Berlioz

Berlioz

Berlioz (spr. -óß), Hector, franz. Komponist, geb. 11. Dez. 1803 in La Côte St.-André unweit Grenoble, gest. 8. März 1869 in Paris, wurde von seinem Vater, einem Arzt, zu dem gleichen Beruf bestimmt. Doch vertiefte er sich in Paris, wohin er 1822 als Student der Medizin gekommen war, mehr und mehr in das Studium der Musik, die er bisher nur dilettantisch auf Gitarre und Flöte ausgeübt. 1825 trat er gegen den Willen seines Vaters als Schüler Le Sueurs in das Konservatorium und war gezwungen, zeitweilig als Chorist des Nouveautés-Theaters seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Schon 1825, 1827 und 1828 veranstaltete er öffentliche Aufführungen eigner Werke (»Messe solennelle«, Ouvertüre »Die Femrichter« und »Waverley«, Scènes héroïques grecqes), erregte aber mit den Erstlingen seiner Muse nur Verwunderung. Seine Bewerbung um den Römerpreis schlug viermal fehl, hatte aber das fünfte Mal Erfolg mit »I, a dernière nuit de Sardanapale«. In einem Abschiedskonzert vor Antritt des italienischen Aufenthalts führte er noch seine phantastische Symphonie »Episode de la vie d'un artiste« in Paris auf (1830). Italien erfüllte in keiner Weise seine Erwartungen, und durch Vermittelung seines Freundes Horace Vernet erlangte er die Erlaubnis, schon nach 18 Monaten wieder nach Paris zurückzukehren. Schon die Erstlingsarbeiten B.', soweit sie erhalten sind (die Konkurrenzarbeiten vernichtete er), zeigen deutlich die charakteristischen Merkmale seines gesamten Schaffens: das Streben, einen dichterischen Gedanken in Tönen zu versinnlichen, und ein dementsprechender Aufwand instrumentaler Mittel sowie jene Überschwenglichkeit der Phantasie und Freiheit der formalen Gestaltung, welche die damals in Frankreich zum Durchbruch gekommene Romantik im allgemeinen kennzeichneten. Noch entschiedener zeigten diese Seite der Berliozschen Individualität seine spätern symphonischen Arbeiten: »Le retour à la vie« (eine Art Ergänzung zur »Épisode«), die er nebst der Ouvertüre zum »König Lear« bei der Rückkehr aus Italien mitbrachte; »Harolden Italie« (zum erstenmal ausgeführt 1834); die Totenmesse (Requiem) zur Begräbnisfeier des Generals Damrémont (1837); »Romeo et Juliette«, mit Solo- und Chorgesang (1839); die Trauer- und Siegessymphonie für Militärmusik, zur Einweihung der Julisäule (1840), und die Ouvertüre »Le carnaval romain«. Alle diese Werke erregten durch die Originalität der Erfindung und die von den bisherigen Mustern völlig abweichende Form ein ungemeines Aufsehen, wogegen der Versuch des Künstlers, mit der Oper »Benvenuto Cellini« (1838) auf der Bühne festen Fuß zu fassen, völlig mißlang.

Inzwischen war B. auch als musikalischer Schriftsteller mit Erfolg tätig gewesen, zuerst 1828 als Mitarbeiter des »Correspondant«, dann der 1834 gegründeten »Gazette musicale«, endlich des »Journal des Débats«. Die Vorteile, die ihm aus dieser Stellung erwuchsen, büßte er jedoch z. T. wieder ein durch die rücksichtslose Schärfe seiner Kritik, die ihm zahlreiche Feinde zuzog. Er unternahm nun 1840 eine größere Kunstreise, die ihn zunächst nach Brüssel, 1841–42 aber nach Norddeutschland führte, wo er meist mit Begeisterung aufgenommen wurde und unter andern in Robert Griepenkerl (Braunschweig), Rob. Schumann und Lobe (Leipzig) warme Verehrer seiner Kunst fand. 1845 bereiste er Südfrankreich, Österreich und Ungarn und 1847, nachdem er das Jahr zuvor seine Symphoniekantate »La damnation de Faust« in Paris zur Ausführung gebracht, Rußland, wo er noch mehr als in Deutschland gefeiert wurde. 1853–55 besuchte er zum zweitenmal Deutschland und verweilte diesmal längere Zeit in Weimar bei Liszt, der schon seit Jahren für die Verbreitung der Berliozschen Musik tätig gewesen war. Eine neue Reise führte ihn 1866 nach Wien zu einer Ausführung des Faust und 1867 nach Rußland, wo er einige Konzerte der Musikgesellschaft dirigierte. Von seinen spätern Kompositionen sind zu erwähnen: das Mysterium »L'enfance de Christ« (1854), ein doppelchöriges Tedeum (1856), das ihm die Mitgliedschaft der Akademie eintrug, die komische Oper »Béatrice et Bénédict« (1862 in Baden und später in Weimar ausgeführt) und die große Oper »Les Troyens« (1. Teil: »La prise de Troie«, zuerst 1890 in Karlsruhe; 2. Teil: »Les Troyens á Carthage«, 1863 im Théâtre Lyrique zu Paris ausgeführt). Mit diesem Werk, das von ihm als sein bestes bezeichnet, vom Publikum jedoch abermals abgelehnt wurde, nahm B. Abschied von der Pariser Öffentlichkeit. Die ablehnende Haltung des Pariser Publikums wich erst nach seinem Tode; das Verlangen, den deutschen Komponisten einen französischen gegenüberzustellen, führte besonders nach dem deutsch-französischen Krieg zu einem stärkern Aufblühen eines Berlioz-Kultus, besonders in Colonnes Concerts du Châtelet. 1886 wurde B. in Paris und 1890 in seiner Vaterstadt ein Denkmal errichtet. Eine kritisch revidierte Ausgabe seiner Werke, herausgegeben von Charles Malherbe und F. Weingartner, begann 1900 im Verlage von Breitkopf u. Härtel in Leipzig zu erscheinen.

Selten sind die Meinungen in künstlerischen Dingen so geteilt gewesen wie in Bezug auf B.' Musik, und noch jetzt steht der Partei, die ihn als den französischen Beethoven betrachtet, eine andre schroff gegenüber, die seiner Kunst jeglichen Wert abspricht. Nur über seine Meisterschaft in der Behandlung der Orchesterinstrumente, deren Individualitäten er überzeugend und radikal zur Geltung brachte, ist man in allen Künstlerkreisen einer Meinung, und sein »Traite d'instrumentation« (Par. 1844; deutsch von A. Dörffel, Leipz. 1864) hat ungeteilten Beifall gefunden als dasjenige Werk, das fast gleichzeitig mit demjenigen von J. G. Kastner (1837) erstmalig eine geordnete Theorie der musikalischen Klangfarben aufstellte. Das Gleiche gilt von seinen übrigen Schriften, die nicht nur den geistreichen Menschen und Musiker, sondern auch eine edle, ausschließlich dem Ideal zugewandte Künstlernatur in jeder Zeile erkennen lassen. Es sind dies: »Voyage musicalen Allemagne, etc.« (1841); »Les soirées de l'orchestre« (1853); »Les grotesques de la musique« (1859) und »A travers chants« (1862, 2. Aufl. 1872), beide letztere vorwiegend humoristischen Inhalts. Die meisten dieser Schriften erschienen in deutscher Übersetzung von Richard Pohl (Leipz. 1864, 4 Bde.). Nach seinem Tod erschienen die kurz vorher von ihm verfaßten, auch Briefe enthaltenden »Mémoires« (1870; 2. Aufl. 1878, 2 Bde.; seine Reisen in Italien, Deutschland, Rußland und England betreffend), die indessen nach Hippeau (»B. intime«, neue Ausg. 1889) durch die von Bernard herausgegebene »Correspondance inédite 1819–1868« (1878) mannigfach zu berichtigen sind, und »Lettres intimes« (mit Vorwort von Gounod, 1882). »B.' Briefe an die Fürstin Corolyne Sayn-Wittgenstein« wurden von La Mara herausgegeben (Leipz. 1902). Vgl. Jullien, Hector B., la vie et le combat (1882); Derselbe, H. B., sa vie et ses œuvres (1888); Hippeau, B. et son temps (1891); Ernst, L'œuvre dramatique de H. B. (1884); Prodhomme, Le cycle B. (1898); Rich. Pohl, Hector B., Studien und Erinnerungen (Leipz. 1884); Louise Pohl, H. B.' Leben und Werke (nach dem von Richard Pohl gesammelten Material, das. 1900) und »H. B. und seine Werke« von A. Hahn, L. Voltz, A. Pochhammer, A. Grüters und F. Volbach (das. 1900).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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