Romanische Verskunst

Romanische Verskunst

Romanische Verskunst. Die Versbildung beruht in den romanischen Sprachen nach manchen nur auf regelmäßiger Silbenzählung, nach andern auf dem Wechsel von Senkung und Hebung. von der letzten Hebung rückwärtsgehend. Als Schmuck tritt am Schlusse (seltener im Innern) des Verses der Reim oder die Assonanz hinzu. Auch ist der Akzent am Schlusse des Verses (oder Versgliedes) fester geregelt, während die übrigen Silben eine freiere Betonung zulassen. Die Frage nach dem Ursprung dieser Versbildung ist nicht mit Sicherheit zu beantworten. Die ältesten Verse romanischer Bildung finden sich in Soldatenliedern, die Sueton aufbewahrt hat (»Gallias Caesar subegit, Nicomedes Caesarem« etc.). Vgl. E. Stengel, Romanische Verslehre (in Gröbers »Grundriß der Romanischen Philologie«, Bd. 2).

Im italienischen Verse besteht der Reim gewöhnlich aus einer festen Tonsilbe nebst einer unbetonten. Ein solcher Vers heißt verso piano (ebener, weiblicher Vers). Endet der Vers auf betonten Vokal, nennt man ihn verso tronco (verstümmelter, männlicher Vers). Folgen der festen Tonsilbe mehr als eine tonlose, heißt er verso sdrucciolo (gleitender Vers). Es finden sich auch drei, ja selbst vier und fünf tonlose Silben nach der betonten (verso bisdrucciolo, trisdrucciolo, quadrisdrucciolo). Den verso tronco und den verso sdrucciolo verwendet man in der Regel nur, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen, letztern namentlich in komischen und burlesken Dichtungen. Der Vers bekommt seinen Namen nach der Silbenzahl des verso piano, ein Elfsilber (Endecasillabo) z. B. hat also, wenn tronco, nur zehn Silben, wenn sdrucciolo, mindestens zwölf. Die gebräuchlichsten Verse in der italienischen Dichtkunst sind der Endecasillabo, der Settenario (Siebensilber) und der Quinario (Fünfsilber), doch kommen Verse von zwei Silben an vor (Bisillabo). Für die Silbenzählung im Verse gelten kurz folgende Regeln. Von den Vokalen der geschriebenen Sprache zählen als Silbe nur die, welche in der Aussprache eignen Silbenwert haben. Auslautende Vokalverbindungen werden im Versinnern vielfach als einsilbig gerechnet, fast immer, wenn der erste Vokal i ist, am Ende dagegen als zweisilbig (z. B. mio). Inlautende Vokalverbindungen sind einsilbig, wenn das Etymon, aus welchem sie entstanden, nur einen Vokal oder betonten Diphthong zeigt (z. B. pianta, nuovo, laude), meist zweisilbig, wenn zwei einzeln gesprochene Vokale oder ein unbetonter Diphthong vorhanden waren (z. B. crëato, söave, laüdabil); Einsilbigkeit tritt hier namentlich oft ein, wenn der erste Vokal i ist oder wenn der erste Vokal den Ton trägt (z. B. grazioso und grazïoso, laido). Anlautende Vokalverbindungen sind bei Betonung des ersten Vokals meist einsilbig, bei Betonung auf der zweiten Silbe oder Tonlosigkeit zweisilbig (z. B. aura, aëreo. aürora). Stoßen zwei Wörter zusammen, von denen das erste mit Vokal endet, das zweite damit beginnt, so tritt meistens eine Verschleifung der beiden Silben zu einer ein, wobei jedoch jeder Vokal einzeln gesprochen wird; sie tritt auch dann ein, wenn zwischen den beiden Vokalen noch ein nur aus einem Vokale bestehendes Wort steht (z. B. Le riveei colli di fioretti adorna). Ist jedoch der erste Vokal oder sind beide betont, zieht man den Hiatus vor (z. B. Venendo qui [è] affannata tanto). Die Verteilung der Tonsilben ist im Innern des Verses im ganzen frei. Im Endecasillabo muß die vierte oder sechste Silbe und noch eine weitere betont sein. Dadurch, daß man die Tonsilben regelmäßig verteilt, kann man einen akzentuierenden iambischen, trochäischen, daktylischen oder anapästischen Rhythmus erzeugen. Das Versende braucht nicht mit einer Sinnespause zusammenzufallen. Zum Schmuck des Verses verwendet der Italiener gelegentlich die Allitteration, namentlich seit Petrarca; mit besonderer Vorliebe und Geschmack verwendet sie Tasso. Die Verse werden durch den Reim, in älterer Zeit auch Binnenreim, zu einem Ganzen verknüpft. Assonanz findet sich nur in der ältesten volkstümlichen Literatur und in Volksliedern. Seit dem 16. Jahrh. kommt der reimlose Vers (verso sciolto, libero, bianco) in Nachahmung der lateinischen Dichtungen auf und findet seitdem im Drama, in erzählenden Gedichten, Lehrgedichten, im Idyll und in der Satire Verwendung. Die wichtigsten metrischen Formen der Italiener sind Kanzone, Sestine, Terzine, Oktave, Sonett, Ballata (Ballade), Madrigal, Strambotto (Rispetto), Stornello, Serventese (vgl. die einzelnen Artikel). Vgl. Blanc, Grammatik der italienischen Sprache, S. 678–796 (Halle 1844); Guarnerio, Manuale di versificazione italiana (Mail. 1893); Casini, Sulle forme metriche italiane (2. Aufl., Flor. 1890); Murari, Ritmica e metrica razionale italiana (Mail. 1891); Chiarini, I critici italiani e la metrica delle Odi barbare (Bologna 1878); Carducci, La poesia barbara nei secoli XV e XVI (das. 1881); Solerti, Manuale di metrica classica italiana ad accento ritmico (Turin 1886); da Camino, La metrica comparata latina-italiana e le Odi barbare di G. Carducci etc. (das. 1891).

Bei den Franzosen wird die Silbenzahl des Verses berechnet ohne Einrechnung der weiblichen Schlußsilbe. Der beliebteste Vers ist der Alexandriner (s. d.); er hat eine Zäsur hinter der sechsten Silbe. Auch der neun-, zehn- und elfsilbige Vers haben Zäsuren und nehmen, je nach der Stellung dieser Zäsur, einen andern Charakter an. Die dumpfen e werden im Vers nicht anders als in der Prosa gesprochen; doch wird die einem verstummten e vorhergehende Silbe zuweilen dort ein wenig gedehnt. Das von Malherbe eingeführte Hiatusverbot gilt noch heute, obwohl seitdem viele auslautenden Konsonanten verstummt sind, der Hiatus also für das Ohr tatsächlich zugelassen und nur für das Auge verboten ist. Das dumpfe e im Auslaut muß vor vokalischem Anlaut stets elidiert werden. Das Enjambement war in der klassischen Poesie nur gestattet, wenn bis zum Schluß des folgenden Verses keine Redepause stand. Die Dichter der Plejade und die Neuern seit der romantischen Schule sehen von dieser Beschränkung ab. Man unterscheidet den weiblichen Reim, wo die vorletzte, und den männlichen, wo die letzte Silbe betont ist. Außerdem nach der Anordnung die rimes plates oder suivies (aa bb), die rimes croisées (abab), und nennt alles andre rimes mêlées, unter denen die rimes embrassées (ab ba) zuweilen unterschieden werden. Ein Reim ist zwar schon vorhanden, wenn die betonten Vokale und die ihnen folgenden Laute übereinstimmen; doch ist es Vorschrift, daß bei häufigen Endungen, und besonders wenn auf den betonten Vokal kein konsonantischer Laut folgt, auch der ihm vorhergehende Konsonant (die consonne d'appui) übereinstimmen muß (dira; opéra, aperçu: issu). Ein solcher Reim wird reich genannt (rime riche). Die alternance, d.h. regelmäßige Abwechselung männlicher und weiblicher Reime, ist zuerst 1500 von Octavien de Saint-Gelais durchgeführt, dann von Marot (in den Psalmen) u.a. nachgeahmt, jedoch erst von Ronsard zum Gesetz erhoben worden. Unter vers libres versteht man eine beliebige Mischung verschiedenartiger Verse mit freier Anordnung der Reime, wie in Lafontaines Fabeln und Racines Chören; unter vers blancs reimlose Verse, die aber im Französischen nur selten Anwendung gefunden haben. Die Strophe wird als distique, tercet, quatrain, quintil, sixain, huitain, dixain unterschieden, je nachdem sie aus 2, 3, 4, 5, 6, 8 oder 10 Versen besteht. Die wichtigsten Gedichtarten der Franzosen waren im Mittelalter Chanson, Serventois, Rotrouenge, Romanze, Ballade, Chantroyal, Lai, Virelai, Rondeau und Triolet, Bergerette, Motett, Fatrasie; im 16. Jahrh. kam neu hinzu Villanelle, Terzine, Sonnet, Madrigal, Ode, Epos, im 17. das Bout-rimé, im 18. die Iambes, im 19. Jahrh. die Sestine, das Pantun. Das Noël oder Weihnachtslied gehört zur Gattung des Volksliedes. Auch antike Versmaße sind im 15. und 16. Jahrh. nachgeahmt worden in den sogen. vers mesurés, teils mit, teils ohne Reime; doch hat sich dabei nur herausgestellt, daß die französische Sprache hierfür ungeeignet ist. Vgl. Tobler, Vom französischen Versbau alter und neuer Zeit (3. Aufl., Leipz. 1894); Quicherat, Traité de versification française (2. Aufl., Par. 1850); Becq de Fouquières, Traité général de versification française (das. 1879); Lubarsch, Abriß der französischen Verslehre (Berl. 1879); Th. de Banville, Petit traité de poésie française (Par. 1891); Robert de Souza, Le rythme poétique (das. 1892); Bibesco, La question du vers français et la tentative des poètes décadents (3. Aufl., das. 1895); K. E. Müller, Über akzentuierend-metrische Verse in der französischen Sprache (Bonn 1882); Saran, Der Rhythmus des französischen Verses (Halle 1904); Kastner, A history of French versification (Oxford 1903); Bouchaud, La poétique française (Par. 1906).

Die Versbildung der Provenzalen ist von der der Franzosen nicht wesentlich verschieden. Sehr selten wird von ihnen der Alexandriner verwendet, der offenbar französischen Ursprungs ist. Der Hiatus ist nicht verpönt, die alternance erst in moderner Zeit nach französischem Vorbild eingeführt worden. Der Reim ist streng mit seltenen Ausnahmen. Die Assonanz, die im Französischen bis 1100 ausschließlich, im Volksepos und Volkslied noch länger herrscht, fehlt den Provenzalen so gut wie ganz. Sehr ausgebildet ist bei ihnen die Reimkunst. Die Troubadoure wiederholen oft die Reime der ersten Strophe durch alle folgenden (coblas unissonans) oder binden gern je zwei Strophen (coblas doblas). Ost bleibt ein Vers reimlos und findet erst in der folgenden Strophe seine Entsprechung. Die Mannigfaltigkeit der Strophenformen war sehr groß, da es bei den Troubadouren Vorschrift war, daß jede neue Kanzone auch eine neue Strophe und neue Melodie aufweisen mußte. Der Refrain besteht bei den Troubadouren meist in einem einzigen Reimwort, das durch alle Strophen an gleicher Stelle wiederkehrt, während die mehr volksmäßige Art der Franzosen den Refrain gewöhnlich aus einem oder mehreren Versen bestehen läßt. Einige Dichter, besonders Arnaut Daniel, haben auf seltene, möglichst gesuchte Reime großen Wert gelegt. Vgl. die provenzalische Verslehre der Leys d'amors, mit französischer Übersetzung herausgegeben von Gatien-Arnoult in den »Monuments de la littérature romane«, Bd. 1 (Toulouse 1841); Diez, Die Poesie der Troubadours (2. Aufl. von Bartsch, Leipz. 1883); Bartsch, Die Reimkunst der Troubadours (im »Jahrbuch für romanische und englische Literatur«, Bd. 1, Berl. 1859).

Bei den Spaniern und Portugiesen hat man zwischen einheimischen und aus der Fremde entlehnten Maßen und Formen zu unterscheiden. In den letztern kommt ausschließlich das Prinzip der Silbenzählung, mit einer oder zwei festen Tonsilben, zur Geltung; in den erstern hingegen, wie in der eigenartigen peninsularen Musik, ein stark rhythmisches Element. Die in Frankreich (und Italien) entstandenen Maße haben steigenden Rhythmus; die echt spanischen hingegen haben, dem Charakter der Sprachen entsprechend, fallenden und meist trochäischen, des öftern aber auch anapästischen Tonfall. Die trochäischen Zeilen haben entweder 5 oder zweimal 5, 7 oder zweimal 7, 9 und 11 Silben, werden jedoch auch mit »gebrochenen« Halbversen (Quebrados), von 3 Silben an, untermischt und bilden den Grundstoff zu den vielfältigen Dichtungsformen der Lyrik. Die weitaus häufigsten sind darunter die siebensilbigen Kurzzeilen, daneben die fünfsilbigen. Beide heißen Redondilla, die längern r. mayor (oder versos de arte real), die kürzern r. menor. Der Siebensilber ist der Vers der volkstümlichen Vierzeiler (coplas) und aller daraus hervorgegangenen Strophenformen sowie der episch-lyrischen Romanze und des Dramas. Der fünfsilbige, dessen Alter nicht geringer ist, kommt auch in Vierzeilern, Kunstliedern (letrillas), höfischen Liebes- und Scherzromanzen vor. Durch Zusammenfügung von zweien entstand gleichfalls ein Langvers: der verso de arte mayor, mit scharfem Einschnitt im Reihenschluß. Von den Versen mit iambischem Tonfall wurde besonders der Achtsilber, mehr aber noch der Decasyllabo in den portugiesisch-gallicischen Meisterliedern und Refrainliedern verwertet. Das alte Cidepos bewegt sich hingegen in assonierenden Tiraden höchst unregelmäßiger Langzeilen von 10–16 Silben, die wahrscheinlich aus je zwei Siebensilbern (dem alten Romanzenvers) entstellt sind. Der Alexandriner blieb stets ein Fremdling. In der zweiten Epoche bricht sich das nationale Versmaß gewaltsam Bahn. Aus Siebensilbern und dem Quebrado baut man die verschiedenartigsten Strophen von 4 bis zu 16 Zeilen (unter denen die Quintilhas und Decimas die beliebtesten sind) und kultiviert mit Glück die Volten- und Glossendichtung, Vilancetes, Cantigas, Glosas. Gegen Ende des 14. Jahrh. bringen Nachahmer Dantes den iambischen Fünfsilber zu Ansehen, doch wird er vom zweiteiligen verso de arte mayor beeinflußt und bleibt ein häßliches Zwitterding. Erst in der dritten Periode wird er in reiner italischer Schönheit, mit fester Tonstelle auf der vierten Silbe, durch Boscan und Garcilaso in Spanien, durch Sá de Miranda in Portugal eingeführt und gelangt hier nach wenig erbittertem, dort nach heißem Kampfe zur Herrschaft in den klassischen Gebilden des Sonetts, der Terzine, Oktave, Sextine und, mit dem entsprechenden Quebrado von 6 (resp. 7) Silben gemischt, als Kanzone und Ode. Nach italienischer Manier betrachtet man von da an den weiblichen Vers als den normalen und nennt ihn daher Endecasyllabo, sonst auch verso heroico, da er der Vers des klassischen Epos ward. Klassische Versmaße hat man im 16. Jahrh. nachzubilden versucht, mit Erfolg nur die Saficos e adonicos (von Villegas eingeführt). Was den Reim betrifft, so überwiegt im Kunstlied nach altfranzösischem Geschmack der männliche, im Volkslied und in den italianisierenden der weibliche. Doch ist im spanischen Volkslied, besonders in der Romanze, die Assonanz die heimische Reimart. Streng geregelten Wechsel zwischen weiblichem und männlichem Versschluß (graves-agudos) hat man nie durchgeführt. Vgl. Rengifo, Arte poetica española (Salamanca 1592 u. ö.); Benot, Prosodia castellana i versificacion (Madr., o. J., 3 Bde.).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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