Instinkt

Instinkt

Instinkt (lat. instinctus, »Antrieb«; Naturtrieb), das den Tieren eingeborne, von eigentlichen Verstandestätigkeiten unabhängige, als Naturtrieb bezeichnete Vermögen, gewisse Handlungen auszuführen, die uns als zweckmäßig, vorausberechnet, ja wohl gar als prophetisch erscheinen, weil sie der Erhaltung der Art, oft über den Tod des Individuums hinaus, förderlich sind, wozu indessen die aus dem augenblicklichen Zustand des Organismus entspringenden und unmittelbar wirkenden einfachen Triebe des Hungers, Durstes, der Fortpflanzung etc. für gewöhnlich nicht gerechnet werden. Die Instinkthandlungen der niedern Tiere bei der Erwerbung ihres Lebensunterhalts, beim Bau ihrer Wohnungen, in der Brutpflege u. Orientierung, in bestimmten Schutzgewohnheiten etc. erschienen ehemals so durchaus unbegreiflich, daß man, on jeder Erklärung verzweifelnd, die Tiere mit Cartesius als Maschinen betrachtete, in denen als Triebwerk »Gottes Vernunft« walte, sofern das unabänderliche Gefüge der Handlungen ihnen ein für allemal eingeboren sei. Eine ähnliche Auffassung verteidigten in neuerer Zeit, obwohl in sehr verschiedener Form, Bethe und Wasmann, sofern der erstere solche Tiere ebenfalls als bloße Reflexmaschinen an sehen wollte, denen Sehen, Riechen und Fühlen nur dienen sollten, um bestimmte Reflexe, oft komplizierter Art (z. B. Flucht-, Verteidigungs-, Krampf-, Eierschutz-, Selbstverstümmelungsreflexe etc.), auszulösen. Bethe zeigte auch, daß das sogen. Erkennen der Nestgenossen bei Ameisen und Bienen, die Feindseligkeit gegen fremde Arten lediglich auf dem sogen. Nestgeruch beruht, der, den einen (durch Abwaschen mit Alkohol) genommen und den andern mitgeteilt, sofort Freundschaft in Feindschaft und umgekehrt verwandelt. Daran ist manches richtig, und der Umstand, daß die Instinkte nicht unfehlbar sind, meist nur unter regelmäßigen Verhältnissen zum Ziele führen, ja nur in einer bestimmten Reihenfolge geübt werden können, daß sie anderseits leicht irreführen und den betreffenden Individuen zum Schaden gereichen, z. B. wenn Motten und andre Insekten ins Feuer fliegen, Aasfliegen durch nach verdorbenem Fleisch duftende Blumen angezogen werden oder Wandertiere durch ihren Trieb in ein Massengrab, z. B. die Lemminge in Flüsse und Meere geführt werden, scheint dafür zu sprechen. Allein anderseits ist es unstatthaft, mit Wasmann aus dem Fehlschlagen einzelner Instinkthandlungen unter nicht regelmäßigen Verhältnissen zu schließen, daß keine der Intelligenz höherer Tiere ähnliche Seelentätigkeit im I. zu finden sei. Genauere Beobachtungen zeigen, daß sowohl die Sinne als eine gewisse Überlegungskraft und Gedächtnis bei diesen Handlungen beteiligt sind, z. B. bei dem Orientierungssinn der Insekten, über den Lublock, Buttel-Reepen, Marchand u. a. Versuche angestellt haben. Sie zeigten, daß die Instinkte keineswegs unabänderlich sind, vielmehr sowohl durch äußere Umstände als durch eigne Überlegung des betreffenden Tieres abgeändert werden, wie denn einzelne Hummeln gelernt haben, den Honig statt auf legitimem Wege, durch Einbruch zu gewinnen und diesen illegitimen Weg zum I. erhoben haben. Entsprechend den Geisteskrankheiten der höhern Tiere gibt es auch krankhafte Instinkte, die auf einer fehlerhaften Entwickelung beruhen, auch wohl künstlich hervorgerufen werden können, wie z. B. der I. des Erdtümmlers, einer Taubenrasse, die sich bis zur Erschöpfung am Boden wälzt und seit Jahrhunderten durch sorgsame Zucht erhalten wurde, während man dieselbe krankhafte Neigung durch einen Stich in die Gehirnbasis erzeugen kann. Die durch Darwin herbeigeführte Naturauffassung hat zu einem vertieften Verständnis der Instinkte geführt. Man kann sie nach derselben als triebartig wirkende Leistungen eines unbewußten Gedächtnisses der Art betrachten, deren einzelne Stufen ebenso erworben und vererbt werden, wie die Stufen der körperlichen Entwickelung vom Keim an. Was sich der Gattung und Art im Laufe der Zeiten als zuträglich bewährt hat, wird ungeachtet einzelner Nachteile, solange es den Bestand der Art nicht in Frage stellt, durch natürliche Auslese und Erbschaft festgehalten und unter Umständen fortgebildet. Der im einzelnen Individuum zur Erscheinung kommende I. ist deshalb keine individuelle Fähigkeit, sondern ein eingebornes Besitztum der Gattung und Art, also sogen. Erbweisheit oder Gattungsverstand, so daß er, wenn nötig, gleich nach der Geburt oder Befreiung aus der Puppenhülle, die oft schon von der Larve vorbereitet wird, geübt werden kann. Den Anteil der Bewußtseinselemente erkennen wir, wenn Tiere unter veränderten Bedingungen ihre Lebensweise ändern, z. B. abweichende Nester bauen; eine Entwickelung des Instinkts ist überhaupt nur durch solche Leistungen einzelner, die in ihren Nachkommen wieder erscheinen, denkbar. Aber genau wie beim Menschen auch, können neuerworbene, aber oft geübte Tätigkeiten, nachher ohne Bewußtsein wiederholt, dem Automatismus des Körpers einverleibt, d. h. instinktmäßig werden, somit des bewußten Willensantriebs überhoben sein. Hinfort werden sie erblich und können durch äußere oder innere Reize wie andre Reflextätigkeiten im Körper erweckt und ausgelöst werden, wie z. B. die Selbstverstümmelung (s. d.) vieler Tiere, der Sauberkeitsinstinkt, die beide noch bei geköpften Tieren tätig bleiben. Wir sehen, wie derartig eingelernte und künstlich anerzogene Instinkte z. B. bei Jagdhunden deutlich, wenigstens in der Anlage, vererbt werden, so daß sie bei deren Nachkommen leichter als bei wilden Individuen entwickelt und zur Vervollkommnung gebracht werden können, wie anderseits solche Zuchtinstinkte durch Kreuzung mit wilden Rassen wieder verschwinden. Bei den niedern Wirbeltieren spielt z. B. ein chemischer Sinn, der sich in der vorwiegenden Entwickelung der sogen. Riechlappen des Gehirns ausprägt, als Erregungsmittel der Instinkte eine viel größere Rolle als der Gesichts- und Gehörssinn. Geselliges Leben und Brutpflege tragen zur Entwickelung der Instinkte bei, weil hierbei der Nachahmungstrieb (s. d.) geweckt wird. Dadurch erheben sich staatenbildende Termiten, Ameisen, Bienen, in den Instinktleistungen über ihre Klasse und zeitigen selbst auf Pflanzenzucht, Ernte, Viehzucht, Miliz, Gesundheitspolizei etc. gerichtete Instinkte. Bei allen solchen regelmäßigen Einrichtungen und dazu gehörigen Handlungen niederer Tiere, bis zu dem Aufsuchen gleichmäßig gefärbter schützender Ruheplätze, den Schutz- und Trutzbündnissen mit andern Tieren etc., muß man indessen annehmen, daß sie, wenn überhaupt mit Bewußtsein, so doch jedenfalls ohne Bewußtsein ihres Nutzens erfolgen. Mit dem Hinzutreten immer weiterer Bewußtseinselemente in die Handlungen wird das Wirkungsreich des Instinkts bei höhern Tieren immer weiter eingeschränkt, bis wir es im erwachsenen Menschen auf einen geringen Rest zurückgeführt sehen, der durch Vernunft und Willenskraft stark in Schranken gehalten wird. Vgl. Reimarus, Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Tiere (Hamb. 1760 u. ö.); Flourens, De l'instinct et de l'intelligence des animaux (4. Aufl., Par. 1861); Wundt, Vorlesungen über die Menschen- u. Tierseele (3. Aufl., Leipz. 1897) u. Grundzüge der physiologischen Psychologie (5. Aufl., das. 1902–03, 3 Bde. und Registerband); Darwins Werke und Kleinere Schriften (deutsch, das. 1886); Noll, Die Erscheinungen des sogenannten Instinkts (Frankf. 1876); Körner, I. und freier Wille (2. Aufl., Leipz. 1878); Schneider, Der tierische Wille (das. 1880); Romanes, Die geistige Entwickelung im Tierreich (das. 1885). Über die speziellen Instinkte der Ameisen, Bienen etc., vgl. (außer den einschlägigen Schriften von Lubbock, Huber, Fabre) Bethe in Pflügers »Archiv für Physiologie«, 1897 u. 1898; Was man, I. und Intelligenz im Tierreich (2. Aufl., Freiburg i. Br. 1899) und Vergleichende Studien über das Seelenleben der Ameisen und höhern Tiere (2. Aufl., das. 1900); v. Buttel-Reepen, Sind die Bienen Reflexmaschinen? (Leipz. 1900); Forel, Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen und einiger andrer Insekten (Münch. 1901); Ziegler, Der Begriff des Instinkts einst und jetzt (im 7. Supplementband zu den »Zoologischen Jahrbüchern«, Par. 1904). Vgl. auch den Artikel »Tierpsychologie«.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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