- Kriminalistische Vereinigung
Kriminalistische Vereinigung, internationale, ein 1889 auf Anregung des Professors v. Liszt (Marburg, jetzt Berlin) mit diesem von van Hamel (Amsterdam) und Prins (Brüssel) gegründeter Verein von praktischen und theoretischen Kriminalisten aller Länder, der das Ziel verfolgt, auf eine prinzipielle Umgestaltung des Strafrechts und Strafvollzugs im Sinn einer wirksamern, zielbewußtern Bekämpfung des (bedrohlich anwachsenden) Verbrechertums hinzuarbeiten, als sie die heute bestehenden Einrichtungen ermöglichen. Bei einer 1897 vorgenommenen Neufassung der Statuten der internationalen Kriminalistischen Vereinigung wurde einstimmig erklärt: die K. V. vertritt die Ansicht, daß sowohl das Verbrechen als auch die Mittel zu seiner Bekämpfung nicht nur vom juristischen, sondern ebenso vom anthropologischen und soziologischen Standpunkt aus betrachtet werden müssen und als Aufgabe der Vereinigung die wissenschaftliche Erforschung des Verbrechens, seiner Ursachen und der Mittel zu seiner Bekämpfung erklärt. Die erste Versammlung fand 1889 in Brüssel, die zweite 1890 in Bern, die dritte 1891 in Christiania, die vierte 1893 in Paris, die fünfte 1894 in Antwerpen, die sechste im August 1895 in Linz (Oberösterreich), die siebente 1897 in Lissabon, die achte 1899 in Budapest, die neunte 1902 in Petersburg statt. Neben diesen allgemeinen Versammlungen haben die einzelnen Landesgruppen (besonders in Deutschland und Norwegen) eine lebhafte Tätigkeit entfaltet. Die deutsche Landesgruppe hat 1891 und 1892 in Halle, 1893 in Berlin, 1895 in Gießen, 1900 in Straßburg, 1903 in Dresden, 1904 in Stuttgart getagt. Die Mitgliederzahl stieg von 75 im Gründungsjahr auf 1122 im J. 1904, wovon 360 auf Deutschland, 226 auf Rußland, 95 auf Dänemark, die übrigen auf Frankreich, Ungarn, Portugal, Österreich, Schweden, Belgien, Schweiz, Vereinigte Staaten von Amerika etc. kommen. Eigne Landesgruppen besitzt die K. V. in Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Kroatien, Norwegen, Portugal, Rußland, Schweiz und Ungarn. Als Vereinsorgan erscheinen deutsch und französisch die »Mitteilungen« (»Bulletin de l'Union internationale de droit pénal«) in zwanglosen Heften. Die Lösung der sich gestellten Aufgabe, nämlich die wissenschaftliche Erforschung des Verbrechens, seiner Ursachen und der Mittel zu seiner Bekämpfung, sucht die K. V. insonderheit durch wissenschaftliche Bearbeitung einschlägiger Fragen zu erreichen. Zu den bisher erörterten Fragen, die durch die K. V. besonders gefördert wurden, gehört das Problem der Jugendlichen, das Problem des Rückfalls und das der Freiheitsstrafen (Einschränkung der Freiheitsstrafe oder Ersatzmittel, wie z. B. Geldstrafe, Verschärfung der Freiheitsstrafe, bedingte Verurteilung), die Bekämpfung des Mädchenhandels, des Bettels und der Landstreicherei, die Schutzfürsorge für entlassene Sträflinge, die Frage der Deportation oder Zwangsverschickung, des Lustmordes und des Einflusses des Greisenalters auf die Kriminalität. In diesen Arbeiten aber liegt ihr nicht zu unterschätzender Wert, mag man nun Anhänger der modernen oder der klassischen Schule des Indeterminismus oder des Determinismus sein. Eins aber muß vor allem betont werden, was den Gutachten und Beratungen der kriminalistischen Vereinigung besondern Wert verleiht: wir finden hier Theoretiker und Praktiker in der glücklichsten Weise zur ersprießlichen Arbeit vereint; denn nur diese Mischung gibt einen guten Klang und verbürgt ein segensreiches Wirken. Um ein segensreiches Wirken ist es aber den Anhängern der modernen Schule ebenso zu tun wie denen der klassischen, und hätte die K. V. weiter keinen Zweck als der Sauerteig der Strafrechtswissenschaft im weitesten Sinne zu sein, so würde dies allein für ihre Existenzberechtigung sprechen. Die Führer der Kriminalistischen Vereinigung haben scharfe persönliche Angriffe erfahren. Dennoch scheint sich allmählich eine sachliche Würdigung der von ihnen ausgehenden Arbeiten und Anregungen anzubahnen. Zum mindesten gebührt ihnen das Verdienst, eine lebhaftere und allgemeinere Erörterung über die Reform des gegenwärtigen, mit unleugbaren Mängeln behafteten Strafensystems herbeigeführt zu haben. Vgl. die »Mitteilungen der internationalen kriminalistischen Vereinigung« (Berl., seit 1889); Kitzinger, Die internationale K. V. (Münch. 1905).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.