Irrenrecht

Irrenrecht

Irrenrecht, der Inbegriff der das Irrenwesen regelnden Rechtssätze. Das I. gehört in seinen einzelnen Teilen dem Strafrecht, dem Strafprozeß, dem Zivilrecht, dem Zivilprozeß, dem Verwaltungsrecht an. Besondere Irrengesetze besitzen Genf (Gesetz vom 5. Febr. 1838 mit Reglement vom 7. April 1838), Frankreich (Gesetz vom 30. Juni 1838 mit Ordonnanz vom 19. Dez. 1839), Holland (Gesetz vom 29. Mai 1841 und vom 27. April 1884), England (Gesetz vom 4. Aug. 1845 nebst einer Reihe von Gesetzen der Jahre 1889–91), Norwegen (Gesetz vom 17. Aug. 1848 und vom 17. Aug. 1880), Belgien (Gesetz vom 18. Juni 1850 und vom 28. Dez. 1873 nebst Ausführungsbestimmungen vom 1. Juni 1874), Schottland (Gesetz vom 25. Aug. 1857), Schweden (Gesetz vom 5. März 1858 und vom 2. Nov. 1883), New York (Gesetz vom 12. Mai 1874) und andre nordamerikanische Staaten, die Türkei (Gesetz vom 15. März 1876), Neuchâtel (Gesetz vom 23. Mai 1879), Luxemburg (Gesetz vom 7. Juli 1880) und Spanien (Gesetz vom 19. Mai 1885). In Österreich bestehen nur einzelne Verordnungen und Dekrete, in Italien wurde 1885 ein Gesetzentwurf vorgelegt. Deutschland ermangelt bisher eines Irrengesetzes, obwohl die Zuständigkeit zur Erlassung eines solchen sich zweifellos aus Artikel 4, Ziffer 15 der Reichsverfassung ergibt. Einzelne irrenrechtliche Bestimmungen enthalten: das Reichsstrafgesetzbuch, § 51, die Reichsstrafprozeßordnung, § 81 (s. Geisteskrankheiten, S. 502), ferner § 203: Vorläufige Einstellung des Verfahrens kann beschlossen werden, wenn dem weitern Verfahren... der Umstand entgegensteht, daß der Angeschuldigte nach der Tat in Geisteskrankheit verfallen ist. § 250: Ist ein Zeuge, Sachverständiger oder Mitbeschuldigter... in Geisteskrankheit verfallen..., so kann das Protokoll über seine frühere richterliche Vernehmung verlesen werden. §485, Absatz 2: An... geisteskranken Personen darf ein Todesurteil nicht vollstreckt werden. § 487, Absatz 1: Die Vollstreckung einer Freiheittsstrafe ist aufzuschieben, wenn der Verurteilte in Geisteskrankheit verfällt; die Reichszivilprozeßordnung, § 645–679, betreffend das Verfahren bei Entmündigung Geisteskranker (s. Entmündigung). Nach § 6 des Bürgerlichen Gesetzbuches kann entmündigt werden, wer infolge von Geisteskrankheit oder von Geistesschwäche seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag (s. Entmündigung). Die Reichsgewerbeordnung (§ 30, in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Juli 1900) bestimmt: Unternehmer von... Privatirrenanstalten bedürfen einer Konzession der höhern Verwaltungsbehörde; die Konzession ist nur dann zu versagen: a) wenn Tatsachen vorliegen, welche die Unzuverlässigkeit des Unternehmers in Beziehung auf die Leitung oder Verwaltung der Anstalt dartun, b) wenn nach den von dem Unternehmer einzureichenden Beschreibungen und Plänen die baulichen und die sonstigen technischen Einrichtungen der Anstalt den gesundheitspolizeilichen Anforderungen nicht entsprechen; c) wenn die Anstalt nur in einem Teil eines auch von andern Personen bewohnten Gebäudes untergebracht werden soll und durch ihren Betrieb für die Mitbewohner dieses Gebäudes erhebliche Nachteile oder Gefahren hervorrufen kann; d) wenn die Anstalt durch ihre örtliche Lage für die Besitzer oder Bewohner der benachbarten Grundstücke erhebliche Nachteile oder Gefahren hervorrufen kann. Über die Fragen unter c) und d) sind vor Erteilung der Konzession die Ortspolizei- und die Gemeindebehörden zu hören. Endlich bestehen einige internationale Verträge über den Transport hilfloser Geisteskranker. - In Preußen sind die irrenrechtlichen Verhältnisse durch drei ministerielle Verordnungen geregelt. Das Verfahren bei Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche regelt die allgemeine Verfügung des Justizministeriums vom 28. Nov. 1899. Bezüglich der Anlage, des Baues und der Einrichtung der öffentlichen und privaten Irrenanstalten sind in der ministeriellen Verordnung vom 19. Aug. 1895 eingehende Bestimmungen getroffen worden, die insonderheit darauf dringen, daß die allgemeinen sanitären Anforderungen der modernen Gesundheitspflege wie die besondern der Psychiatrie entsprechende Berücksichtigung finden. In Bayern ist nach Artikel 80 des Polizeistrafgesetzbuches strafbar, wer gemeingefährliche Geisteskranke, deren Aussicht ihm obliegt, frei herumgehen läßt; die Polizeibehörde kann gemeingefährliche Geisteskranke auf Grund bezirksärztlichen Gutachtens in einer Irrenanstalt unterbringen oder anderweitig verwahren lassen. Nach Entschließung des Ministeriums des Innern vom 1. Jan. 1895 ist diese Unterbringung in einem motivierten Beschluß nach Anhörung des gesetzlichen Vertreters des Geisteskranken und, soweit veranlaßt und tunlich, des Kranken selbst auszusprechen; das bezirksärztliche Gutachten muß auf Grund persönlicher Untersuchung erstattet und der behandelnde Arzt vernommen werden; erfolgt die Unterbringung im öffentlichen Interesse noch vor der Beschlußfassung, so ist diese tunlichst rasch nachzuholen. Artikel 81 des Polizeistrafgesetzbuches bedroht die Verwahrlosung Blödsinniger mit Strafe; im Urteil kann die Polizeibehörde ermächtigt werden, auf Kosten des Pflichtigen für anderweitige Unterbringung zu sorgen. Wer Geisteskranke mehr als 24 Stunden in seiner Obhut behält, ohne der Behörde oder den Angehörigen Nachricht zu geben, ist nach Artikel 41 des Polizeistrafgesetzbuches strafbar. Die Sorge für öffentliche Irrenanstalten ist als Kreislaft erklärt (Gesetz vom 23. Mai 1846); zu den Aufgaben der Armenpflege gehört insbes., Geisteskranke, die der nötigen Aussicht und Pflege entbehren, in einer Irrenanstalt unterzubringen (Gesetz vom 29. April 1869). Eine Ministerialentschließung vom 30. Dez. 1851 (erneuert 15. Mai 1876) trifft Fürsorge für die nicht in Anstalten untergebrachten und die als geheilt oder gebessert entlassenen Kranken. In Württemberg ist das Statut für die Staatsirrenanstalten sowie Betrieb und Überwachung von Privatirrenanstalten durch Verfügungen des Ministeriums des Innern vom 5. Nov. 1894 geregelt; Einweisung in eine Staatsirrenanstalt kann hiernach gegen den Willen der Angehörigen von der Kreisregierung nur verfügt werden, wenn der Kranke entweder für sich oder andre gefährlich oder für die öffentliche Sittlichkeit anstößig ist, oder wenn er sich in einem Zustande der Pflegebedürftigkeit befindet, der zur Folge hat, daß er außerhalb der Irrenanstalt verwahrlost oder gefährdet wird. Die Einweisung erfolgt zuerst provisorisch auf höchstens sechs Wochen, sodann ergeht auf Grund Gutachtens der Anstaltsdirektion endgültige Entscheidung der Kreisregierung. Auch die Ausnahmebestimmungen für Privatirrenanstalten sind verschärft und denen der Staatsanstalten angepaßt worden. Im Königreich Sachsen regelt die Verhältnisse der öffentlichen Landesirrenanstalten die Verordnung vom 1. März 1902.

Während die Vorstände der öffentlichen Irrenanstalten stets Medizinalpersonen sein müssen, ist es nicht nötig, daß der Unternehmer einer Privatirrenanstalt ein Arzt ist, jedoch wird meist verlangt, daß die ärztliche Leitung einem approbierten und psychiatrisch vorgebildeten Arzt übertragen wird. Während bisher die Privatirrenanstalten bezüglich der Aufnahme und Entlassung von Kranken, bezüglich der Ernährung, des Betriebes, der ärztlichen Leitung und Beaufsichtigung eine recht freie Stellung hatten, wurde sie infolge der Mißstände, die der (bekannte) Marienberger Prozeß zutage gefördert hat, einer strengen Beaufsichtigung unterworfen und ihnen eine Reihe von Auflagen im Interesse der Pflege, Gesundheit und Sicherheit ihrer Patienten gemacht, insonderheit ist die Einführung einer sogen. Besuchskommission, die aus einem höhern Verwaltungsbeamten, dem zuständigen Regierungs- und Medizinalrat und einem Psychiater besteht und unvermutet die Anstalten zu besichtigen hat, zweifelsohne von großem Segen gewesen. Preußen hat die Verhältnisse der Privatirrenanstalten durch eine Ministerialanweisung vom 20. Sept. 1895, Bayern durch Ministerialentschließung vom 3. Dez. 1895, Sachsen durch Verordnung vom 30. Mai 1894, Württemberg durch Verordnung vom 7. Nov. 1894, Baden durch Verordnung vom 5. Okt. 1895 geregelt.

Seit Ende der 1860er Jahre begann in Frankreich eine Agitation gegen das erwähnte Gesetz vom 30. Juni 1838, ausgehend von der Behauptung, die persönliche Freiheit sei durch dasselbe in hohem Grade gefährdet. Der hervorragendste Vertreter dieser Bestrebungen war Gambetta; der von ihm (und Magnin) 1869 veröffentlichte, ausführlich begründete Reformvorschlag gipfelt in der Forderung, daß über die Frage der Internierung von Geisteskranken Geschworne entscheiden und das ganze Verfahren öffentlich sein solle; anderseits hat es dem französischen Irrengesetz auch nicht an warmen Verteidigern gefehlt (Foville, Fusier u. a.). Am 25. Nov. 1882 wurde dem Senat ein Regierungsentwurf vorgelegt, der aber von vielen Seiten lebhaft bekämpft wurde. In Deutschland und Österreich wurde schon seit der Mitte des 19. Jahrh. die Erlassung eines Irrengesetzes befürwortet (Nasse u. a.), und diese Forderung ist trotz wiederholter Bekämpfung (Flemming, Roller u. a.) niemals ganz verstummt. In jüngster Zeit hat sich diese Bewegung, geschürt durch tendenziöse Berichte über einzelne Fälle angeblich widerrechtlicher Einsperrung geistesgesunder Personen (Morris de Jonge, Feldmann, Milewsky, Luise von Koburg), zu einer förmlichen Hetze gegen die Irrenärzte gesteigert. Vor allem sind nachgenannte vier Punkte von jeher Gegenstand der Beschwerde u. der Beunruhigung des Publikums gewesen: 1) angeblich ungerechtfertigte Internierung wegen Geisteskrankheit; 2) Entlassung gemeingefährlicher Geisteskranker aus der Irrenanstalt; 3) Verurteilung geistig Abnormer; 4) Freisprechung wegen geistiger Störung, wenn deren Vorhandensein dem Laien nicht erwiesen scheint. Diese Angriffe sind fast ausnahmslos an die falsche Adresse gerichtet; denn nicht die Psychiater, sondern die veralteten gesetzlichen Bestimmungen sind an dem größten Teil der gerügten Übelstände schuld. Die Psychiater führen diese Klagen hauptsächlich auf folgende Mängel der gesetzlichen Bestimmungen zurück: es fehlt eine den Laien vollkommen beruhigende Kontrolle der Internierungen, es fehlen insbes. klare Vorschriften für die Anstaltsbedürftigkeit, die gerichtsärztliche Kommission kann die Freiheitsbeschränkung eines unschädlichen Irren nicht verhindern. Das Anstaltswesen ist mangelhaft ausgebildet, für einige Arten von Geisteskranken und für die Grenzfälle gibt es keine Versorgungsart und keine gesetzlichen Bestimmungen, die der Gesellschaft Schutz bieten. Insbesondere ist die Gesellschaft vor einzelnen Verbrechern gar nicht geschützt, die wegen geistiger Abnormität oder transitorischer Geistesstörung nicht bestraft oder zu kurzen Freiheitsstrafen verurteilt, nicht dauernd in Irrenanstalten untergebracht werden können, da sie nicht geisteskrank und gemeingefährlich im engern Sinne sind. In Österreich, wo augenblicklich die Reform des Irrenwesens von Psychiatern und Juristen mit großer Energie betrieben wird, werden auf Grund einer vor kurzem stattgefundenen Enquete von seiten der Psychiater nachstehende Wünsche laut: 1) gesetzliche Regelung der Anzeigepflicht; 2) Schaffung gesetzlicher Bestimmungen, die a) rechtzeitigen Rechtsschutz gewähren, b) das Verfügungsrecht nur insoweit einschränken, als es nötig ist, c) die gesetzliche Terminologie mit den Fortschritten der Psychiatrie in Einklang bringen, d) die sofortige provisorische Verbeistandung jedes angezeigten Geisteskranken und die definitive Verbeistandung bei vorhandener geistiger Gebrechlichkeit sowie bei Geisteskrankheit ermöglicht, falls sie ausreichenden Rechtsschutz gewährt, e) die definitive Entmündigung bei dauernder, die Handlungsfähigkeit aufhebender Geisteskrankheit gestatten, wo die persönlichen und die Vermögensverhältnisse sie verlangen; 3) Prüfung der Anstaltsbedürftigkeit durch Gerichtsärzte; 4) Schutzmaßregeln gegen ungerechtfertigte Internierung, und zwar a) die Aufnahme in eine Anstalt kann im allgemeinen nur unter Intervention der Behörde stattfinden, die durch einen Amtsarzt die Anstaltsbedürftigkeit feststellen läßt; b) nur die in gemeinschaftlichem Haushalt mit dem Kranken lebenden nahen Verwandten sollen in dringenden Fällen das Recht haben, den Kranken auf Grund eines einfachen ärztlichen Zeugnisses der Anstalt zuzuführen; c) die Anstaltsleitung soll das Recht haben, in dringenden Fällen, wenn die Geistesstörung offensichtlich ist, die Aufnahme ohne ärztliches Zeugnis durchzuführen; d) von der erfolgten Aufnahme ist sofort durch die Anstaltsleitung Mitteilung an das Gericht und die Verwaltungsbehörde zu machen; 5) die Entlassung des Geheilten hat entweder selbständig von seiten der Anstaltsleitung oder nach gerichtsärztlicher Feststellung der Heilung zu erfolgen. Nicht mehr anstaltsbedürftige Kranke können selbständig von der Direktion entlassen werden, wenn die entsprechende Pflege gesichert ist, sie müssen entlassen werden, wenn eine entsprechende gerichtliche Entscheidung vorliegt und die Angehörigen in der Lage sind, die Pflege zu übernehmen. Ungeheilte Geisteskranke können nur gegen Revers entlassen werden, wobei zu untersuchen ist, ob der Übernehmer in der Lage ist, die Reversbedingungen, die von der Anstaltsleitung aufgestellt werden, zu erfüllen; 6) Schaffung einer Aufsichtsbehörde über alle Geisteskranken, die sich zusammensetzen soll aus einer Reichszentralstelle u. Gemeinde-, bez. Bezirkskomitees, den Irrenkomitees; 7) Anstalten für Irre sollen tunlichst durch die einzelnen Provinzen, Anstalten für Idioten, Epileptiker und Trinker durch die einzelnen Länder, Anstalten für geisteskranke Verbrecher aber einzig durch den Staat erbaut werden. Es ist beachtenswert, daß auch diese Vereinigung österreichischer Psychiater und Juristen sich ganz entschieden für die Dringlichkeit einer gründlichen, zeitgemäßen Reform des Irrenrechts und insonderheit der Behandlung der kriminellen Geisteskranken ausgesprochen hat. Vgl. Reuß, Der Rechtsschutz der Geisteskranken (Leipz. 1887); Foville, De la législation spéciale aux aliénés (»Annales d'hygiène publique et de médecine légale«, Bd. 33, S. 129); Fusier, De la capacité juridique des aliénés (Chambery 1886); Schmitz, Die Privatirrenanstalt vom medizinal- und sanitätspolizeilichen Standpunkt (Wien 1887); Ascher, Zur staatlichen Beaufsichtigung der Irrenanstalten (Berl. 1893); Engelmann, Zur Reform des Irrenrechts (Münch. 1894); Unger, Die Irrengesetzgebung in Preußen (Berl. 1898); Kraepelin, Die psychiatrischen Aufgaben des Staats (Jena 1900); Hoche, Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie (Berl. 1901); »Juristisch-psychiatrische Grenzfragen. Zwanglose Abhandlungen« (Halle 1902 ff.); »Österreichische Richterzeitung« 1904, S. 245 ff.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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