Kanzelberedsamkeit

Kanzelberedsamkeit

Kanzelberedsamkeit, die geistliche Redekunst überhaupt, insonderheit die im öffentlichen Gottesdienst geübte (s. Homiletik und Predigt). Gewöhnlich wird die Geschichte der K. in fünf Perioden eingeteilt, deren erste bis auf Chrysostomos und Augustin reicht. In dieser Zeit bestand der Gottesdienst der Christen neben Gesang und Genuß des heiligen Abendmahls noch vorzugsweise im Vorlesen der heiligen Schriften und daran sich knüpfenden Ansprachen. An der Spitze der ersten Predigtschule bei den Griechen steht Origenes, der namentlich die sogen. Homilie (s. d.) kultivierte, während Ephräm der Syrer, Basilius d. Gr., Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa und Johannes Chrysostomos, der bedeutendste Homilit der alten Kirche, bereits die an die gleichzeitige Rhetorik sich anschließende, nach dem Applaus der Zuhörer (krotos) haschende Prunkrede repräsentieren. Aus der abendländischen Kirche, wo man meist mit einfachen Ansprachen (sermones) vorlieb nahm, sind zu nennen: Zeno, Bischof zu Verona, Ambrosius, Bischof zu Mailand, ein geborner Redner, und besonders Augustin, der durch katechetische und dialogische Formen, Antithesen und einen großen Reichtum von rhetorischen Figuren die mangelnde Phantasie ersetzte. Schon in der zweiten Periode, von Chrysostomos und Augustin bis auf Alkuin (400–800), beginnt die K. teils zu entarten, teils zu erlahmen. Unter den griechischen Kanzelrednern aus jener Zeit ragt Cyrillus von Alexandria hervor, unter den Lateinern Leo d. Gr., ein der klassischen Reinheit noch näher stehender Redner, Cäsarius von Arles, der bedeutendste Prediger des 6. Jahrh., Gregor d. Gr., das Musterbild des gesamten Mittelalters, endlich Beda der Ehrwürdige in seinen Homilien über die Perikopen (s. d.). In der dritten Periode, von Alkuin bis auf Luther (800–1520), mußte die Predigt fast ganz der Liturgie das Feld räumen. Soweit sie noch statthaft, bewegt sie sich zumeist in Abhängigkeit von der patristischen Literatur (s. Homiliarius liber). Wie im Morgenlande griechisch, so wurde im Abendlande meist lateinisch gepredigt (sermones ad clerum), aber vielfach auch in den Landessprachen (sermones ad populum). Einen Aufschwung in der K. brachten im frühern Mittelalter besonders Cluniacenser und Cistercienser, wie Bernhard von Clairvaux, im spätern Franziskaner, wie Bruder Bertold von Regensburg, und Dominikaner, wie Johann Tauler und Vincentius Ferrerius, endlich aber auch reformatorische Prediger, wie Johann Hus und Hieronymus Savonarola. Im allgemeinen ist die Naturwüchsigkeit der frühern Jahrhunderte des Mittelalters später durch die Scholastik beeinträchtigt worden, die in formeller Beziehung eine starke Verkünstelung der Predigt mit sich führte, während Gabriel von Barletta, Olivier Maillard, Michael Menot und Geiler von Kaisersberg in ihrem Streben nach Popularität oft mehr an das Burleske streiften. Die vierte Periode reicht von Luther bis auf Spener (1520–1675). Luther selbst wirkte unermeßlich durch die unmittelbare Einheit von Inhalt und Form, durch ungemeine Popularität und prophetische Freimütigkeit, durch Fülle der Ideen und Veranschaulichungsmittel, wiewohl ihm auch manche Härten des Geschmacks nicht abgesprochen werden können. Aber seine Originalität reichte nicht aus, dem in seiner Kirche überwuchernden Hang zur Polemik und zur Scholastik Schranken zu ziehen. Mitten in dem allgemein verbreiteten zelotischen Dogmatismus repräsentieren Johannes Arnd, Valerius Herberger und Chr. Scriver wiederkehrendes Bewußtsein um den eigentlichen Zweck der K. Die katholische Kirche des 17. Jahrh. feierte den Glanzpunkt ihrer K. in den Leistungen der klassischen Literaturperiode Frankreichs (Bourdaloue, Fénelon, Bossuet, Fléchier, Massillon), mit denen, zwar nicht an Geschmack, aber an Originalität, Abraham a Santa Clara in Deutschland wetteifern konnte. Die protestantische Kirche Frankreichs brachte ihren größten Redner in Saurin, die anglikanische Kirche den ihrigen in Tillotson hervor. In der fünften Periode, von Spener bis auf die neueste Zeit, machte sich das Bestreben geltend, die religiösen Bedürfnisse durch eine praktisch belebende Predigtweise zu befriedigen. Ph. Jak. Spener wies mit Erfolg auf die Fehler des damaligen polemischen Predigtwesens hin und vermied dieselben soviel wie möglich in seinen eignen, übrigens schwerfälligen und endlosen Kanzelvorträgen. Im Gegensatz zu der pietistischen Schule wußte eine andre Richtung philosophische Wahrheiten im Geiste der Wolfschen Schule auf der Kanzel zu behandeln. Eine ausgleichende und hervorragende Stellung nimmt gegen Mitte des 18. Jahrh. Lorenz von Mosheim ein (»Heilige Reden«). Eine lange Reihe ausgezeichneter Prediger schließt sich an, unter denen besonders Reinhard in Dresden lange Zeit als maßgebend für die moderne Form der synthetischen Form galt. Gleichzeitig wirkten Zollikofer, Löffler, Rosenmüller, Ammon, Marezoll, Röhr, Tzschirner, Hanstein, Müslin etc. Die moderne Kanzelrhetorik findet ihre Vorbilder in Theremin, Dräseke, Krummacher, Harms; die theologische Kunstpredigt in Schleiermacher, K. J. Nitzsch und Steinmeyer; die erbauliche Bekehrungs- und Erweckungspredigt in Hofacker, Palmer, Ahlfeld, Gerlach, Tholuck, Brückner, Gerok etc.; die Hofpredigt in W. Hoffmann, Kögel, W. Baur und Dryander; die Predigt der freien Theologie in K. Schwarz, D. Schenkel, H. Lang, A. Bitzius; die Predigt der politischen und sozialen Tendenz in Stöcker. Der französische Protestantismus weist auf positiver Seite Redner auf wie Vinet, Pressensé, Monod, Bersier, auf liberaler die beiden Coquerel und Colani; Großbritannien besaß in neuerer Zeit Kanzelredner wie Robertson, Caird, Kingsley und den originellen Baptisten Spurgeon. Die Leistungen der katholischen Kirche liegen namentlich auf dem spezifisch modernen Gebiete der Fasten- und Missionspredigt (Lacordaire, Pater Roh, Rottmanner, Ehrhard u. a.).

Vgl. Lentz, Geschichte der christlichen Homiletik (Braunschw. 1839); Paniel, Pragmatische Geschichte der christlichen Beredsamkeit (Leipz. 1839–41, bis Augustinus); Cruel, Geschichte der deutschen Predigt im Mittelalter (Detmold 1879); Linsenmeyer, Geschichte der Predigt in Deutschland von Karl dem Großen bis zum Ausgang des 14. Jahrhunderts (Münch. 1886); F. R. Albert, Die Geschichte der Predigt in Deutschland bis Luther (1. u. 2. Teil, Gütersloh 1892–93); Marbach, Geschichte der deutschen Predigt vor Luther (Berl. 1874); Schenk, Geschichte der deutsch-protestantischen K. von Luther bis auf die neuesten Zeiten (das. 1841); C. G. Schmidt, Geschichte der Predigt in der evangelischen Kirche Deutschlands von Luther bis Spener (Gotha 1872); Sack, Geschichte der Predigt in der deutsch-evangelischen Kirche von Mosheim bis auf Schleiermacher und Menken (Heidelb. 1866); Stiebritz, Zur Geschichte der Predigt in der evangelischen Kirche von Mosheim bis auf die Gegenwart (Gotha 1875–76); Rothe, Geschichte der Predigt (Bremen 1881); H. Hering, Die Lehre von der Predigt (Berl. 1904).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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