Parlamentsgebäude

Parlamentsgebäude

Parlamentsgebäude (hierzu Tafel »Parlamentsgebäude I u. II«), Gebäude, die den Volks- und Landesvertretungen ganzer Staaten oder einzelner Landesteile zur Ausübung ihrer Obliegenheiten dienen. Als das älteste P. ist, wenn von den Sälen der alten, schon für das 13. Jahrh. beglaubigten französischen Parlamente (Parlements), insbes. von dem durch Philipp den Schönen im Citépalast in Paris eingerichteten Räumlichkeiten abgesehen wird, die 1097 von Wilhelm Rufus erbaute Westminsterhalle in London anzusehen, die, 72 m lang, 20,7 m breit und 27,4 m hoch, jetzt als Durchgangshalle zu dem mit ihr verbundenen englischen P. dient. Nach der Trennung dieses Parlaments in ein Haus der Lords und ein Haus der Gemeinen (im 14. Jahrh.) benutzte das erstere die Halle weiter, um später in einen besondern Bau in der Nähe von Westminster, den »schönen Saal« (Fair room), überzusiedeln. Die Gemeinen tagten damals im Kapitelsaale der Abtei und erhielten später, durch Eduard VI., Mitte des 16. Jahrh. für ihre Tagungen die St. Stephenskapelle angewiesen, die sie bis 1834 innehatten, wo der Bau durch Brand zerstört wurde. – Der ehemalige deutsche Reichstag hatte, nachdem er früher bald hier, bald dort versammelt war, von 1663 bis zu seiner Auflösung 1806 seinen Sitz im Rathause zu Regensburg. Die erste deutsche Nationalversammlung (Parlament) tagte 1848–49 in der Paulskirche zu Frankfurt a. M. Wie die vorerwähnten Baulichkeiten kann auch das Gebäude der Deputiertenkammer in Paris, das man als das erste Volksvertreterhaus anzusprechen pflegt, noch nicht als eigentliches P. angesehen werden. Denn es diente, 1722 begonnen, ursprünglich den Bourbonen als Palast und wurde erst in der Revolutionszeit zur Abhaltung von Sitzungen des Rates der Fünfhundert (durch Gisors und le Comte) umgebaut, 1807 durch Poyet mit der dem Konkordienplatze zugewandten Säulenhalle versehen und 1828–33 nach Plänen von de Joly in seinen jetzigen Zustand (Tafel II, Fig. 5) versetzt. Der Saal ist für viele spätere P. vorbildlich geworden. Als P. für den französischen Senat dient der ursprünglich für Maria von Medici erbaute Luxembourgpalast in Paris, in dem 1836–41 ein neuer Sitzungssaal durch de Gisors eingerichtet wurde. Als erstes eigentliches, d.h. für seinen Zweck erbautes P. darf das Kapitol in Washington gelten. Schon Ende des 18. Jahrh. begonnen, dann ins Stocken geraten, 1814 durch die Engländer zerstört, muß der 1851–67 durch Anderson in der Hauptsache neuerrichtete Bau zwar als ein Werk der Neuzeit angesehen werden, ist aber immerhin das älteste der modernen P. Fast gleichzeitig mit ihm entstand 1837–68 das Londoner P., der Westminsterpalast (Architekt Barry), 1874–83 das Reichsratshaus in Wien (Th. Hansen), 1885 das Parlamentshaus in Budapest (Steindl), 1884–94 das deutsche Reichstagshaus (Wallot), 1892–1904 das neue Abgeordneten- und Herrenhaus in Berlin (Fr. Schulze), um hier nur die bedeutendsten der neuern P. ihrer Entstehungszeit nach anzuführen.

Zu dem Bestand eines Parlamentsgebäudes gehören außer reichlichen Vor- und Treppenräumen eine unter Umständen zur Mitbenutzung bei Festlichkeiten dienende Wandelhalle, Plenarsitzungssäle, Räume für die Mitglieder der Regierung, das Präsidium und den Geschäftsverkehr (Bureau) des Hauses, Erfrischungssäle, Lese- und Schreibsäle, Räume für Post, Telegraphie, Fernsprecher, Ankleidezimmer, Sprechzimmer, eine Bibliothek mit Lesesaal, ein Archiv, Räume für die Presse, Kommissions- und Fraktionssäle, eine Botenmeisterei, Wohnungen für Unterbeamte. Unter Umständen treten Räume für das Staatsoberhaupt und sein Gefolge sowie eine Wohnung für den Präsidenten und Bureauvorstand oder für beide hinzu. Sind zwei Plenarsitzungssäle vorhanden, so verdoppelt sich ein Teil der vorgenannten Räume. Innerhalb der um den oder die Sitzungssäle gruppierten Gesamtanlage bilden die Räume für die Abgeordneten, den Vorstand, die Regierung und den Geschäftsverkehr des Hauses in sich geschlossene Gruppen. Als Hauptraum des Hauses ist der Plenarsitzungssaal von besonderer Bedeutung. Für seine Form sind in erster Linie die auf gute Hörbarkeit und Sehbarkeit und auf zweckmäßige Anordnung der Plätze gerichteten praktischen Erwägungen maßgebend. Der Grundriß ist bald nach dem Vorbilde des antiken Theaters halbkreisförmig (Paris, Wien) oder halbkreisförmig mit rechteckiger Verlängerung (Rom, Budapest), oder er ist rechteckig mit rechteckiger (London) oder radialer (Washington, Berlin Reichstagshaus, Abgeordneten- und Herrenhaus) Anordnung der Sitzreihen. Bei der Halbkreisform befinden sich der Platz für das Präsidium und vor ihm die Rednerbühne, zu seinen Seiten die Regierungstische in der Regel an der geraden, zu dem Zwecke gewöhnlich ausgenischten Saalwand; die Abgeordnetensitze folgen, amphitheatralisch aufsteigend, der Rundung und sind durch radiale Gänge in keilförmige Abschnitte zerlegt. Bei den rechteckigen Grundrissen ist die Anordnung ähnlich; Präsidium etc. befinden sich an der einen Lang- oder Schmalseite des Raumes. Die Tagesbeleuchtung des Saales erfolgt meist durch Oberlicht, doch kommt auch hohes Seitenlicht vor; für die Abendbeleuchtung dient fast überall elektrisches Licht. Sehr schwer zu erfüllen sind die Bedingungen der guten Hörbarkeit. Eine sichere Theorie gibt es dafür nicht. Wichtig ist, daß der Saal nicht zu groß ist. Als günstigste Form gilt, namentlich da, wo es Sitte ist, vom Platze zu sprechen, die Rechtecksgestalt. Die Höhe des Saales und der Tribünen, auch die Tiefe der letztern darf nicht zu groß werden. Gerade Decke und reichliche Gliederung und Profilierung von Decke und Wänden sind erwünscht. Übrigens würde die Akustik in Plenarsitzungssälen weit weniger Anlaß zu Klagen geben, wenn sich die Abgeordneten die Unsitte abgewöhnen würden, während einer Rede ungezwungen im Zwiegespräch zu plaudern. Unterhalb der Rednerbühne befindet sich der Platz für die Stenographen, mit deren Arbeitsräumen im Untergeschoß durch Treppen derart unmittelbar verbunden, daß die Stenographen den Saal nicht zu durchschreiten brauchen. Vor dem Stenographenplatze steht der »Tisch des Hauses«. Unter den für die Abgeordneten und die Regierungsvertreter getrennt zu haltenden Türen befinden sich in einzelnen Parlamentsgebäuden, z. B. in London und in Berlin, zwei gegenüberliegende, die Ja-Tür und die Nein-Tür, für die Abstimmung nach Art des Hammelsprunges. Die Tribünen pflegen in einzelne Abteilungen oder Logen für Publikum und Presse, für Mitglieder der Kammer, der Regierungen und Behörden, für die Diplomatie und den Hof eingeteilt zu sein, die alle mit besondern Vorräumen und Treppen versehen werden. Soll eine Einteilung der P. nach Typen erfolgen, so wird vornehmlich zwischen solchen mit einem Sitzungssaal und solchen mit zwei Sitzungssälen zu unterscheiden sein. P. mit drei Sitzungssälen sind nicht ausgeführt; das Programm für das neue P. in Rom, das außer den beiden Kammersälen noch einen dritten zur Abhaltung von gemeinsamen feierlichen Sitzungen in Anwesenheit des Königs verlangte, ist nicht verwirklicht worden. Das hervorragendste P. mit einer Kammer, also auch mit nur einem Sitzungssaale, ist das deutsche Reichstagshaus (s. Tafel »Reichstagsgebäude I u. II«). Sein Grundplan (s. dort, II, Fig. 3) zeigt den Typus in glänzender Weise entwickelt. An der dem Königsplatz zugewendeten Hauptfront des Hauses befindet sich, über eine Rampe und Freitreppe zugänglich, der Haupt- und Repräsentationseingang des Hauses, der durch einen schmalen Vorraum in die mächtige, dem Plenarsitzungssaale quer vorgelagerte Wandelhalle führt. Der Sitzungssaal nimmt unter vergoldeter Oberlichtkuppel die Mitte des Gebäudes ein. Auf der Ostseite liegt der stattliche Zugang für den Bundesrat, das Präsidium und den königlichen Hof. Die Eingänge in der Nordsüdachse dienen dem Verkehr der Abgeordneten und des Publikums. Das Obergeschoß enthält fast ausschließlich Sitzungssäle für Ausschüsse etc., ein Zwischengeschoß im Innern des Hauses die Zuhörertribünen, das Untergeschoß die Wirtschafts- und sonstigen Nebenräume für die Verwaltung des Hauses, der Keller die ausgedehnten Heizungs- und Lüftungsanlagen. Die Wohnung des Präsidenten ist in einem besondern Gebäude in der Nachbarschaft des Reichstagshauses untergebracht. Auch das neue Abgeordneten- und das Herrenhaus in Berlin (Tafel I, Fig. 1; Grundriß Tafel II, Fig. 1) gehören im architektonischen Sinne zu dieser Gattung, obwohl sie auf ein und demselben Grundstücke liegen und durch einen Gang verbunden sind, in dessen Mitte sich ein besonderes Ministergebäude befindet. Die Lage der Haupträume ist aus der Figur ersichtlich.

Unter den Parlamentshäusern mit zwei Kammern ist zuerst das Kapitol in Washington zu nennen (Tafel I, Fig. 3; Grundriß Tafel II, Fig. 3). Die Zweiteilung ist in der Bauanlage deutlich ausgesprochen. Die Häuser der Repräsentanten und der Staatskammer (Senat) bilden symmetrische Flügelbauten, zwischen denen sich ein von einer hohen Kuppel überragter Mittelbau erhebt, der, jene Flügel verbindend, zu gemeinsamen Zwecken dient und neben großartigen Vorräumen die Kongreßbibliothek, Räume für den obersten Gerichtshof und Bureaus für den Senat enthält. Die Durchbildung der in römisch-korinthischen Stilformen in weißem Marmor errichteten, eine Fläche von etwa 2 Hektar bedeckenden Baugruppe ist von bedeutendster Monumentalität. Ihre Ausführungskosten betrugen rund 21 Mill. Mk. Das Londoner P. ist, seiner Entstehungsgeschichte und seinen gotischen Stilformen entsprechend, ein unregelmäßiger, elf Höfe einschließender Gebäudekomplex. Die Anlage schließt östlich an die Westminsterhalle und deren Kreuzgang an und ist in der Hauptsache auf zwei große Achsen in der Nordsüd- und Westostrichtung komponiert. Im Schnittpunkte dieser Achsen liegt eine Zentralhalle, nördlich von ihr auf der Längsachse der Unterhaussaal, südlich der Saal der Lords und die königlichen Gemächer. Die nach allen Seiten sich verzweigenden Flügel enthalten an langgestreckten Flurgängen die zahlreichen Geschäftsräume (es sind ihrer an 500) des in der Hauptsache zweigeschossigen Gebäudes, dessen Fläche etwa 31/4 Hektar bedeckt, und dessen Kosten sich auf rund 42 Mill. Mk. belaufen haben. Im Gegensatze zu der Londoner Bauanlage stellt das Reichsratshaus in Wien (Tafel I, Fig. 4; Grundriß Tafel II, Fig. 4) einen streng gegliederten baulichen Organismus dar; da das Programm für jede der beiden Kammern nahezu dieselben Anforderungen enthielt, konnten seine beiden Hälften fast genau symmetrisch gestaltet werden. Der streng in hellenischen Formen entworfene Aufbau spricht klar das Wesen des Bauwerkes aus. Dieses bedeckt eine Fläche von 1,5 Hektar und hat 14,5 Mill. Mk. gekostet. Das im Grundriß ⊥-förmige P. in Budapest (Tafel I, Fig. 2; Grundriß Tafel II, Fig. 2) zeigt in seinem Hauptflügel eine ähnliche Aufreihung der Haupträume wie die letztbesprochene Anlage auf ihrer Längsachse. Die Geschäftsräume sind an den beiden Kopfenden des Längsflügels, in dem kurzen Querflügel und um die kuppelgekrönte Mittelhalle herum angeordnet. Das Hauptgeschoß liegt 16 m über Bodengleiche, wodurch der Bau eine bedeutende Höhenentwickelung erhält. Die bebaute Fläche beträgt, wie in Wien, etwa 1,5 Hektar. In einer den jeweiligen Verhältnissen angepaßten Reduktion kehrt dieser Typus in den zahlreichen Parlamentsgebäuden der kleinern Staaten wieder. Ein Beispiel für den Zusammenbau eines Parlamentsgebäudes mit dem Regierungsgebäude des Landes bildet das ebenfalls zwei Kammern enthaltende P. in Sydney, eine stattliche, auf 13 Mill. Mk. veranschlagte Anlage, die unter Einrechnung der allerdings zum Teil sehr großen Höfe eine Fläche von etwa 21/3 Hektar bedeckt.

Die ebenfalls hierher gehörigen Ständehäuser der kleinern deutschen Staaten, wie die in München, Stuttgart, Dresden, Karlsruhe, Darmstadt, sind meist durch Umwandlung älterer, früher andern Zwecken dienender Gebäude entstanden und kommen als eigentliche P. kaum in Betracht. Zu den Parlamentsgebäuden im weitern Sinne gehören auch die Provinzialständehäuser. Diese dienen den in den einzelnen Provinzen bestehenden Ständen oder Landtagen und sind zugleich für Zwecke der Provinzialverwaltung bestimmt. Neben ähnlichen, wenn auch erheblich bescheidenern Einrichtungen wie die P., zu denen auch hier vornehmlich ein Sitzungssaal gehört, nehmen sie die Geschäftsräume der Landesbehörden und unter Umständen, wie z. B. in Preußen, auch die Wohnung des Landesdirektors auf. Der Grundrißtypus schließt sich daher in der Regel dem der größern Verwaltungsgebäude an; er bildet eine Art Mittelding zwischen diesem und dem Grundrisse des Parlamentsgebäudes mit einem Sitzungssaal. Auch letzterer ist in den größern Stände- oder Landeshäusern ganz ähnlich eingerichtet wie die rechteckigen Sitzungssäle in den Parlamentsgebäuden. Das Gesagte gilt z. B. für das Provinzialständehaus in Hannover, das Landesausschußgebäude in Straßburg i. E., das Landhaus in Brünn u.a.m. Etwas abweichende Form des Grundplanes zeigen derartige Gebäude dann, wenn sie, wie z. B. die Landeshäuser von Brandenburg in Berlin und von Westpreußen in Danzig, infolge besonderer Verhältnisse (Festungszwang, hohe Grundstückspreise u. dgl.) zwischen Nachbarhäusern eingebaut werden mußten. Der regelmäßige Typus geht dann verloren, und die Bedürfnisse müssen befriedigt werden, so gut es eben die Verhältnisse erlauben. Vgl. Wagner und Wallot, Parlaments- und Ständehäuser, im »Handbuch der Architektur«, hrsg. von Durm u.a. (Stuttg. 1900); »Th. Hansen und seine Werke« (Wien 1893).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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