- Cicĕro [2]
Cicĕro, 1) Marcus Tullius, der berühmte Staatsmann und Redner, geb. 3. Jan. 106 v. Chr. in Arpinum als Sohn eines Ritters, gest. 7. Dez. 43 auf dem Landgut bei Formiä, widmete sich, in Rom vorgebildet, rhetorischen und philosophischen Studien und trat zuerst in Zivilprozessen als Redner auf; von seinen erhaltenen Reden ist die älteste die für P. Quinctus (81). Seinen Ruf begründete die (80) in einem Kriminalprozeß gehaltene Verteidigungsrede für S. Roscius von Ameria, worin er einem Günstling Sullas entgegentrat. Zur Stärkung seiner Gesundheit und zur Förderung seiner philosophischen und rednerischen Ausbildung trat er 79 eine zweijährige Reise nach Griechenland und Asien an. 77 nach Rom zurückgekehrt, verwaltete er 75 die Quästur in Lilybäum auf Sizilien und gewann dann in Rom durch sein Rednertalent immer größern Ruf. Als erster Redner galt er seit dem Prozeß gegen den frühern Prätor in Sizilien, C. Verres (70). 69 bekleidete er die kurulische Ädilität; 66 unterstützte er als Prätor in der Rede für das Manilische Gesetz, seiner ersten Staatsrede, die Übertragung des Oberbefehls im Mithradatischen Krieg an Pompejus. Als Konsul erwarb er sich 63 durch Entdeckung und Unterdrückung der Catilinarischen Verschwörung ein großes Verdienst, das ihm den Ehrennamen »Vater des Vaterlandes« eintrug. Als er aber nach Errichtung des ersten Triumvirats (60) in Überschätzung seiner Bedeutung als Vertreter des Senats und der Nobilität die ehrgeizigen Pläne des Pompejus, Cäsar und Crassus zu bekämpfen unternahm, wurde er auf deren Anstiften durch P. Clodius, seinen persönlichen Feind, wegen der Hinrichtung der Genossen Catilinas um einer Anklage bedroht und ging 58 in die Verbannung. Schon im nächsten Jahr aufs ehrenvollste zurückberufen, sah er durch die Macht der Triumvirn seine politische Tätigkeit völlig gelähmt. Um so eifriger wirkte er als Gerichtsredner; auch begann er in dieser Zeit schriftstellerisch tätig zu sein. 53 wurde er zum Augur ernannt, und 51–50 verwaltete er als Prokonsul die Provinz Kilikien mit großem Eifer und damals unerhörter Uneigennützigkeit. Nach Ausbruch des Bürgerkriegs (Anfang 49) entschied er sich nach anfänglichem Schwanken für Pompejus und folgte ihm nach Griechenland, trat aber nach der Schlacht bei Pharsalos von dessen Partei zurück und erwirkte sich von Cäsar Verzeihung und die Erlaubnis, nach Rom zurückzukehren. Die Zeit bis zur Ermordung Cäsars (15. März 44) brachte er wieder in ähnlicher, durch häusliches Unglück nur noch viel gedrückterer Lage und Stimmung zu als vor dem Bürgerkrieg, obgleich Cäsar ihm Achtung und Gunst bewies; den einzigen Trost fand er in angestrengter schriftstellerischer Tätigkeit, der wir aus dieser Zeit die meisten seiner Werke verdanken. Nach Cäsars Ermordung, an der er selbst keinen Anteil hatte, war er für die Versöhnung der Parteien tätig und führte eine allgemeine Amnestie herbei; als er aber sah, daß Antonius statt Cäsars sich der Herrschaft in Rom bemächtigte, begann er mit der ersten, 2. Sept. 44 gehaltenen Philippischen Rede den Kampf gegen Antonius, der ihn noch einmal an die Spitze des Staates erhob. Nach Antonius' Niederlage bei Mutina schien die Herrschaft des Senats wiederhergestellt, als Oktavian, mit dessen Hilfe der Sieg gewonnen war, mit Antonius und Lepidus das zweite Triumvirat schloß. Eins der ersten Opfer der von diesen verhängten Proskriptionen war C. Im Begriff, sich durch die Flucht zu retten, wurde er auf seinem Landgut bei Formiä von den nach ihm ausgesandten Mördern ereilt und getötet. Seinen Kopf und seine rechte Hand stellte Antonius auf der Rednerbühne in Rom aus. C. war nicht ohne Schwächen, namentlich gingen ihm Charakterfestigkeit und Entschlossenheit ab, in so sturmbewegten Zeiten für einen Staatsmann unerläßliche Erfordernisse. Auch tritt in seinem Tun und Reden maßlose Eitelkeit und Selbstüberschätzung hervor. Anderseits bilden sein auf das Ideale gerichteter Sinn, seine Vaterlandsliebe, sein warmes Herz für Freunde und Angehörige, seine Gutherzigkeit und Sittenreinheit, seine rastlose Tätigkeit und seine rednerischen Leistungen, die den Höhepunkt der römischen Beredsamkeit bezeichnen, Lichtseiten in seinem Bilde, die seine Tadler, namentlich Drumaun (»Geschichte der Stadt Rom«, Bd. 5 u. 6) und Mommsen (»Römische Geschichte«, Bd. 3), nicht genügend gewürdigt haben. Über seine Familienverhältnisse ist zu bemerken, daß er von seiner Gemahlin Terentia, von der er sich nach 33jähriger Ehe (46) trennte, zwei Kinder hatte, eine Tochter, Tullia, die in dritter unglücklicher Ehe 45 zum größten Schmerz des Vaters starb, und einen Sohn (s. Cicero 3). Antike Büsten von C. gibt es mehrere; die vortrefflichste ist die im Apsley House zu London (früher in der Villa Mattei zu Rom).
Ciceros schriftstellerische Tätigkeit war außerordentlich vielseitig; die Zahl der auf uns gekommenen Schriften ist, obwohl nicht wenige verloren gegangen sind, sehr bedeutend. l) Reden. Die Zahl der erhaltenen Reden ist 57; außerdem besitzen wir von ungefähr 20 Bruchstücke, von 35 kennen wir die Titel. Von den erhaltenen verdienen teils wegen ihres Gegenstandes, teils wegen ihrer Vortrefflichkeit Hervorhebung: »Pro Roscio Amerino« (80), die 7 »In Verrem« (70), »De imperio Cn. Pompei« (66), die 4 »In Catilinam« (63), »Pro Murena« (63), »Pro Archia poeta« (62), »Pro Sestio« (56), »Pro Plancio« (54), »Pro Milone« (52) und die 14 »Orationes Philippicae« (41 und 43). Sie zeichnen sich durch lebendigen Fluß der Darstellung, kunstvollen Bau der Perioden, (freilich oft zu rhetorische) Fülle des Ausdrucks, öfters auch durch geistvollen, wenngleich nicht immer zu rechter Zeit und in rechter Weise angebrachten Witz aus; den Demosthenischen freilich stehen sie an Einfachheit, Kraft und Gesinnungstüchtigkeit weit nach. Sie wurden oft herausgegeben, so von Klotz (Leipz. 1835–39, 3 Bde.), in Auswahl fürden Schulgebrauch von Halm-Laubmann (Berl.), Richter-Eberhard (Leipz.), Müller (das. 1889, 2 Bde.), Nohl (das.), Heine (Halle 1895) u. a. 2) Rhetorische Schriften, über die Theorie der Beredsamkeit, wobei C. namentlich seine eigne Stellung als Redner darlegt und begründet. Die bedeutendsten sind: »De oratore«, in 3 Büchern, verfaßt 55 (hrsg. von Ellendt, Königsb. 1840; Piderit-Harnecker, 6. Aufl., Leipz. 1890; Bake, Amsterd. 1863; Sorof, 2. Aufl., Berl. 1882; Wilkins, 2. Aufl., Lond. 1892; Stangl, Leipz. 1893); »Brutus de claris oratoribus«, verfaßt 46, eine für uns sehr wertvolle Geschichte der römischen Beredsamkeit (hrsg. von Ellendt, Königsb. 1844; Jahn-Eberhard, 4. Aufl., Berl. 1877; Piderit-Friedrich, 3. Aufl., Leipz. 1889); »Orator«, verfaßt 46, über das Ideal eines Redners (hrsg. von Jahn-Eberhard, 4. Aufl., Berl. 1877; Piderit-Friedrich, 3. Aufl., Leipz. 1889; Stangl, das. 1886). 3) Briefe, 864, in vier Sammlungen, eine unerschöpfliche und unschätzbare Quelle für die Zeitgeschichte. Die vier Sammlungen sind: 16 Bücher vermischter Briefe, gewöhnlich »Ad familiares« betitelt, von 62–43 (kritische Hauptausgabe von Mendelssohn, Leipz. 1893ff.); »Ad Atticum«, 16 Bücher, von 68–44 (Ausg. von Boot, 2. Aufl., Amsterd. 1886, 2 Bde.); »Ad Quintum fratrem«, 3 Bücher, von 60–54, und von dem Briefwechsel mit M. Brutus 23 Briefe aus der Zeit nach Cäsars Tode. Gesamtausgaben der Briefe von Wesenberg (Leipz. 1872–73, 2 Bde.), Tyrrell und Purser (Dublin 1899, 6 Bde.); in Auswahl von Hoffmann, (1. Bd., 7. Aufl. von Sternkopf, Berl. 1898; 2. Bd., 3. Aufl. von Andresen 1895); Süpfle-Böckel (9. Aufl., Karlsr. 1893), Bardt (Leipz. 1898); übersetzt von Wieland (Zürich 1808–21, 7 Bde.; neue Ausg., Leipz. 1840–41, 12 Bde.). Vgl. Peter, Der Brief in der römischen Literatur (Leipz. 1901). 4) Philosophische Schriften in dialogischer Form, inhaltlich zwar ohne selbständigen Wert, weil überwiegend aus griechischen Quellen geschöpft (vgl. Hirzel, Untersuchungen zu Ciceros philosophischen Schriften, Leipz. 1876–83, 3 Bde.), aber doch höchst verdienstlich, weil C. damit seinen Landsleuten die griechische Philosophie in römischer Sprache erst zugänglich gemacht und für philosophische Begriffe und Entwickelungen die lateinische Terminologie geschaffen hat: »De re publica«, 6 Bücher, verfaßt 54, nur teilweise erhalten (Ausg. von Mai, Rom 1822 u. 1846; Osann, Götting. 1847); »De legibus«, um 52 verfaßt, 3 Bücher, aber unvollendet (Ausg. von Vahlen, 2. Aufl., Berl. 1883; Du Mesnil, Leipz. 1880); »Paradoxa Stoicorum«, von 46 (hrsg. von Moser, Götting. 1816; Schneider, Leipz. 1891); ferner aus dem Jahr 45: »De finibus bonorum et malorum«, 5 Bücher (Ausg. von Madvig, 3. Aufl., Kopenh. 1876; Holstein, Leipz. 1873; deutsch von J. H. v. Kirchmann, das. 1874), und »Academica« (davon erhalten das 2. Buch einer ersten und das 1. einer zweiten Bearbeitung; Ausg. von Reid, 2. Aufl., Lond. 1885); aus dem Jahr 41: »Tusculanae disputationes«, 5 Bücher (Ausg. von Kühner, 5. Aufl., Hannov. 1874; Tischer-Sorof, 8. Aufl., Berl. 1884; Seyffert, Leipz. 1864; Heine, 4. Aufl., Leipz. 1896); »De natura deorum«, 3 Bücher (Ausg. von Schömann, 4. Aufl., Berl. 1876; Goethe, Leipz. 1887; Mayor, Cambridge 1885, 3 Bde.); »Cato maior de senectute« (Ausg. von Sommerbrodt, 12. Aufl., Berl. 1896; Meißner, 4. Aufl., Leipz. 1898); »De divinatione«, 2 Bücher (hrsg. von Giese, das. 1829); »Laelius de amicitia« (Ausg. von Seyffert, 2. Aufl., das. 1876; Nauck, 10. Aufl., Berl. 1902; Meißner, 2. Aufl., Leipz. 1898); »De officiis«, 3 Bücher (Ausg. von Zumpt, Braunschw. 1838; Heine, 6. Aufl., Berl. 1885; Schiche, 2. Aufl., Leipz. 1896; übersetzt von Kühner, Stuttg. 1859, u. a.). Verloren ist sein vielgerühmter Dialog »Hortensius«, eine Empfehlung der Philosophie (vgl. Plasberg, Berl. 1892). Auch als Dichter hat sich C. versucht, in seiner Jugendzeit zur Übung (von seiner Übersetzung des Aratos sind noch bedeutende Bruchstücke vorhanden; hrsg. in Baehrens' »Poetae latini minores«, Bd. 1, Leipz. 1879), später vornehmlich aus Eitelkeit, freilich ohne viel Glück.
Neuere Ausgaben sämtlicher Werke: Garatoni (unvollständig, Neap. 1777–88); Orelli (Zürich 1826–30, 4 Bde.; 5. Bd. 1833, enthaltend die Scholiasten; 6.–8. Bd. 1836–38, das »Onomasticon Tullianum«; 2. Aufl. von Orelli, Baiter und Halm das. 1845–62, 4 Bde., die kritische Hauptausgabe); Baiter und Kayser (das. 1862–69, 11 Bde.); Müller (das. 1878–98, 11 Bde.). Lexika zu Ciceros Werken: von Nizolius (»Thesaurus Ciceronianus«, Basel 1559 u. ö., zuletzt Lond. 1820); Merguet (zu den Reden, Jena 1884, 4 Bde.; zu den philosophischen Schriften, das. 1887ff.). Neuere Übersetzungen in der Metzlerschen Sammlung römischer Prosaiker (von Osiander u. a.) und der Langenscheidtschen Übersetzungsbibliothek römischer Klassiker (von Kühner, Mezger, Binder u. a.). Vgl. Gerlach, M. Tullius C. (Basel 1864); Teuffel, Studien und Charakteristiken (2. Aufl., Leipz. 1889); Aly, C., sein Leben und seine Schriften (Berl. 1891); Zielinski, C. im Wandel der Jahrhunderte (Leipz. 1897); Schneidewin, Die antike Humanität (Berl. 1897); G. Boissier, Cicéron et ses amis (12. Aufl., Par. 1902; deutsch von Döhler, Leipz. 1870); Lebreton, Étude sur la langue et la grammaire de Cicéron (Par. 1901); Cucheval, Cicéron orateur (das. 1901, 2 Bde.).
2) Quintus, jüngerer Bruder des vorigen, geb. 102 v. Chr., brachte es bis zur Prätur 62 und war Legat Cäsars in Gallien 54–52, seines Bruders in Kilikien 51. Im Bürgerkrieg Anhänger des Pompejus, wurde er von Cäsar begnadigt, 43 wie sein Bruder von den Triumvirn proskribiert und getötet. Er war auch literarisch tätig. Wir besitzen von ihm vier Briefe und eine kleine, freilich hinsichtlich ihrer Echtheit angezweifelte Schrift: »De petitione consulatus« (hrsg. von Bücheler, Leipz. 1869).
3) M. Tullius, Sohn von C. 1), der letzte seines Geschlechts, geb. 65 v. Chr. (Todesjahr unbekannt). Von seinem Vater sorgfältig erzogen, nahm er an dem Bürgerkrieg als Reiteranführer des Pompejus teil, begab sich, von Cäsar begnadigt, im I. 45 zur Fortsetzung seiner Studien nach Athen und folgte von da dem Heere des M. Brutus; nach dessen Besiegung floh er zu Sextus Pompejus und kehrte erst 39 nach dem Vertrag von Misenum in die Hauptstadt zurück, wo er sich auf die Seite des Oktavian stellte; 30 wurde er zum Konsul ernannt.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.