- Liszt
Liszt, 1) Franz, Klavierspieler und Komponist, geb. 22. Okt. 1811 in Raiding bei Ödenburg in Ungarn, gest. 31. Juli 1886 während der Festspiele in Bayreuth, wo er auch begraben liegt. Er zeigte bereits als Knabe so ungewöhnliche Begabung, daß der Vater seine Stellung als fürstlich Esterházyscher Güterverwalter aufgab und es wagte, mit einer magern Unterstützung von 600 Gulden seitens einiger Magnaten, auf die Ausbildung des Sohnes die Zukunft der Familie zu gründen und nach Wien übersiedelte, wo Czerny und Salieri den Unterricht übernahmen. Nach erfolgreichem Auftreten 1822 und 1823 in Wien reiste der Vater mit dem Sohne nach Paris, um dessen Aufnahme im Konservatorium zu erlangen, die aber als statutenwidrig dem Ausländer abgeschlagen wurde. Dennoch blieben sie in Paris, wo der Knabe schnell in den Salons eine glänzende Aufnahme fand und unter Paer und Reicha weitere Kompositionsstudien machte. Ein 1825 in der Großen Oper ausgeführtes Singspiel »Don Sancho« blieb Liszts einziger Opernversuch. Nur wenige Kompositionen Liszts aus dieser frühen Zeit sind erhalten (Klaviersachen, darunter zwölf Etüden in einem an Hummel gemahnenden Stil). Wiederholte Konzertreisen nach London und in französische Provinzialstädte dienten der Aufbringung der Existenzmittel. 1827 starb Liszts Vater, und die in Wien gebliebene Mutter zog nach Paris zu ihrem Sohne, der nun anfing, Unterricht zu erteilen. Ein Hang zu religiösem Mystizismus brachte in dieser Zeit L. in Beziehung zu den Saint-Simonisten und drohte, ihn ganz der Kunst zu entfremden. Erst das Auftreten Paganinis und Chopins in Paris (1831) gab ihm Anstoß, seiner Virtuosität ganz neue Seiten abzugewinnen, und bezüglich der Komposition führte ihn das Beispiel des 1832 aus Italien heimkehrenden Berlioz, mit dem er sich innig befreundete, in neue Bahnen. So trat er denn seit 1834 als ein gänzlich andrer wieder in die Öffentlichkeit, und wenn noch etwas fehlte, seine Individualität zur Reise zu bringen, so brachten das seine Beziehungen zu der Gräfin d'Agoult (s. d.), die ihren Gatten verließ und 1835–39 mit L. in der Schweiz und Italien lebte. Doch hatte schon in dieser Zeit (1836) L. Wettkämpfe mit Thalberg, die seine Superiorität über alle Rivalen feststellten. Die ausgedehnten Konzertreisen der Jahre 1839–47 konnten diese nur mehr bestätigen. Die Reisen fanden ihren Abschluß durch Liszts Anstellung als Hofkapellmeister in außerordentlichem Dienst in Weimar und seine Beziehungen zu der Fürstin Karoline von Sayn-Wittgenstein, die von ihrem Schlosse Waronince in Südrußland mit L. entfloh und ihren Wohnsitz in Weimar aufschlug. Den Einflüssen dieser Frau ist es zuzuschreiben, daß L. um 1847 dem Konzertspiel gänzlich entsagte und sich fortan der Komposition widmete. Weimar wurde nun zur Hochburg fortschrittlicher Bestrebungen auf musikalischem Gebiete, da L. entschlossen für Richard Wagner eintrat und auch die Ideale Berlioz' zu den seinen machte. Umgeben von einer Schar hochbegabter Kunstjünger, wirkte er hier bis 1861 bahnbrechend und reformierend als Dirigent, Lehrer, Schriftsteller und Komponist. Der Glanz Weimars verblich, als eine allmählich erstarkende Opposition L. veranlaßte, 1859 von seiner Kapellmeisterstellung zurückzutreten. 1861 verlegte er seinen Wohnsitz nach Rom, empfing hier 1865 die niedern Weihen (Abbé) und teilte in der Folge seinen Aufenthalt zwischen Rom, Weimar (seit 1869) und Pest, wo er 1873 zum Präsidenten der auf seine Anregung entstandenen Landes-Musikakademie erwählt worden war. Liszts und der Gräfin d'Agoult Tochter Cosima wurde 1857 die Gattin H. v. Bülows und 1869 diejenige Wagners. Denkmäler wurden ihm errichtet in Ödenburg (Bronzebüste von Tilgner, 1893), in Weimar (von Hahn, 1902) und in Stuttgart (von Fremd, 1903).
L. ist unbestritten eine der bedeutendsten Individualitäten unter den Tonkünstlern des 19. Jahrh. Als Virtuosen, als kongenialem Interpreten der Großmeister hat ihm die Mitwelt die Palme gereicht, und die große Schar seiner Schüler verehrte in ihm ebenso den hochgesinnten Menschen wie den Künstler. Über die Bedeutung seiner Kompositionen sind die Meinungen geteilt, doch wendet sich der Widerspruch seiner Gegner nicht gegen sein Können, das außer Frage steht, sondern nur gegen sein Wollen, seine Tendenzen. Bis in die Weimarer Zeit beschränkte sich L. fast gänzlich auf Kompositionen für Klavier, sogar vorzugsweise auf Klavierbearbeitungen von Kompositionen andrer. Durch seine Transskriptionen Schubertscher Lieder hat er zuerst Schubert weitern Kreisen bekannt gemacht und durch seine »Klavierpartituren« Berliozscher und auch Beethovenscher Orchesterwerke einen ganz neuen Stil solcher Arrangements aufgebracht. Seine Phantasien über Opernthemen von Verdi, Donizetti, Bellini, Rossini nahmen in ihrer Art eine erste Stellung ein. Mit seinen ersten freien Kunstschöpfungen für Klavier, den »Harmonies religieuses et poétiques« (1834) und »Années de pélérinage«, schlägt er sogleich neue Töne an und zeigt sich als Stimmungsmaler und Naturpoet mit der deutlichen Tendenz, poetische Ideen musikalisch auszudrücken. In erhöhtem Maße zeigen die Kompositionen seiner zweiten (der Weimarer) Periode L. als Vertreter der Idee der Programmusik besonders in den einsätzigen »Symphonischen Dichtungen« für Orchester: »Tasso, lamento e trionfo« (1849), »Prometheus«, »Ce qu'on entend sur la montagne« (»Bergsymphonie«, nach V. Hugo), »Préludes« (nach Lamartines »Notre vie est-elle autre chose qu'une série de préludes?«), »Orpheus«, »Mazeppa«, »Festklänge«, »Heldenklage« (Héroïde funèbre), »Hungaria«, »Hamlet«, »Hunnenschlacht« (nach Kaulbach), »Die Ideale« (nach Schiller) und den groß angelegten Symphonien mit Chor: »Eine Faust-Symphonie« (mit Schlußchor: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis etc.«) und »Eine Symphonie zu Dantes Divina Commedia« (Schlußchor: Magnificat) sowie »Zwei Episoden aus Lenaus Faust« u.a. In die Weimarer Zeit gehören auch die beiden Klavier konzerte (in Es dur 1855, A dur 1857) und die 15 ersten der 20 »Ungarischen Rhapsodien« (wohl die am bekanntesten gewordenen Klavierwerke Liszts), die Schumann gewidmete H moll-Sonate, die Musik zu Herders »Entfesseltem Prometheus« u.a. Doch nimmt auch Liszts Komposition für die Kirche, für die man eine dritte Periode anzusetzen pflegt, bereits in Weimar ihren Anfang mit der »Graner Festmesse« (1855), dem 13., 137., 23. und 18. Psalm, sowie Teilen der 1862 in Rom beendeten »Legende von der heiligen Elisabeth« und des 1866 beendeten Oratoriums »Christus«. Die römische Zeit brachte zu diesen noch die »Ungarische Krönungsmesse« (1867), ein »Requiem« für Soli, Männerchor und Orchester, ein unvollendetes Oratorium »Stanislaus«, dann »14 Kreuzesstationen« für Chor und Orchester, eine »Stille Messe« für Orgel, 12 Kirchenchorgesänge und einige weitere legendarische Vokalkompositionen. Auch als Kirchenkomponist schließt L. an die Bestrebungen Berlioz', die Kirchenmusik durch Verschmelzung katholisch-liturgischer und dramatischer Musikelemente dem Bewußtsein der Zeit entsprechend weiter zu gestalten. Eine Gesamtausgabe der Kompositionen Liszts bereitet die Firma Breitkopf u. Härtel vor, die auch ein thematisches Verzeichnis seiner Werke herausgab. Auch als Schriftsteller hat sich L. erfolgreich betätigt. Die von ihm selbständig veröffentlichten, abgesehen von einer gewissen Überschwenglichkeit des Stils höchst wertvollen Arbeiten sind: »Frédéric Chopin« (Leipz. 1852, 4. Aufl. 1890; deutsch von La Mara, 2. Aufl., das. 1896); »Lohengrin et Tannhaeuser de R. Wagner« (das. 1851; deutsch, Köln 1852); »De la fondation Goethe à Weimar« (Leipz. 1851); »Des Bohémiens et de leur musique en Hongrie« (Par. 1859, neue Ausg. 1881; deutsch von P. Cornelius, Pest 1861); »Robert Franz« (Leipz. 1872). Eine deutsche Gesamtausgabe seiner Schriften in 6 Bänden besorgte Lina Ramann (Leipz. 1880–83). Die Herausgabe der Briefe von und an L. besorgte La Mara (s. Lipsius 5) in verschiedenen Sammlungen: »Briefe«, Bd. 1 u. 2 (Leipz. 1892), Bd. 3: »Briefe an eine Freundin« (das. 1893), Bd. 4–7: »Briefe an die Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein« (das. 1899–1901), Bd. 8: »Briefe, 1823–1886«, neue Folge zu Bd. 1 u. 2 (das. 1904); ferner: »Briefe hervorragender Zeitgenossen an Franz L.« (das. 1895–1904, 3 Bde.) und »Briefwechsel zwischen L. und Hans v. Bülow« (das. 1898, zum Teil auch in französischen Ausgaben erschienen); der »Briefwechsel zwischen Richard Wagner und Franz L.« erschien daselbst 1887, 2 Bde.; »Liszts Briefe an Karl Gille« gab Adolf Stern heraus (das. 1902). Vgl. Lina Ramann, Franz L. als Künstler und Mensch (Leipz. 1880–94, 3 Bde.); Nohl, Beethoven, L., Wagner (Wien 1874); R. Pohl, Gesammelte Schriften, Bd. 2: Franz L. (das. 1883); J. Wohl, Franz L., Erinnerungen einer Landsmännin (Jena 1888); Nohl und Göllerich, Franz L. (beide in Reclams Universal-Bibliothek 1882 und 1888); B. Vogel, Franz L. (Leipz. 1888); E. Reuß, Franz L., ein Lebensbild (Dresd. 1898); Hahn, Pochhammer und Volbach, Franz L., sein Leben und seine Werke (Frankf. 1898).
2) Franz von, Kriminalist, Verwandter des vorigen, geb. 2. März 1851 in Wien, studierte daselbst, in Göttingen und Heidelberg, habilitierte sich 1875 als Privatdozent für Strafrecht in Graz, wurde 1879 ordentlicher Professor des Strafrechts und Zivilprozesses in Gießen, 1882 in Marburg, 1889 in Halle und folgte 1899 einem Ruf an die Berliner Universität. L. ist gegenwärtig in Deutschland der Hauptvertreter einer wissenschaftlichen Richtung, die, ausgehend von der Auffassung des Verbrechens als einer sozialen Krankheitserscheinung, im Gegensatz steht sowohl zu der überwundenen spekulativ-philosophischen Behandlung des Strafrechts als zur herrschenden, vorwiegend mit abstrakten Begriffen rechnenden Schule. Als Organ dieser Richtung begründete er 1881 im Verein mit A. Dochow (s. d.) die »Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft« und rief zur Vorbereitung legislativer Reformen 1888 mit den Professoren van Hamel in Amsterdam und Prins in Brüssel die Internationale kriminalistische Vereinigung ins Leben (Weiteres darüber s. Kriminalistische Vereinigung). L. schrieb unter anderm: »Meineid und falsches Zeugnis« (Wien 1876); »Die falsche Aussage vor Gericht« (Graz 1877); »Lehrbuch des österreichischen Preßrechts« (Leipz. 1878); »Das deutsche Reichspreßrecht« (Berl. 1880); »Lehrbuch des deutschen Strafrechts« (das. 1881, 15. Aufl. 1905); »Der Zweckgedanke im Strafrecht« (Marb. 1882); »Die Reform des juristischen Studiums in Preußen« (Berl. 1886); »Der italienische Strafgesetzentwurf« (Freiburg 1888); »Die Grenzgebiete zwischen Privatrecht und Strafrecht. Kriminalistische Bedenken gegen den Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich« (Berl. 1889); »Die Deliktsobligationen im System des bürgerlichen Gesetzbuchs« (das. 1898); »Das Völkerrecht, systematisch dargestellt« (das. 1898, 3. Aufl. 1904); »Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge« (das. 1905, 2 Bde.). In der von der Internationalen kriminalistischen Vereinigung unternommenen Publikation: »Die Strafgesetzgebung der Gegenwart in rechtsvergleichender Darstellung« gab er den 1. Band (»Das Strafrecht der Staaten Europas«, Berl. 1894) heraus. Von Dochows »Strafrechtsfällen« besorgte er die 4.–7. Auflage (Jena 1891–1902, erstere mit Bennecke). Zur Förderung fachwissenschaftlicher Forschungen auf dem Gebiete des Strafrechts und der Kriminalpolitik rief er 1888 in Marburg, dann in Halle und in Berlin ein kriminalistisches Seminar ins Leben, dessen Abhandlungen in zwanglosen Heften erschienen sind (Bd. 1, Freiburg 1888; Bd. 2–5, Berl. 1889–95; neue Folge, Bd. 1–4, das. 1901–05).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.