Tier [1]

Tier [1]

Tier (Animal, Zoon), ein meist frei und willkürlich bewegliches, mit Empfindung begabtes Wesen, das organischer Nahrung bedarf, Sauerstoff einatmet und Kohlensäure nebst stickstoffhaltigen Zersetzungsprodukten ausscheidet. Während zwischen leblosen und belebten Körpern (Organismen) eine scharfe Grenze leicht zu ziehen ist, während ferner höhere Tiere und Pflanzen als solche sofort erkannt werden, zeigen die einfachsten Organismen beider Reiche Eigenschaften, die eine sichere Entscheidung über die Zugehörigkeit unmöglich machen und daher auch wohl zur Ausstellung eines Zwischenreiches der Protisten geführt haben. Diese bestehen aus nur einer Zelle, wie man überhaupt die Tiere in einzellige (Protozoen) und vielzellige (Metazoen) einteilt. Jedes für sich eine abgeschlossene Einheit darstellende T. bezeichnet man als Individuum, hat aber deren von verschiedener Ordnung. So sind bei manchen niedern Tieren, z. B. den Korallen, eine Anzahl von Einzeltieren (Personen genannt) zu einem sogen. Stock (Kolonie) vereinigt, ähnlich wie an einem Baume die Zweige. Ein solcher Tierstock ist ein Individuum höherer Ordnung. Bei jeder »Person« unterscheidet man als niedere Individuen die Organe, d. h. Körperteile, die zwar bis zu einem gewissen Grade selbständig sind, aber bestimmte Leistungen für den Gesamtorganismus zu verrichten haben. Die Organe finden sich einfach oder mehrfach vor und zeigen im letztern Fall eine bestimmte Anordnung, je nachdem das T. strahlig, zweiseitig oder gegliedert ist. Im Körper der höhern Tiere liegen nämlich die mehrfach vorhandenen Organe in der Regel so, daß man nur durch einen Längsschnitt, der in der Medianebene geführt ist, zwei einander gleiche Hälften, die rechte und linke, gewinnen kann, während jeder andre Längsschnitt ungleiche Teile ergibt. Ein solches zweiseitiges (bilateralsymmetrisches) T. besitzt also zwei gleiche (genauer: spiegelbildlich gleiche) Teile (Gegenstücke, Antimeren); ein strahlig gebautes, wie die meisten Quallen, läßt sich dagegen durch ein oder mehrere Schnittebenen in zwei oder mehr völlig gleiche (kongruente) Teile zerlegen (Nebenstücke, Parameren), von denen jedes wieder in zwei Antimeren zerfällt. In der Regel haben die strahligen Tiere mehr als zwei Parameren (z. B. die Quallen vier, die Stachelhäuter meist fünf; s. Radiär). Ist ein T. gegliedert (segmentiert), so wiederholen sich die Organe in der queren, d. h. der auf die Längsachse senkrechten Richtung derart, daß man durch bestimmte Querschnitte eine Anzahl völlig oder annähernd gleicher Stücke (Folgestücke, Metameren) erhält. So besteht z. B. ein Regenwurm sowohl aus zwei Antimeren als aus vielen unter sich gleichen (homonomen) Metameren, ein Insekt ebenfalls aus zwei Antimeren, aber nur wenigen, noch dazu ungleichen (heteronomen) Metameren; letztere sind entweder auch äußerlich als Segmente (Ringe, Glieder) erkennbar, oder treten nur im innern Bau infolge des Vorhandenseins trennender Scheidewände (Dissepimente) oder mit der Wiederholung bestimmter Organe hervor. Man unterscheidet dann meist, aber durchaus nicht immer, einen aus verschmolzenen Segmenten bestehenden Kopf, eine Brust (Thorax, deutlich gegliedert bei Insekten, äußerlich nicht gegliedert bei Wirbeltieren) und einen Hinterleib (Abdomen; bei den Spinnen z. B. während des Eilebens noch deutlich gegliedert, später scheinbar einfach), faßt jedoch die genannten drei Teile als Stamm im Gegensatz zu den Gliedmaßen (s. unten) zusammen. Die Ausdrücke V auch und Rücken (oder ventral und dorsal, unten und oben) sowie vorn (oral) und hinten (aboral) werden bei den Tieren nach der Lage des Mundes bestimmt, indem man diesen als am Vorderende der Bauchseite gelegen annimmt, was allerdings nicht immer zutrifft. In medizinischen (anatomischen etc.) Werken nennt man den Mund des Menschen vorn, den Scheitel oben gelegen.

Die Organe wie die Gewebe des tierischen (wie des pflanzlichen) Körpers bestehen aus Zellen, die als morphologische und physiologische Einheiten aufgefaßt werden können. Jedes T., auch das größte und komplizierteste, geht aus einer Zelle, dem Ei, hervor, wenn es nicht wie die Protozoen überhaupt nur aus einer solchen besteht; das Ei teilt sich im Laufe der Entwickelung in eine Anzahl Zellen, die eine Zeitlang noch gleichartig sein können, bald jedoch ungleich werden (sich differenzieren) und in der verschiedensten Weise zu Geweben zusammentreten (vgl. Zelle, Gewebe, Keimblätter), aus denen wiederum die Organe sich gestalten. Einigermaßen führen die Zellen noch ein selbständiges Leben, sind jedoch, je höher ein T. steht, um so abhängiger von ihren Nachbarn; für den Gesamtorganismus haben sie, obwohl in andrer Weise als die Organe, gewisse Leistungen (Funktionen) zu verrichten. Man vergleicht daher wohl das T. mit einem Staate, in dem die Zellen den einzelnen Individuen entsprechen und bestimmte Gruppen von Individuen (Gewebe, Organe) ganz bestimmte Funktionen ausüben. Die einzelnen Organe und ihre Funktionen beim T. lassen sich zu zwei Hauptgruppen vereinigen: sogen. pflanzliche (d. h. auch den Pflanzen zukommende oder vegetative) und tierische (animale); erstere beziehen sich auf Ernährung und Erhaltung des Körpers sowie auf Fortpflanzung, letztere auf Empfindung und Bewegung.

Bei manchen niedern Tieren (Cölenteraten) besteht der ganze Körper nur aus zwei Zellschichten, einer äußern, der Hautschicht (Ektoderm), und einer innern, der Darmwand (Entoderm). Letztere umschließt die Darmhöhle (Magenhöhle), die zur Aufnahme und Verdauung der Nahrung dient und durch nur eine Öffnung, den Mund, mit der Außenwelt in Verbindung zu stehen braucht. Auch bei vielen höhern Tieren hat während der Entwickelung im Ei der ganze Embryo vorübergehend nur diese einfache Form (sogen. Gastrula). Zwischen den beiden genannten Schichten bildet sich jedoch bei weitaus den meisten Tieren eine dritte Schicht, das Zwischengewebe (Mesoderm), aus und liefert sowohl die verschiedenen Formen des Skeletts (Bindegewebe, Knorpel, Knochen) als auch die Muskeln u. a. m.; gewöhnlich tritt der äußere Teil dieser Schicht als sogen. Hautfaserschicht (parietales, somatisches Blatt) in nähere Beziehung zur Haut, während der innere als sogen. Darmfaserschicht (viscerales, splanchnisches Blatt) sich dem Darm eng anlegt. Dazwischen befindet sich dann ein andrer Hohlraum, die Leibeshöhle, die mit der Darmhöhle nichts zu tun hat.

Die vegetativen Organe besorgen zunächst im weitesten Sinne die Ernährung: die durch den Mund aufgenommenen Nahrungsstoffe werden verdaut, und die hierbei gebildeten löslichen Stoffe liefern eine ernährende, die Darmwand durchdringende Flüssigkeit, die in mehr oder minder bestimmten Bahnen zu sämtlichen Organen gelangt und an letztere Bestandteile abgibt, aber auch von ihnen die unbrauchbar gewordenen Zersetzungsstoffe aufnimmt und bis zu ihrer Unschädlichmachung (s. unten) weiterführt. Die ungelöste Nahrung wird durch den Mund oder gewöhnlich durch eine andre Öffnung im Darme, den After, ausgestoßen. In der Regel zerfällt dann die Verdauungshöhle, auch Darmkanal genannt, in drei Abschnitte: Vorder- oder Munddarm (Speiseröhre). Mittel- oder Magendarm (Magen) und Hinter- oder Afterdarm (Darm im engern Sinne). Von diesen Abschnitten gehört aber nur der mittlere zum Entoderm, während Vorder- und Hinterdarm gewöhnlich Einstülpungen der Hautschicht sind. Bei einigen niedern Tieren, speziell den acölen Strudelwürmern, hat der Magen keine selbständige Wandung, vielmehr wird die Nahrung aus der Speiseröhre in das weiche Körperinnere gedrückt und dort verdaut; bei den höhern Tieren gestaltet sich dagegen der Verdauungsapparat sehr kompliziert, indem Kauorgane (Kiefer mit Zähnen oder ein besonderer Abschnitt der Speiseröhre, der Kaumagen) sowie Drüsen zur Absonderung verdauender Säfte (Speicheldrüsen, Leber) zur Ausbildung kommen. Je nachdem die Nahrung rein pflanzlicher oder rein tierischer oder gemischter Natur ist, unterscheidet man Herbivoren (Phytophagen), Karnivoren (Zoophagen) und Omnivoren (Pantophagen). Die von der Darmwand aus den Speisen aufgenommene Nährflüssigkeit tritt durch sie hindurch in die Leibeshöhle oder in besondere, von ihr abgetrennte Räume zwischen Geweben und Organen, wo sie zur Lymph- und Blutflüssigkeit wird und mit zelligen Elementen, den Lymph- und Blutkörperchen, erfüllt, in eignen Bahnen des Lymph- und Blutgefäßsystems im Körper zirkuliert. Auf einer höhern Stufe umkleiden sich Abschnitte der Blutbahn mit einer besondern Muskelwandung und unterhalten als pulsierende Herzen eine regelmäßige Strömung des Blutes. Von dem Herzen, als dem Zentralorgan des Blutkreislaufes, aus entwickeln sich dann Röhren mit eignen Wandungen zu Blutgefäßen, die bei den Wirbellosen meist noch mit wandungslosen Lücken wechseln, bei den Wirbeltieren aber als abgeschlossenes Gefäßsystem die Leibesräume durchsetzen. In diesem System unterscheidet man vom Herzen abführende Arterien und zum Herzen zurückführende Venen, zu denen noch Chylus- und Lymphgefäße hinzutreten. Die Atmung, die im wesentlichen in der Aufnahme von Sauerstoff und der Abgabe von Kohlensäure durch das Blut besteht, besorgt im einfachsten Falle die gesamte äußere Haut, jedoch können auch innere Flächen, besonders diejenige des Darmkanals, bei diesem Gasaustausch beteiligt sein. Meist aber gibt es (als Teile der Haut- oder der Darmschicht) besondere Atmungsorgane: bei der Wasseratmung äußere, möglichst flächenhaft entwickelte Anhänge (Kiemen), bei der Luftatmung Lungen- oder Luftröhren (Tracheen). Die Intensität der Atmung steht in geradem Verhältnis zu der des Stoffwechsels. Tiere mit geringer Sauerstoffaufnahme (Kiemenatmung) nämlich verbrennen nur geringe Mengen organischer Substanz, setzen nur ein kleines Quantum von Spannkräften in lebendige Kraft um und produzieren wenig Wärme, so daß ihr Körper etwa so warm ist wie seine Umgebung (Kaltblüter). Da die Temperatur der Umgebung wechselt, so tut es auch die der »Kaltblüter«, weshalb sie auch als wechselwarme (poikilotherme) Tiere bezeichnet werden. Dies gilt auch für kleine lustatmende Tiere mit großer, wärmeausstrahlender Oberfläche, z. B. die Insekten. Die höhern Tiere dagegen mit energischem Stoffwechsel produzieren viel Wärme, sind durch ihre Körperbedeckung vor rascher Ausstrahlung derselben geschützt und erhalten sich einen Teil der eignen Wärme unabhängig von der Temperatur der Umgebung (Warmblüter oder besser eigenwarme, homöotherme Tiere). Abgesehen von der durch die Respirationsorgane abgegebenen Kohlensäure werden andre im Körper überflüssige oder ihm schädliche Stoffe durch die sogen. Exkretionsorgane abgeschieden, von denen die Nieren die wichtigsten sind. – Die Fortpflanzung (Reproduktion) ist im Tierreich äußerst verschieden, und so sind auch die damit betrauten Organe mannigfaltig. Bei der niedrigsten Art, nämlich der Teilung, zerfällt der Organismus in zwei oder mehr gleiche Teile, daran schließt sich die Knospung, bei der ein verhältnismäßig kleines Stück des alten Tieres durch Wachstum ihm wieder gleich wird; in beiden Fällen führen die Jungen entweder ein selbständiges Leben oder bleiben mit dem Stammtier in Zusammenhang, wodurch es dann zur Stockbildung kommt. Stock, Tierstock, Kolonie, auch Cormus, nennt man eine durch ungeschlechtliche Vermehrung, besonders Knospung entstandene Vielheit miteinander verbundener tierischer Individuen. Die häufigere Form der Fortpflanzung ist die auch bei den Protozoen schon auftretende geschlechtliche Fortpflanzung durch Eier (mit oder ohne Befruchtung durch Samen). Die Organe zur Ausbildung der Eier und Spermatozoen, zu ihrer Entfernung aus dem elterlichen Körper etc. sind meist sehr kompliziert, und nicht minder ist es die Entwickelung des Eies bis zum fertigen Tiere (Einzelheiten s. bei Fortpflanzung und Entwickelungsgeschichte). Je nachdem die Tiere Eier ablegen oder lebendige Junge zur Welt bringen, unterscheidet man ovipare und vivipare Tiere; ovovivipare Tiere legen Eier ab, aus denen aber alsbald nach der Ablage die schon fertig ausgebildeten Jungen hervorkriechen.

Unter den animalen Verrichtungen fällt am meisten die Ortsbewegung in die Augen. Manche Protozoen gelangen ohne besondere Organe, lediglich durch Zusammenziehung und Ausdehnung ihres ganzen Körpers, von der Stelle, andre sind mit Wimpern, d. h. seinen, hin und her schlagenden Härchen, besetzt und bedienen sich nur dieser als Bewegungsorgane. Wo bei den eigentlichen Tieren Muskeln, d. h. kontraktile Gewebsteile, vorhanden sind, liegen diese im einfachsten Falle dicht unter der Haut und bilden mit ihr einen sogen. Hautmuskelschlauch, dessen abwechselnde Verkürzung und Verlängerung den Körper weiterschiebt. Wenn ferner vom Körper ungegliederte oder gegliederte Anhänge (Gliedmaßen) ausgehen, so verlangen diese besondere Muskeln, die sich entweder an die Haut oder an ein inneres, dem Mesoderm angehöriges und mehr oder minder starres Skelett ansetzen. Der ursprünglich rings geschlossene Hautmuskelschlauch bildet sich alsdann so weit zurück, daß er für die Bewegung kaum noch in Betracht kommt. Die Gliedmaßen selber sind manchmal ungegliederte, meist aber gegliederte, d. h. in bewegliche Abschnitte zerfallende Anhänge des Kopfes oder Rumpfes. Je nach Bau und Tätigkeit werden sie als Fühler (Antennen), Kiefer (Kauwerkzeuge), Geh- und Schwimmbeine sowie als Flügel bezeichnet und sind in den einzelnen Tiergruppen sehr verschieden gebaut. Es kann zwar an jedem Segment eines gegliederten Tieres ein Paar Gliedmaßen vorhanden sein, doch ist das bei weitem nicht immer der Fall. Als die Organe der Empfindung sind Nervensystem und Sinneswerkzeuge anzusehen. Ersteres ist entweder strahlig oder zweiseitig gebaut, geht aus der Hautschicht hervor, liegt jedoch meist zum größten Teil tiefer im Innern des Körpers an möglichst geschützter Stelle und besteht aus einem oder mehreren Zentralorganen (Ganglien, Nervenknoten) nebst den davon ausstrahlenden Nerven. Gewöhnlich unterscheidet man ein aus mehreren Ganglien verschmolzenes sogen. Gehirn (wegen seiner Lage vorn, dicht über dem Schlund auch Oberschlundganglion genannt) und eine sich daran knüpfende Ganglienkette, die je nach ihrem Verlauf als Bauch- oder als Rückenmark bezeichnet wird. Die Eindrücke von der Außenwelt werden von den Sinneswerkzeugen (Auge, Ohr etc.) aufgenommen und mittels der (sensibeln) Nerven den Zentralorganen zugeführt; andre, die motorischen Nerven stehen mit den Muskeln in Verbindung und bewirken deren Zusammenziehung.

Die entwickelungsgeschichtlichen Arbeiten der neuern Zeit haben die Lehre Cuviers, nach der es im Tierreiche mehrere streng voneinander geschiedene Hauptzweige oder Typen gebe (gewissermaßen allgemeine Baupläne, nach denen die zugehörigen Tiere modelliert zu sein scheinen), nur zum Teil bestätigt. Denn während Cuvier vier Typen (Wirbeltiere, Weichtiere, Gliedertiere, Radiärtiere) annahm, ist deren Zahl jetzt auf acht oder noch mehr erhöht worden (s. Tierreich), und man hat auch Übergänge zwischen einzelnen gefunden. Überhaupt ist man auf Grund der darwinistischen Prinzipien über die Inkonstanz der Art und ihre allmähliche Abänderung zu der Ansicht gekommen, daß die sämtlichen Typen oder, wie sie jetzt richtiger heißen, Tierstämme gemeinsamen Ursprungs sind.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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