Kaufmannsgerichte

Kaufmannsgerichte

Kaufmannsgerichte, staatliche, im Namen des Landesfürsten Recht sprechende Gerichte, die zur Entscheidung von Streitigkeiten aus dem Dienst- oder Lehrverhältnis zwischen Kaufleuten einerseits und ihren Handlungsgehilfen oder Handlungslehrlingen anderseits berufen sind. Der Ruf nach Sondergerichten wird in Deutschland lauter und lauter, und nicht zum Vorteil Deutschlands wird der ordentlichen Rechtsprechung ein Gebiet nach dem andern entzogen. Schon bei Beratung des Gewerbegerichts-Gesetzentwurfs 1890 wurde im Reichstag der Antrag gestellt, ihre Zuständigkeit auf die Streitigkeiten der Handlungsgehilfen mit den Prinzipalen auszudehnen. 1897 wurden sodann die verbündeten Regierungen im Reichstag durch eine Resolution (7. April) ersucht, baldtunlichst die Vorlegung eines Gesetzentwurfs zu veranlassen, wonach zur Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Prinzipalen einerseits und Handlungsgehilfen und Handlungslehrlingen anderseits kaufmännische Schiedsgerichte zu errichten seien. Die Juristenwelt warnte in Wort und Schrift vor der durch Schaffung von Kaufmannsgerichten entstehenden weitern Abbröckelung der Rechtseinheit und wies auf die dadurch entstehende Zersplitterung der Rechtspflege hin. Insonderheit bestand keine Einigkeit über die Organisation dieser neuen Gerichte, indem die einen deren Angliederung an die Amtsgerichte, die andern aber Anschluß an die Gewerbegerichte, die insonderheit als Einigungs- und Vermittelungsämter sich trefflich bewährt haben, befürworteten. Trotz dieser Meinungsverschiedenheiten und trotz der nicht unberechtigten Bedenken gegen die Schaffung neuer Sondergerichte gelangte 1903 an den Bundesrat ein Gesetzentwurf, betreffend K., der jedoch dem Reichstag nicht vorgelegt wurde. Am 8. Jan. 1904 endlich, nachdem in der Fach- und Tagespresse über die Organisation dieser neuen Gerichte die lebhaftesten Auseinandersetzungen stattgefunden hatten und dadurch den Juristen und den Laien genügend Gelegenheit gegeben worden war, ihre Wünsche geltend zu machen, legte der Bundesrat dem Reichstag den Entwurf eines Gesetzes, betreffend K., nebst Begründung vor. Nach der Beratung im Reichstag wurde der Entwurf einer Kommission von 21 Mitgliedern überwiesen, von dieser in 12 Sitzungen erledigt und in eine zweite Beratung desselben im Reichstag eingetreten, in der insonderheit die Frage des aktiven und passiven Wahlrechts der Frauen sowie die von der Kommission beschlossene Herabsetzung des Alters der Wähler und Beisitzer zu lebhaften Erörterungen führten, so daß schließlich seitens des Bundesrats erklärt wurde, daß an seine Zustimmung zu dem Gesetze nur zu denken sei, wenn nach dieser Richtung hin die Regierungsvorlage wiederhergestellt würde. Endlich fand jedoch der Kompromißantrag Beck-Henning-Trimborn so viel Zustimmung, daß in der dritten Lesung vom 16. Juni 1904 das Gesetz Annahme fand; der Bundesrat sanktionierte es in seiner Sitzung vom 31. Juni. Im Reichsgesetzblatt wurde das Gesetz, betreffend K., unterm 6. Juli 1904 veröffentlicht, in Kraft ist es 1. Jan. 1905 getreten.

Es umfaßt 22 Paragraphen, von denen § 1–15 die Errichtung und Zusammensetzung der K., § 16 und 17 das Verfahren, § 18 die Gutachten und Anträge der K., § 19 das Verfahren vor dem Gemeindevorsteher und § 20–22 einige Schlußbestimmungen behandeln. Errichtet muß ein Kaufmannsgericht werden für Gemeinden, die mehr als 20,000 Einw. haben, jedoch können sich mehrere derartige Gemeinden zur Errichtung eines gemeinsamen Kaufmannsgerichts für ihre Bezirke vereinigen. Ist das Bedürfnis vorhanden, z. B. wenn in einem Ort besonders reger Handelsverkehr ist, so kann auch für Orte mit weniger als 20,000 Einw. nach Anhörung mehrerer beteiligter Kaufleute und Handlungsgehilfen durch Ortsstatut zur Errichtung eines Kaufmannsgerichtes geschritten werden (§ 1 und 2). Der Entscheidung der K. unterstehen alle Streitigkeiten aus dem Dienst- oder Lehrverhältnis zwischen Kaufleuten und deren Handlungsgehilfen oder Handlungslehrlingen, jedoch findet das Gesetz keine Anwendung auf Handlungsgehilfen mit mehr als 5000 Mk. Gehalt und auf Apothekergehilfen und-Lehrlinge (§ 1 und 4). Zu entscheiden haben die K., wenn die Streitigkeiten zwischen den obengenannten Personenklassen betreffen: 1) Antritt, Fortsetzung oder Auflösung des Dienst- oder Lehrverhältnisses, Inhalt oder Aushändigung des Zeugnisses; 2) Leistungen aus dem Dienst- oder Lehrverhältnis; 3) Rückgabe von Sicherheiten, Zeugnissen, Legitimationspapieren oder andern Gegenständen, die aus Anlaß des Dienst- oder Lehrverhältnisses übergeben wurden; 4) Ansprüche auf Schadenersatz oder auf eine Konventionalstrafe sowie wegen unrichtiger oder gesetzwidriger Eintragungen in Zeugnissen, Krankenkassenbüchern oder Quittungskarten der Invalidenversicherung; 5) Berechnung und Anrechnung der von den Handlungsgehilfen oder-Lehrlingen zu zahlenden Krankenversicherungsbeiträge oder Eintrittsgelder; 6) Ansprüche wegen Verletzung der Konkurrenzklausel (s. d.), § 5. Alle diese Streitigkeiten müssen vor dem Kaufmannsgericht ausgetragen werden (§ 6). Die Kosten der Einrichtung und Unterhaltung der K. haben die betreffenden Gemeinden zu tragen. Die Gebühren, Kosten und Strafen bilden die Einnahmen der K. Ihre Zusammensetzung erfolgt durch ein Statut, jedenfalls aber sind mindestens ein Vorsitzender und Stellvertreter sowie vier Beisitzer zu bestellen (§ 9), von der Landesjustizverwaltung als Vorsitzender und dessen Stellvertreter soll jedoch für gewöhnlich eine Person gewählt werden, die das Richterexamen bestanden oder die Fähigkeit zum höhern Verwaltungsdienst hat, auf Antrag einer Gemeinde kann auch das Mitglied eines ordentlichen Gerichts (Amts-, Landrichter etc.) zum Vorsitzenden bestimmt werden (§ 11). Besteht an dem betreffenden Orte bereits ein Gewerbegericht, so sind tunlichst dessen Vorsitzender und Stellvertreter auch für das Kaufmannsgericht zu bestellen und gemeinsame Einrichtungen für die Gerichtsschreiberei, die Sitzungsräume etc. zu treffen (§ 9). Die Wahl des Vorsitzenden und seines Stellvertreters erfolgt durch den Magistrat oder durch die Gemeindevertretung oder die Vertretung des weitern Kommunalverbandes auf mindestens ein Jahr und bedarf der Bestätigung durch die höhere Verwaltungsbehörde (§ 11). Die Beisitzer sind zur Hälfte aus den Kaufleuten, die mindestens einen Handlungsgehilfen oder-Lehrling beschäftigen, zur Hälfte aus den Handlungsgehilfen in unmittelbarer, geheimer Wahl (s. Wahl), teils durch die soeben näher bezeichnete Kategorie von Kaufleuten, teils durch die Handlungsgehilfen zu wählen, und zwar auf mindestens ein und höchstens sechs Jahre (§ 12). Nicht gewählt werden können: 1) Personen weiblichen Geschlechts, 2) Ausländer, 3) Personen, denen die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter durch Strafurteil aberkannt wurde, 4) Personen, gegen die das Hauptverfahren wegen eines Verbrechens oder Vergehens eröffnet ist, das die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte oder die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter zur Folge haben kann, 5) Personen, die durch gerichtliche Anordnung in der Verfügung über ihr Vermögen beschränkt sind (Entmündigte etc.); außerdem sollen möglichst nur Personen berufen werden, die 30 Jahre alt sind und im letzten Jahre keine Armenunterstützung genossen und dieselbe nicht etwa zurückerstattet haben. Von den Beisitzern wird außerdem noch verlangt, daß sie im Bezirk des betreffenden Kaufmannsgerichts seit mindestens zwei Jahren eine Handelsniederlassung haben, bez. dort beschäftigt sind (§ 11). Wahlberechtigt sind alle Personen, die im Bezirk des Kaufmannsgerichts eine Handelsniederlassung haben, bez. dort beschäftigt sind, das 25. Lebensjahr vollendet haben und nicht zu den nicht wählbaren Personen gehören (§ 14). Vorstand von Aktiengesellschaften, eingetragenen Genossenschaften etc. sind gleichfalls wählbar und können wählen (§ 14). Das Verfahren richtet sich nach dem der Gewerbegerichte (s. d.), Berufung gegen die Urteile der K. ist jedoch nur zulässig, wenn der Streitwert 300 Mk. übersteigt (§ 16). Bei Streitigkeiten über die Bedingungen der Fortsetzung oder Wiederaufnahme des Dienst- oder Lehrverhältnisses kann das Kaufmannsgericht als Einigungsamt angerufen werden (§ 17). Zur Abgabe von Gutachten über das kaufmännische Dienst- oder Lehrverhältnis ist das Kaufmannsgericht auf An suchen der Staatsbehörden sowie des Vorstandes des Kommunalverbandes, für den es errichtet ist, verpflichtet, ebenso ist es berechtigt, in den bezeichneten Fragen Anträge an Behörden etc. zu stellen. Falls kein zuständiges Kaufmannsgericht vorhanden ist, hat auf Anruf einer Partei der Gemeindevorsteher, in dessen Bezirk die streitige Verpflichtung aus dem Dienst- oder Lohnverhältnis zu erfüllen ist, sich die Handelsniederlassung des Kaufmanns befindet oder beide Parteien ihren Wohnsitz haben, eine vorläufige Entscheidung zu treffen (§ 18). Wie beim Gewerbegericht, sind auch beim Kaufmannsgericht Rechtsanwalte oder Personen, die das Verhandeln vor Gericht geschäftsmäßig betreiben (Rechtskonsulenten etc.), als Prozeßbevollmächtigte oder Beistände ausgeschlossen. Vgl. die Ausgaben des Gesetzes von Apt (3. Aufl., Berl. 1905), Hirsekorn (Leipz.), Kulka (das.), L. Müller (das.), Menzinger u. Prenner (Münch.), M. v. Schulz (Jena) u. a.; Graef, Die K., ihre Verfassung und ihr Verfahren (Leipz. 1904); Lipinski, Das Recht und der Rechtsweg der Handlungsgehilfen (das. 1904); Wolff, Die K. (das. 1905).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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