während das Mittelalter im wesentlichen an der Aristotelischen Lehre festhielt, wurde durch die Naturphilosophie des 14. und 15. Jahrh. der Gedanke von der Abstufung des seelischen Lebens in der Natur in teilweise phantastischer Weise ausgestaltet, indem man dem ganzen Weltall (Giordano Bruno), der Erde (Kepler), ja den anorganischen Elementen (Paracelsus) eine mehr oder weniger vollkommene S., und umgekehrt jeder S. einen mehr oder minder sein organisierten Leib beilegte. Aus dem Bestreben, der Verquickung physischer und psychischer Erklärungsprinzipien entgegenzutreten, ging der Dualismus des Descartes hervor, der für die Weiterentwickelung des Seelenbegriffs in der neuern Philosophie von entscheidender Bedeutung wurde. Nach Descartes sind Leib und S. (überhaupt Körper und Geist) gleich ursprüngliche und selbständige, aber grundverschiedene Wesenheiten, die von Natur keinerlei Gemeinschaft haben können und im Menschen nur zeitweilig durch den Willen des Schöpfers verbunden sind; für den Begriff der S. sind drei Merkmale bestimmend: sie ist Substanz (s. d.), also unvergänglich, sie ist unausgedehnt, einfach und enthält kein Nebeneinander von Teilen, und ist, (im Denken) aus sich selbst tätig. Um den Zusammenhang von Leib und S. zu erklären, nahm Descartes eine beständige, die Wechselwirkung vermittelnde Mitwirkung Gottes an. Leibniz führte jenen Zusammenhang auf die »prästabilierte Harmonie« (s. d.) zurück und lehrte, daß das seelische Leben ganz und gar in sich abgeschlossen sei (daß also auch die sinnlichen Empfindungen durch die S. allein hervorgebracht werden), wozu er freilich eine Vielheit ursprünglicher Triebe in der S. annehmen mußte (daher nennt er die S. ein automaton spirituale); dagegen leitete Herbart (der sonst mit Leibniz vielfach übereinstimmt) die Mannigfaltigkeit und den Wechsel in den Zuständen der von ihm als absolut einfach gedachten S. wieder von (passiven) »Störungen« ab, die sie durch die Elemente des Leibes erfährt. Im Gegensatz zum monadologischen Pluralismus des Leibniz, Herbart u. a. betrachtet der metaphysische Monismus (Spinoza, Schelling, Lotze, E. v. Hartmann) die S. nicht als selbständiges, individuelles Wesen, sondern (wie alle andern endlichen Dinge) als bloße Modifikation des allumfassenden Weltgrundes. Hierbei wird die Wechselwirkung zwischen Leib und S. zwar verständlich (da beide in demselben Dritten, der absoluten Substanz, enthalten sind, wenn nicht überhaupt, wie bei Spinoza und Schelling, Denken und Ausdehnung bloß als verschiedene »Attribute« der Substanz und deshalb Leib und S. als deren im Grund identische Modifikationen aufgefaßt werden), dafür aber bildet jetzt die Frage nach den Gründen der seelischen Individualität eine kaum zu überwindende Schwierigkeit. Im Gegensatz zu allen diesen Ansichten bestreiten die Anhänger des Empirismus und Phänomenalismus (Hume, Mill u. a.), daß dem Begriff der S. überhaupt etwas Reales, bez. etwas andres entspreche, als die in der innern Erfahrung unmittelbar gegebene Mannigfaltigkeit sukzessiver Bewußtseinszustände. In der Tat beweist schon die Vielheit der Ansichten über das Wesen der S., daß der Begriff nicht aus der Erfahrung, sondern aus dem spekulativen Denken stammt, und zwar sind es wesentlich zwei Erwägungen, in denen er wurzelt. Erstens wird von den spekulativen Denkern als selbstverständlich vorausgesetzt, daß unsre innern Erlebnisse (Vorstellungen, Gefühle, Triebe etc.) ebenso auf ein ihnen zugrunde liegendes reales Subjekt zu beziehen seien, wie wir die äußern Erscheinungen auf die Materie als zugrunde liegendes Substrat beziehen; zweitens behaupten sie, daß aus der Einheit des Bewußtseins (bei aller Mannigfaltigkeit seiner Gegenstände oder Inhalte) auf ein einfaches Wesen als Träger der Bewußtseinsvorgänge geschlossen werden müsse. Letztern Schluß hat jedoch schon Kant als einen Paralogismus erwiesen (s. Ich); ferner treffen die Gründe, die bei den äußern Erscheinungen zur Annahme eines sie hervorbringenden beharrlichen Substrates (der Materie, s. d.) führen, bei den seelischen Erscheinungen nicht zu (dort sind in der Wahrnehmung konstante Elemente, hier nur lauter wechselnde Erlebnisse gegeben, dort ist Sein und Wahrgenommenwerden verschieden, hier fällt beides zusammen). Für die Erklärung der Vorgänge des innern Lebens hat sich denn auch der Begriff des Seelenwesens als gänzlich unfruchtbar erwiesen, so daß die heutige Psychologie (s. d.) unter S. im allgemeinen nichts weiter versteht als den Inbegriff der innern Erlebnisse (aktueller Seelenbegriff im Gegensatz zum substanziellen) und es der Metaphysik, bez. der Religion überläßt, die Frage nach der letzten Quelle, bez. dem Träger des seelischen Geschehens zu beantworten. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Leib und S., bez. dem Sitz der S. ist insoweit eine rein empirische, als es sich darum handelt, anzugeben, mit welchen physischen Vorgängen im Organismus (spezieller im Gehirn) psychische unmittelbar verknüpft sind, und fällt in das Gebiet der Psychophysik (s. d.); die metaphysische Frage nach den letzten Gründen dieser Verknüpfung kann wohl nur beantwortet werden, indem man (mit Wundt) annimmt, daß S. und Leib nicht an sich, sondern nur in unsrer Auffassung verschieden sind, je nachdem wir den lebendigen Körper vom Standpunkt unmittelbarer innerer Wahrnehmung oder von dem der äußern Naturbeobachtung aus betrachten. Vgl. außer den Lehrbüchern der Psychologie Notter, Gott und S., Stimmen der Völker und Zeiten (Stuttg. 1885); Bastian, Die S. indischer und hellenischer Philosophie in den Gespenstern moderner Geisterseherei (das. 1886); Flügel, Die Seelenfrage (2. Aufl., Köthen 1890); Jäsche, S. und Geist (Leipz. 1893); Kramář, Die Hypothese der S. (das. 1898, 2 Tle.); Gutberlet, Der Kampf um die S. (2. Aufl., Mainz 1903, 2 Bde.); Funcke, Psychekult und Religion (Freiburg 1903); Kröll, Der Aufbau der menschlichen S. (Leipz. 1900). – Über die Unsterblichkeit der S. s. Unsterblichkeit; über Tierpsychologie s. d.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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