- Taine
Taine (spr. tǟn'), Hippolyte, angesehener franz. Historiker, Philosoph und Kritiker, geb. 21. April 1828 in Vouziers (Ardennen), gest. 5. März 1893 in Paris, erhielt seine Bildung im Collège Bourbon und in der Normalschule in Paris, studierte hierauf Philologie, um sich dem Lehrfach zu widmen, entsagte aber diesem Plan, um sich ganz seinen wissenschaftlichen Forschungen hingeben zu können. Zwei seiner ersten Schriften, der von der Akademie gekrönte »Essai sur Tite-Live« (1854, 7. Aufl. 1904) und »Les philosophes classiques français du XIX. siècle« (1856, 9. Aufl. 1905), erregten bereits durch die Unabhängigkeit der darin ausgesprochenen Ansichten großes Aufsehen; noch mehr war dies der Fall mit seiner »Histoire de la littérature anglaise« (1864; 12. Aufl. 1905–06, 5 Bde.; deutsch, Leipz. 1877–78; engl. Übersetzung 1871 ff.; zuletzt 1906, 4 Bde.), die von seiten der orthodoxen Partei einen wahren Sturm gegen den Verfasser erregte, weil man darin materialistische Grundsätze wahrzunehmen glaubte. Durch Vermittelung des Kaisers erhielt T. dennoch 1864 eine Professur der Kunstgeschichte an der Ecole des beaux-arts; 1878 wurde er an Loménies Stelle zum Mitglied der Akademie erwählt. Von seinen sonstigen, übrigens von Paradoxen nicht immer freizusprechenden Schriften sind hervorzuheben: »La Fontaine et ses fables« (1853, 18. Aufl. 1907); »Voyage aux Pyrénées« (1855, 17. Aufl. 1907); »Essais de critique et d'histoire« (1857, 6. Aufl. 1905; deutsch, Münch. 1898) und »Nouveaux essais« (1865, 8. Aufl. 1905), dazu »Derniers essays«, aus dem Nachlaß (1894, 3. Aufl. 1902); »Notes sur Paris, ou Vie et opinions de Fréd. Thomas Graindorge«, satirische Sittenbilder (1867, 16. Aufl. 1907); »Le positivisme anglais«, Studien über Stuart Mill (1864); »Voyage en Italie« (1866, 13. Aufl. 1907, 2 Bde.; deutsch von Hardt, Jena 1904); »De l'intelligence« (1870; 11. Aufl. 1906, 2 Bde.), sein philosophisches Hauptwerk, das durch den streng durchgeführten Vergleich des Denkprozesses mit einem chemischen Prozeß Aufsehen und Widerspruch erregte, und »Notes sur l'Angleterre« (1872, 13. Aufl. 1907; deutsch von Hardt, Jena 1906). Seine Vorlesungen über Kunstgeschichte erschienen seit 1865 in mehreren Bänden, darauf gesammelt als »Philosophie de l'art« (12. Aufl. 1906, 2 Bde.; deutsch von Hardt, Leipz. 1902 u. ö.). Der Krieg von 1870 verwandelte den Philosophen in einen Historiker. Er beschloß, in patriotischem Interesse den Gründen der Niederlage Frankreichs nachzuspüren, indem er seine Forschungen mit der bourbonischen Monarchie begann. So entstand nach und nach sein großes, unvollendet gebliebenes Geschichtswerk »Les origines de la France contemporaine«, Bd. 1: »L'ancien régime« (1875), Bd. 2–4: »La Révolution« (1878 bis 1884), Bd. 5 u. 6: »Le régime moderne« (1890, der 6. Band nach dem Tode Taines 1894 von Sorel herausgegeben; 25. u. 26. Aufl. in 11 Bänden, 1907; Index général. 1901). Eine deutsche Bearbeitung besorgte Katscher (2. Aufl., Leipz. 1893–94, 3 Bde.; 3. Aufl. 1904 ff.). Taines Geschichtsdarstellung ist streng dokumentarisch. Er belegt jeden Satz mit Beweisen, aber die Auswahl der Dokumente ist nicht unparteiisch, sondern geschieht zum bestimmten Zweck, den der Verfasser im Auge hat. T. gelangt zum Schlusse, daß die von der Mißwirtschaft des ancien régime und dem Sturme der Revolution vorbereitete, straff zentralisierte Napoleonische Regierungsart die individuelle Energie in Frankreich getötet habe und an der Niederlage schuld sei. Seine »Origines« erregten daher den Unwillen aller politischen Parteien, am meisten aber den der Bonapartisten, denn T. stellt Napoleon in allen seinen Handlungen als direkten Erben der alten italienischen Bandenführer hin. Vgl. »H. T. Sa vie et sa correspondance« (hrsg. von seiner Witwe, Par. 1902–07, 4 Bde.); Gabr. Monod, Renan, T., Michelet (das. 1894); A. de Margerie, Hippolyte T. (2. Aufl. 1894); Barzellotti, Ippolito T. (Rom 1895); Giraud, Essai sur T. (3. Aufl., Par. 1902); Lefèvre, Hippolyte T. (das. 1904); Zeitler, Die Kunstphilosophie von Hippolyte T. (Leipz. 1901); J. Schlaf, Kritik der Taineschen Kunsttheorie (Wien 1906).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.