Gerhardt

Gerhardt

Gerhardt, 1) Paul, der hervorragendste geistliche Liederdichter des 17. Jahrh., geb. 12. März 1607 zu Gräfenhainichen in Sachsen, gest. 7. Juni 1676 in Lübben, wurde 1651 Propst zu Mittenwalde in der Mark und 1657 Diakonus an der Nikolaikirche zu Berlin. Als strenger Lutheraner eiferte er hier gegen die vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm angestrebte Union zwischen Lutheranern und Reformierten. Als er sich aber weigerte, dem Edikt vom 16. Sept. 1664, das beiden Parteien die gegenseitigen Verunglimpfungen von der Kanzel herab verbot, Folge zu leisten, ward er 1666 aus dem Lande gewiesen. Der Herzog Christian von Sachsen-Merseburg ernannte ihn 1669 zum Archidiakonus in Lübben. Von seinen 120 geistlichen Liedern (darunter: »Befiehl du deine Wege«, »Nun ruhen alle Wälder«, »O Haupt voll Blut und Wunden« etc., die in alle protestantischen Gesangbücher übergegangen sind) erschien die erste Ausgabe (u. d. T.: »Geistliche Andachten«) Berlin 1666; neue Ausgaben besorgten O. Schulz (das. 1842 und öfter), Ph. Wackernagel (6. Aufl., Gütersl. 1874), Bachmann (Berl. 1866), Goedeke (Leipz. 1877), Fr. Schmidt (das., Reclam) und Gerok (5. Aufl., das. 1893). J. G. Ebeling gab »Melodien zu Gerhardts Liedern« (Berl. 1666) heraus, worunter sich auch das Lied »Befiehl du deine Wege« befindet, wonach die Sage, G. habe dasselbe, nachdem er des Landes verwiesen, gedichtet, in nichts zerfällt. Gerhardts Lieder gehören zu den schönsten Blüten der protestantischen Kirchenpoesie und zu den besten deutschen Dichtungen des 17. Jahrh. überhaupt. Sein religiöses Gefühl ist von wahrhaft ergreifender Innigkeit und Wärme, dabei ist es zu ästhetischer Heiterkeit geläutert und hält sich frei von jener dumpfen Zerknirschung, die uns oft bei den geistlichen Lyrikern des 17. Jahrh. begegnet. Zugleich hütet sich G. in der Form vor den Künsteleien seiner Zeitgenossen und erfreut durch Fülle und Wohlklang. Vgl. Roth, Paul G. (2. Aufl., Lübben 1832); Langbecker, P. Gerhardts Leben und Lieder (Berl. 1841), kleinere Schriften von Bachmann und Richter (beide Leipz. 1876).

2) Karl Friedrich, Chemiker, geb. 21. Aug. 1816 in Straßburg, gest. daselbst 19. Aug. 1856, studierte in Karlsruhe, Leipzig und Gießen, war 1844–48 Professor in Montpellier, lebte dann in Paris und wurde 1855 Professor in Straßburg. G. war für die Entwickelung der theoretischen Chemie von hervorragender Bedeutung und zählt zu den Vorläufern der Strukturchemie. Er brachte die Typentheorie durch seine Theorie der Reste zur Geltung, präzisierte die Begriffe Molekül, Atom und Äquivalent und gelangte dadurch zur Verdoppelung des Atomgewichts mehrerer Elemente. Auch zeigte er, daß die Elemente im freien Zustande meist Verbindungen mehrerer Atome sind. Einen Teil seiner Arbeiten führte er in Gemeinschaft mit Laurent aus. Er schrieb: »Précis de chimie organique« (Par. 1844–45, 2 Bde.; deutsch von A. Wurtz, Straßb. 1844–46, 2 Bde., und von Rudolf Wagner, Leipz. 1854–58, 4 Bde.); »Précis d'analyse chimique« (Par. 1855). Vgl. Grimaux und Charles Gerhardt, Charles G., sa vie, son œuvre, sa correspondance (Par. 1900).

3) Karl Immanuel, Mathematiker, geb. 2. Dez. 1816 in Herzberg, gest. 5. Mai 1899 in Halle, wurde 1876 Direktor des Gymnasiums in Eisleben und lebte seit seiner Pensionierung (1891) in Halle, Mainz und Graudenz. Er schrieb: »Die Entdeckung der höhern Analysis« (Halle 1855) u. »Geschichte der Mathematik in Deutschland« (Münch. 1877); auch gab er Leibniz' mathematische Werke (Berl. u. Halle 1849–62, 7 Bde.; Bd. 1 in 2. Aufl. 1898) sowie dessen philosophische Werke (Berl. 1875–90, 7 Bde.) heraus.

4) Dagobert von, unter dem Pseudonym Gerhard von Amyntor bekannter Schriftsteller und Dichter, geb. 12. Juli 1831 in Liegnitz, besuchte das Gymnasium in Glogau und trat 1849 in Breslau in die Armee ein. Er versuchte sich auf literarischem Gebiet mit militärischen Arbeiten (»Der Antagonismus Frankreichs und Englands vom politisch-militärischen Standpunkt«, Berl. 1860) und war 1867–68 dem Generalstab in Berlin beigegeben. 1864 und 1870/71 nahm G. an den Feldzügen gegen Dänemark und Frankreich teil, in deren ersterm er (bei den Düppeler Schanzen) schwer verwundet wurde. Gegenwärtig lebt er als Major z. D. in Potsdam. Als Dichter trat G. erst in gereiftem Alter vor die Öffentlichkeit. Zwar gingen seine ersten Gaben: »Hypochondrische Plaudereien« (Elberf. 1875, 4. Aufl. 1885) und »Randglossen zum Buch des Lebens« (das. 1876), ohne sonderliche Wirkung vorüber; dagegen fanden die Dichtung »Peter Quidams Rheinfahrt« (Stuttg. 1877) und die Novelle »Der Zug des Todes« (Elberf. 1878) schon allgemeinere Beachtung; in beiden Werken offenbarten sich ein gut geschultes Talent und eine tüchtige und edle Gesinnung. Besonders stark tritt die konservative und christgläubige Richtung Gerhardts zutage in den »Liedern eines deutschen Nachtwächters« (Brem. 1878, 2. Aufl. 1901) und der Gedichtsammlung »Der neue Romanzero« (Hamb. 1881, 2. Aufl. 1883). Außerdem veröffentlichte er das Epos »Der Priester« (Bresl. 1881); »Hie Waibling. Poetisches Tagebuch eines fraktionslosen Deutschen« (Leipz. 1886; 5. Aufl., Bresl. 1901); die Novellen: »Eine rätselhafte Katastrophe« (Gotha 1879, 2. Aufl. 1890), »Im Hörselberg« (Leipz. 1881), »Drei Küsse« (Stuttg. 1883), »Caritas« (Leipz. 1885), »Der Veteran« (Berl. 1892). »Gewissensqualen« (das. 1895), »Röntgenstrahlen« (Bresl. 1902) und »Die Cis moll-Sonate«, gegen Tolstoi gerichtet (16. Aufl., Leipz. 1899); ferner die Skizzen: »Auf der Bresche« (Berl. 1879); »Eine moderne Abendgesellschaft« (über die Judenfrage, das. 1881); »Für und über die deutschen Frauen. Neue hypochondrische Plaudereien« (Hamb. 1883, 2. Aufl. 1889); eine neue Folge der »Hypochondrischen Plaudereien« (3. Aufl., Dresd. 1890), »Der Plauderer an der Jahrhundertwende« (Elberf. 1899); endlich die Romane: »Das bist Du!« (Berl. 1882, 3 Bde.) »Ein Problem« (Basel 1884); »Vom Buchstaben zum Geiste« (Leipz. 1886, 2 Bde.), »Eine heilige Familie« (das. 1888), »Die Gisellis« (das. 1888, 2 Bde.), »Eine Mutter« (Bresl. 1890); »Frauenlob, ein Mainzer Kulturbild aus dem 13. und 14. Jahrhundert« (das. 1885, 2 Bde., 4. Aufl. 1898); »Gerke Suteminne. Ein märkisches Kulturbild aus der Zeit des ersten Hohenzollern« (das. 1887, 3 Bde.; 3. Aufl. 1890); »Ein Sonderling« (Berl. 1897), »Pension Streitleben« (das. 1897), »Ein Kampf um Gott« (Bresl. 1903). Seine Autobiographie lieferte er in dem »Skizzenbuch meines Lebens« (Bresl. 1893–98, 2 Bde.).

5) Karl, Mediziner, geb. 5. Mai 1833 in Speyer, gest. 21. Juli 1902 zu Gamburg in Baden, studierte seit 1850 in Würzburg, ward 1858 Assistent Griesingers in Tübingen, habilitierte sich 1860 in Würzburg, wurde 1861 Professor in Jena, 1872 in Würzburg und 1885 an Frerichs Stelle in Berlin. G. hatte einen hohen Ruf als klinischer Lehrer und als Direktor der medizinischen Klinik; er galt als bedeutender Diagnostiker, als Autorität besonders in Lungen-, Kehlkopf- und Kinderkrankheiten und besaß eine ausgedehnte konsultative Praxis. Er arbeitete über den Kehlkopfkrupp und über den Stand des Zwerchfells, über Diagnose und Behandlung der Stimmbandlähmung, über die Technik der Kehlkopfspiegelung, über Kehlkopfgeschwülste etc., dann über die Krankheiten der Brustorgane (Gerhardtscher Schallwechsel), über Gelbsucht, Unterleibstyphus, Gefäßneurosen etc., über den Stoffwechsel und seine Störungen. Er schrieb: »Der Kehlkopfskroup« (Tübing. 1859); »Der Stand des Diaphragmas« (das. 1860); »Lehrbuch der Kinderkrankheiten« (das. 1860; 5. Aufl. von Seifert, 1899, 2 Bde.); »Lehrbuch der Auskultation und Perkussion« (das. 1866; 6. Aufl. 1897–1900, 2 Bde.); »Handbuch der Kinderkrankheiten« (mit andern, das. 1877–96, 6 Bde. und 3 Nachträge); »Die Pleura-Erkrankungen« (in der »Deutschen Chirurgie«, Stuttg. 1892); »Kehlkopfsgeschwülste und Bewegungsstörungen der Stimmbänder« (in Nothnagels »Pathologie und Therapie«, Wien 1896); »Die syphilitischen Erkrankungen des Kehlkopfes und der Luftröhre« (das. 1898); »Therapie der Infektionskrankheiten« (mit Dorendorf, Grawitz u. a., Berl. 1902). Auch war er Mitherausgeber der »Zeitschrift für klinische Medizin« (Berlin).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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