- Gericht
Gericht nennt man die zur Ausübung der Gerichtsbarkeit (s.d.) oder der Rechtspflege bestimmte Behörde. Diese Tätigkeit ist ein Ausfluß der Staatsgewalt, denn der Rechtsschutz ist eine der vornehmlichsten Aufgaben des Staates und die Selbsthilfe in einem wohlgeordneten Staatswesen grundsätzlich ausgeschlossen. Daß im Mittelalter ein Teil der Gerichtsbarkeit nicht selten den Städten überlassen und vielfach sogar als sogen. Patrimonial- oder Privatgerichtsbarkeit den Grundherren übertragen ward, erklärt sich aus der damaligen Schwäche der Staatsgewalt und aus der vielfachen Gliederung des mittelalterlichen Lehnsstaates. Auch die Geistliche Gerichtsbarkeit (s.d.), von der sich bis in die neuere Zeit hinein Überreste erhalten hatten, findet in jenen besondern Verhältnissen ihre Erklärung (s. Gerichtsbarkeit). Welche Gerichte in einem Staate bestehen, ergibt sich aus der Gerichtsorganisation oder Gerichtsverfassung (s.d.). Im Deutschen Reiche sind nach dem Gerichtsverfassungsgesetze ordentliche Gerichte die Amtsgerichte, die Landgerichte, die Oberlandesgerichte und das Reichsgericht (s.d.). Vor diese ordentlichen Gerichte gehören alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen, für die nicht die Zuständigkeit von Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten begründet ist, oder reichsgesetzlich besondere Gerichte bestellt oder doch zugelassen sind. Während die Entscheidung streitiger Fragen des Privatrechts den Gegenstand der bürgerlichen Rechtspflege bildet oder für sie der Rechtsweg (s.d.) zulässig ist, gehört die Entscheidung von Streitigkeiten auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts an sich vor die Verwaltungsbehörden oder in das Gebiet der Verwaltungsrechtspflege (Administrativjustiz). Dahin gehören z. B. Heimatsachen, Streitigkeiten über die Verbindlichkeit zu Staats- und Gemeindeleistungen, Bausachen u. dgl. Ausnahmsweise sind auch aus Zweckmäßigkeitsgründen gewisse Privatrechtssachen den Verwaltungsbehörden zugewiesen, wie z. B. Streitigkeiten der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer über das Arbeitsverhältnis. In manchen Staaten bestehen besondere Verwaltungsgerichte (s. Contentieux administratif) sowie besondere Behörden zur Entscheidung von sogen. Kompetenzkonflikten zwischen Justiz und Verwaltung. Auch die deutsche Reichsgesetzgebung hat Verwaltungsgerichtshöfe in dem Bundesamt für das Heimatswesen, in den Seemannsämtern, in dem Patentamt und in dem verstärkten Reichseisenbahnamt geschaffen. In Strafsachen kann gleichfalls eine richterliche Befugnis der Polizeibehörden, namentlich der Gemeindebehörden, durch landesgesetzliche Bestimmung begründet werden und ist vielfach begründet worden. Doch darf die Polizeibehörde nach der deutschen Strafprozeßordnung (§ 453ff.) keine andre Strafe als Hast bis zu 14 Tagen oder Geldstrafe sowie eine etwa verwirkte Einziehung aussprechen. Auch erstreckt sich diese polizeiliche Strafgewalt nur auf Übertretungen, und endlich darf der Beschuldigte in allen solchen Fällen auf richterliche Entscheidung antragen. Als besondere Gerichte sind nach dem Gerichtsverfassungsgesetz zugelassen: die auf Staatsverträgen beruhenden Rheinschiffahrts- und Elbzollgerichte; die Gerichte, denen die Entscheidung von bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten bei der Ablösung von Gerechtigkeiten oder Reallasten, bei Separationen, Konsolidationen, Verkoppelungen, gutsherrlich-bäuerlichen Auseinandersetzungen u. dgl. obliegt; die Gemeindegerichte, insoweit sie über vermögensrechtliche Ansprüche zu entscheiden haben, deren Wert den Betrag von 60 Mk. nicht übersteigt, vorbehaltlich der Berufung auf richterliche Entscheidung; die Gewerbegerichte und die besondern Gerichte für die Mitglieder der landesherrlichen sowie der ihnen gleichgestellten Familien. Zu ihnen gesellen sich noch die vom Reich selbst angeordneten besondern Gerichte: die Militärgerichte, Konsulats- und Schutzgebietsgerichte. Bezüglich der kaufmännischen Sondergerichte s. Kaufmannsgerichte. Die Prisengerichte (s.d.) sind Verwaltungsbehörden.
Die Amtsrichter entscheiden, auch wenn das G. mit mehreren Richtern besetzt ist, als Einzelrichter. Die Geschäfte werden unter die einzelnen Richter jedes Jahr nach Bezirken oder nach Gattungen verteilt (s. Amtsgerichte und Einzelrichter). Alle übrigen Gerichte sind Kollegialgerichte. Bei den Landgerichten entscheiden die Zivilkammern (s.d.) in der Besetzung mit 3, die Strafkammern regelmäßig in der Besetzung mit 5, wenn es sich um die Entscheidung über die Berufung in Strafsachen handelt, aber gleichsfalls in der Besetzung mit 3 Mitgliedern. Bei dem Oberlandesgericht wirken bei der Entscheidung durch einen Senat 5, bei dem Reichsgericht 7 Mitglieder mit. Die Geschäftsverteilung unter die einzelnen Kammern oder Senate wird vor Beginn des Geschäftsjahres für dessen Dauer durch das Präsidium vorgenommen. Dieses besteht bei dem Landgerichte aus dem Präsidenten, den Direktoren und dem dem Dienstalter nach ältesten Mitgliede. Bei den Oberlandesgerichten und bei dem Reichsgericht wird das Präsidium aus dem Präsidenten und dem Senatspräsidenten gebildet, denen sich bei dem Oberlandesgericht die zwei, bei dem Reichsgericht die vier ältesten Räte zugesellen.
Ähnlich sind durch das österreichische Gerichtsorganisationsgesetz vom 27. Nov. 1896 und durch die Jurisdiktionsnorm vom 1. Aug. 1895, die beide 1. Jan. 1898 in Kraft getreten sind, die Verhältnisse in Österreich geregelt. Die Gerichte erster Instanz für Zivilsachen heißen Bezirksgerichte (Einzelgerichte wie unsre Amtsgerichte) und Kreisgerichte (Kollegialgerichte erster Instanz), welch letztere in den Hauptstädten der Kronländer die Bezeichnung Landesgerichte führen. Berufungsinstanz für die Bezirksgerichte bilden die Landesgerichte und für diese wiederum die Oberlandesgerichte. Revisionsinstanz gegenüber den Bezirks- und Landesgerichten ist der Oberste Gerichts- und Kassationshof in Wien. In Strafsachen sind Gerichte erster Instanz die Bezirksgerichte, die Kreis- oder Landesgerichte und die Geschwornengerichte. Die zweite Instanz bilden für die Bezirksgerichte die Kreis- oder Landesgerichte und für diese sowie für die Geschwornengerichte wieder die Oberlandesgerichte.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.