Wahl

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Mit dem Namen Proportionalwahl (franz. Représentation proportionelle, engl. Proportional representation, in der Schweiz ist die Wortverstümmelung Proporz üblich) bezeichnet man diejenige Wahleinrichtung, die bezweckt, daß durch die Wahl eine verhältnismäßige Vertretung erzielt wird, in der auch die Minderheiten zu einer entsprechenden Geltung kommen. Bei den Wahlen nach dem Repräsentativsystem (s.d.) kommt die Wählermasse in keiner andern als der geographischen Einteilung nach Wahlkreisen in Betracht. Entscheidet nun, wie es nach den meisten Gesetzgebungen und insbes. in Deutschland der Fall ist, absolute Mehrheit, so wird von Interessengliederung nicht viel mehr mit Notwendigkeit zum Ausdruck gelangen, als was etwa schon in der geographischen Wahlkreiseinteilung sich ausprägt. Das ist für das reichgegliederte gesellschaftliche Leben der Gegenwart wenig. Dazu kommt, daß bei einer aus Massenabstimmung hervorgehenden Vertretung geistig und wirtschaftlich sehr wichtige Volksgruppen nicht zur Geltung kommen, wenn sie nur eine geringe und zersplitterte Zahl von Zugehörigen aufweisen. Man kann das Repräsentativsystem als die stärkste Reaktion gegen das alte, staatauflösende Ständewesen ansehen, indem es den Menschen lediglich als Staatsbürger gelten läßt und von seinen sonstigen verschiedenartigen Eigenschaften absieht. Der idealistischen Anforderung, daß die Volksvertretung in verkleinertem Maßstab die Interessengliederung des Volkes abbilden soll, entspricht das Repräsentativsystem nicht. Wenn aber die Verwirklichung dieses Ideals noch wenig versucht worden ist, so darf das nicht befremden. Es ist nämlich leichter, jenes Ideal aufzustellen, als es zu verwirklichen. Die verhärteten Bildungen der alten Geburtsstände hatten feste Umrisse, und diese repräsentativ zur Geltung zu bringen, war nicht schwer. Anders verhält es sich mit den wechselnden und keineswegs scharf umrissenen Bildungen der modernen Gesellschaft. Dazu kommt noch ein andres. Der parlamentarische Apparat selber, der aus den Wahlen hervorgehen soll, kann nur dann mit Stetigkeit arbeiten, wenn sich feste Mehrheiten bilden. Diese bilden sich aber um so schwerer, je mehr eine Kammer in Interessengruppen zerbröckelt ist, sie bilden sich leichter beim Repräsentativsystem, wo die Wahlen sich als Kraftprobe großer politischer Parteien gestalten. Hier ist es eher möglich, daß eine geschlossene Mehrheit von vornherein vorhanden ist und sich nicht erst durch Zusammenschluß verschiedener Gruppen, oft nur von Fall zu Fall, zu bilden braucht. Wo der Parlamentarismus herrscht, wie insbes. in der repräsentativen Demokratie (s. Staat), wo also das Parlament den Gang der Regierung zu bestimmen, die Staatsgewalt zu handhaben hat, da wird das Bedürfnis, wenn irgend möglich, eine feste Parlamentsmehrheit zu haben, durchschlagend sein, und vollends in Großstaaten wird das Repräsentativsystem unbedingt vorgezogen werden.

Bei der Frage der Minderheits- (Minoritäten-) Vertretung oder, wie man lieber sagt, Proportionalvertretung, handelt es sich aber nicht hierum, nicht um jene gesellschaftlichen Interessengruppen, die als Minderheiten durch das Wahlsystem unterdrückt werden, sondern um die politischen Minderheiten, die durch die Abstimmung unterdrückt werden. Es ist lediglich an das gedacht, was auf der Oberfläche liegt und bei dem Kräftespiel der politischen Parteien des Parlamentarismus sich zeigt. Die verschiedenen politischen Richtungen messen sich im Wahlkampf gegeneinander. Hierbei nimmt man zum öftern wahr, daß der Zufall eine gewisse Rolle spielt. Eine Mehrheit von wenigen Stimmen kann genügen, um die Abgeordnetensitze eines ganzen Wahlkreises einer einzigen Partei in die Hände zu liefern, während die vielleicht ganz oder fast ganz ebenbürtige Gegenpartei leer ausgeht und wenigstens für das Wahlergebnis wie nicht vorhanden ist. Man hat dies nun als Ungerechtigkeit empfunden und gesagt, es könne sich hier doch nicht um eine theoretisch unlösbare Frage handeln, sondern nur um einen Mangel in der Wahleinrichtung. Dem Bestreben, diesem Mangel abzuhelfen, verdanken die verschiedenen, hier folgenden Systeme der Proportionalwahl ihre Entstehung. Eine Voraussetzung gilt für alle: die Wähler müssen stets eine Mehrheit von Abgeordneten zu wählen haben, nicht bloß einen.

1) System der beschränkten Stimmgebung (vote limité). Jeder Wahlzettel darf nur einen bestimmten Bruchteil der zu wählenden Abgeordnetenzahl enthalten, z.B. zwei Drittel. Dieser Bruchteil fällt der Mehrheit zu, der Rest der Minderheit. Dieses System hat seine großen Bedenken. Erstlich ist die Annahme des Bruchteils stets etwas Willkürliches. Entspricht sie den wirklichen Stärkeverhältnissen der Parteien nicht oder sind deren vollends mehr als zwei, so kann die eine oder andre Partei einen ungebührlichen Vorteil erlangen. Sodann hat es eine starke Mehrheit in der Hand, sich durch zweckmäßige Verteilung ihrer Wähler auf verschiedene Kandidaten doch alle Abgeordnetensitze zu sichern. Und endlich werden die Wähler da, wo eine Minderheit nicht vorhanden ist, genötigt, künstlich eine solche zu schaffen.

2) System der Stimmenhäufung (vote cumulatif, accumulé). Jeder Wähler hat so viel Stimmen, als Abgeordnete für den Wahlkreis zu wählen sind, und er kann seine Stimmen sämtlich Einem Kandidaten geben. So kann die Minderheit durch Stimmenhäufung eine Wahl ihrer Richtung durchsetzen. Die Minderheit ist hier wohl gegen Majorisierung gesichert, aber die Mehrheit kann sich bei der Stimmenverteilung verrechnen. Es hängt vom Zufall ab, ob ein Ergebnis herauskommt, das den Parteiverhältnissen entspricht.

3) Eine Kombination der beiden vorgenannten Systeme ist das System Burnitz-Varrentrapp, bei dem angenommen wird, daß der Wähler dem an erster Stelle stehenden Kandidaten eine ganze Stimme, dem an zweiter Stelle stehenden nur die halbe, dem an dritter nur ein Drittel u.s.f. geben wolle (System der Rangordnungsziffer).

4) Das Quotientensystem mit Einzelwahl (système du quotient, du chiffre d'élection, procédé du bulletin uninominal avec substituts). Dieses System ist von Thomas Hare in seinem ›Treatise on the election of representatives‹ (Lond. 1859, 4. Aufl. 1873) entwickelt und von John Stuart Mill eifrig verfochten worden. Hare wußte, als er sein Werk schrieb, nicht, daß sein System bereits wenige Jahre vorher in einem Staat zur Verwirklichung gelangt war. Dies war in Dänemark geschehen, wo zufällig ein bedeutender Mathematiker, Andrä, Minister geworden war. Dort erlangte es 1855 für die Reichsratswahlen Geltung und findet noch jetzt auf einen Teil der Landsthingswahlen (Erste Kammer) Anwendung. Nach Hares System wird die Zahl der Wähler durch die Zahl der Vertreter geteilt. Man erhält so die Stimmenzahl (den Quotienten), die ein Kandidat haben muß, um gewählt zu sein. Bei der Wahl selbst schreibt jeder Wähler einen Kandidaten an erster Stelle auf seinen Zettel und dann der Reihe nach an zweiter, dritter Stelle eventuelle Kandidaten (Substituten). Ist die Abstimmung vollzogen, so öffnet der Wahlvorstand die Zettel, so wie sie ihm in die Hand kommen. Von jedem Zettel wird nur Ein Name gezählt, und zwar zunächst jener, der an erster Stelle steht. Sobald ein Kandidat die Quotienten erreicht hat, ist er gewählt. Bei allen weitern Zetteln, die den Namen dieses Kandidaten an erster Stelle enthalten, wird der an zweiter Stelle aufgeschriebene Name gezählt etc. Auch dieses System hat Mängel. Vor allem spielt der Zufall, welche Zettel der Wahlvorstand zuerst in die Hand bekommt, eine Rolle. Sodann ist der Verwirrung unter den Wählermassen und endlos wiederholten Wahlgängen Tür und Tor geöffnet, zumal bei unsichern Stärkeverhältnissen der Parteien.

5) Das Quotientensystem mit Listenabstimmung (scrutin de liste avec répartition proportionnelle, système des têtes de liste). Die Listenwahl (s.d.) selbst beruht im Gegensatz zur Einzelwahl (scrutin individuel, umnominal) auf dem Gedanken, größere Teile des Staatsgebietes, wie z.B. in Frankreich die Departements, zu Wahlkreisen für mehrere Abgeordnete in der Weise zu machen, daß jeder Wähler so viel Abgeordnete wählen kann, als auf den Wahlkreis treffen. Die Listenwahl ist durch Gesetz vom 16. Juni 1885 in Frankreich wieder eingeführt worden. An die Listenwahl wird nun die Proportionalwahl in verschiedener Weise angeknüpft, entweder nach dem System der gebundenen oder der freien Liste. Im erstern Falle vollzieht sich die Sache so: jede politische Partei stellt ihre Kandidatenliste auf, und es erfolgt dann die Wahl. Bei Feststellung des Ergebnisses werden die Wahlzettel zunächst danach gezählt, auf welche Parteiliste sie lauten. Nach der Zahl der für jede Liste abgegebenen Zettel berechnet sich die Zahl der Abgeordnetensitze, die jeder Partei zukommen. Sodann ist zur Bestimmung der Personen der Abgeordneten zu schreiten. Das geschieht dadurch, daß als Gewählte diejenigen gelten, die innerhalb jeder Parteiliste die größte Stimmenzahl erlangt haben. Nach dem System der freien Liste oder Listenkonkurrenz kann der Wähler entweder aus der Liste, der er zustimmt, einzelne Namen streichen und andre dafür setzen, oder er kann sich aus den verschiedenen Listen eine eigne zusammensetzen (panaschieren, Panaschierbefugnis). Über die Freilisten vgl. Victor D'Hondt, Système pratique et raisonné de représentation proportionnelle (Brüssel 1882). Auch diese Systeme haben die namhaftesten Schwierigkeiten; die größte ist die Verteilung der Sitze unter die Parteien. Hierfür gibt es eine Mehrzahl sehr scharfsinniger Berechnungsarten.

Mißlich ist bei all diesen künstlichen Berechnungen auch, daß sie den Wählermassen schwer verständlich sind, während jeder die einfache Arithmetik von der absoluten Mehrheit begreift. Tatsächlich kommen auch, wo letztere entscheidet, politische Minderheiten dadurch immer einigermaßen zur Geltung, daß sie in dem einen oder andern Wahlkreis die Mehrheit erlangen. Für die Vertretung beachtenswerter gesellschaftlicher Minderheiten aber kann innerhalb des reinen Repräsentativsystems überhaupt nicht gesorgt werden; will man diesen Geltung verschaffen, so muß man dasselbe abändern.

In der Gesetzgebung ist die Proportionalwahl noch wenig verbreitet, dagegen wird sie in verschiedenen Ländern durch eine lebhafte Agitation vertreten. So besteht in England seit 1885 eine Proportional Representation Society, in Frankreich eine Société pour l'étude de la Représentation proportionnelle, die ausdrücklich die questions relatives à l'électorat von ihrem Programm ausschließt (von dieser erschien: ›La Représentation proportionnelle, études de législation et de statistique comparées‹, Par. 1888), in Belgien eine Association réformiste (von dieser erscheint: ›La Représentation proportionnelle, Revue mensuelle‹, Brüssel 1882 ff.); in der Schweiz ist eine sehr rührige Bewegung im Gange, so durch die Association réformiste in Genf, Professor Hagenbach-Bischoff in Basel (›Die Frage der Einführung einer Proportionalvertretung statt des absoluten Mehres‹, Basel 1888) u.a. In der Tat hat die Proportionalwahl, abgesehen von dem dänischen Oberhaus, auch in einigen Kantonen der Schweiz, wie Neuenburg, Tessin, Genf (Freilistensystem), Eingang gefunden; dagegen hat sich der schweizerische Bundesrat in einer bemerkenswerten Botschaft vom 30. Okt. 1883 ablehnend verhalten. Der Bundesrat hatte zwei Gutachten, von Hilty und Wille, erholt, beide Bern 1883 vom eidgenössischen Departement des Innern veröffentlicht. Auch in Belgien fand das System durch Gesetz vom 29. Dez. 1899 Eingang. Ebenso für die Staatswahlen in einigen argentinischen und brasilischen Einzelstaaten und in Tasmania. Beachtenswert ist, daß von den deutschen Staaten neuerdings Württemberg in seiner Wahlreform von 1906 wenigstens für die Wahl der 6 Abgeordneten der Stadt Stuttgart und der 17 Abgeordneten der zwei Landeswahlkreise die Listen- und Verhältniswahl eingeführt hat. Dagegen hat man bei der neuesten Regelung des Wahlrechts in Bayern (1906), trotzdem von sehr vielen Seiten das Proportionalsystem als das Ideal hingestellt wurde, von demselben Abstand genommen, weil es zu kompliziert, für große Wählermassen noch zu wenig erprobt sei, auch die Auswahl der Kandidaten zu stark den Parteileitungen überlasse, auch keine Einigkeit über die verschiedenen Arten des Proportionalwahlsystems bestand.

Das Urteil Seydels, daß dieses Wahlsystem eine Art geistigen Spielzeuges für Theoretiker und theoretisch veranlagte Politiker sei, wird durch die Tatsachen nicht bestätigt. Denn für die Kommunalwahlen wird es vielfach verwertet, so in Norwegen und Belgien. Und so neuerdings auch in Württemberg nach der Gemeinde- und Bezirksordnung vom 28. Juli 1906 für die Wahlen der unbesoldeten Gemeinderäte. In ganz Deutschland ist das System für die neuen Standesgerichte eingeführt, und zwar für die Gewerbegerichte fakultativ, für die Kaufmannsgerichte obligatorisch; bei den Wahlen zu den Krankenkassen des Krankenversicherungsgesetzes ist es zulässig. Ausdrücklich für zulässig erklärt ist es in Preußen für die Wahlen der Bergarbeiterausschüsse, der Knappschaftsältesten und Knappschaftsvorstände (Preußisches Berggesetz, in der Fassung der Novelle vom 18. Juni 1907, § 80 f., 179, 180).

Auch bei Aktiengesellschaften wäre gegenüber den Majorisierungen in den Generalversammlungen für die Verhältniswahl ein günstiger Boden gegeben. (Vgl. Tecklenburg in der ›Monatsschrift für Handelsrecht und Bankwesen‹, 14. Jahrg., Berl. 1905, S. 117 ff.) Auch sonst ist dem System noch eine große Zukunft vorauszusagen, so für die Schiedsgerichte in der Arbeiterversicherung, für Handels-, Handwerker-, Arbeiter-, Landwirtschaftskammern, für Kommunalverbände, Schulgemeinden, Kirchengemeinden, überhaupt für kleinere Wahlkörperschaften. Als ein Triumph des Gedankens der Proportionalwahl ist es auch zu betrachten, daß jüngst Bayern in der Verordnung vom 25. Febr. 1908 die Handelskammern und Handelsgremien betreffend, für die Wahlen zum Ausschuß der Handlungsgehilfen und technischen Angestellten die Verhältniswahl vorgeschrieben und bei den Wahlen zum Ausschusse der Kleingewerbtreibenden zugelassen hat.

Die Literatur ist bei dem Interesse, das diesem Gegenstande entgegengebracht wird, sehr groß. Vgl. Rosin, Minoritätenvertretung und Proportionalwahlen (Berl. 1892); Bernatzik, Das System der Proportionalwahl (in Schmollers ›Jahrbuch für Gesetzgebung‹, Bd. 17, S. 393 ff.); Gageur, Reform des Wahlrechts im Reich und in Baden (Freiburg 1893); Siegfried, Ein Votum zur württembergischen Verfassungsreform (Berl. 1898); Einhauser in der ›Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft‹ (Tübing. 1898, S. 720); Klöti, Die Proportionalwahl in der Schweiz (Bern 1901); Siller, Die Grundlagen und Zahlen der Verhältniswahl (aus dem ›Verwaltungsarchiv‹, Berl. 1903); Scheurlen im ›Preußischen Verwaltungsblatt‹, 1906, S. 409 ff.; G. Meyer, Das parlamentarische Wahlrecht (hrsg. von Jellinek, Berl. 1901); Tecklenburg, Die Proportionalwahl als Rechtsidee (Wiesbad. 1905) und Wahlfreiheit und Proportional-Listenkonkurrenz (das. 1905); Siegfried in ›Soziale Praxis‹, 1904, Nr. 52, in den ›Annalen des Deutschen Reiches‹, 1905, S. 677, und im ›Preußischen Verwaltungsblatt‹, 1902, S. 513 ff., 552 f.; Tecklenburg in der ›Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft‹, 1906, S. 341 ff.; Luschka, Die Verhältniswahl im deutschen Verwaltungsrecht (Heft 5 der ›Freiburger Abhandlungen auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts‹ (Karlsr. 1905). Vgl. auch Artikel Wahl.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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