- Entwickelungsgeschichte
Entwickelungsgeschichte (Ontogenie; hierzu Tafel »Entwickelungsgeschichte I« in Farbendruck, mit Textblatt, und Tafel II u. III mit Deckblättern), die Wissenschaft von der Hervorbildung der Pflanzen und Tiere aus dem Ei bis zur Erlangung der definitiven Gestalt, umfaßt nicht nur die Embryologie (s. Embryo), sondern auch die spätern Fortbildungen. In der E. standen sich vor allem zwei Theorien gegenüber, die bis zur Mitte des 18. Jahrh. geltende Evolutions- oder Präformationstheorie, welche die Entwickelung auf ein bloßes Entfalten der bereits im Ei vorgebildeten Teile zurückführte und daher auch Einschachtelungstheorie genannt wurde, indem man von spätern auf frühere Generationen zurückging, die jene in ihren Keimen schon vorgebildet enthielten. Je nachdem dabei auf die Eier oder »Samentierchen« Gewicht gelegt wurde, unterschied man die Anhänger dieser Theorie als Ovulisten und Animalkulisten. Dieser Theorie steht die hauptsächlich von K. F. Wolff in seiner »Theoria generationis« 1759 vertretene Epigenesis- oder Postformationstheorie gegenüber, nach welcher der Embryo infolge einer Reihe von Neubildungen entsteht, die auf die Befruchtung des Eies folgen. Wolffs lichtvolle Ausführungen erlangten zunächst keine allgemeine Anerkennung, zumal die durch Oken vertretene naturphilosophische Richtung die hohe Organisation des menschlichen Körpers als Zielpunkt der tierischen Entwickelung ansah und die niedern Tiere gewissermaßen als Hemmungsbildungen, als auf einer niedern Stufe zu diesem Ziel stehen geblieben betrachtete. Diese außerdem durch Rudolphi, in Frankreich durch Etienne Geoffroy de Saint-Hilaire und Serres verteidigte sogen. Hemmungstheorie setzte die Einheit des Planes sämtlicher Tiere voraus und mußte erst durch C. E. v. Baer und Cuvier widerlegt werden, bevor das Studium der E. gedeihen konnte. Ihr Aufschwung begann mit den von Döllinger in Würzburg angeregten Forschungen von Pander und Baer, durch welche die Keimblättertheorie gewonnen und speziell von Baer zum erstenmal die Entwickelung durch alle Stadien und in allen Einzelheiten genau verfolgt wurde, weshalb er mit Recht als der »Vater der E.« bezeichnet wird. Das Resultat dieser Untersuchungen war, daß sich nicht alle Tiere nach einheitlichem Plan entwickeln, daß die Entwickelung aber bei Angehörigen jeder Abteilung stets vom Allgemeinen ins Spezielle geht, und daß sich zuerst die Kennzeichen der Klasse, dann die der Ordnung und hierauf nacheinander die der Familie, Gattung und Art ausbilden, also beim Hühnchen zuerst nur das Wirbeltier, dann der Vogel, hierauf der Hühnervogel und zuletzt das Huhn erkennbar wird. Damit blieben aber jene der Okenschen Hemmungstheorie zur Stütze dienenden Tatsachen unerklärt, wonach höhere Tiere gewisse Entwickelungszustände durchlaufen, die bei niedern Tieren bleibende sind, also z. B. die Kiemenatmung des später lungenatmenden Frosches. Diese Tatsachen, wie besonders auch das Auftreten von Kiemenspalten bei den höhern Wirbeltieren und andre Einrichtungen konnten erst durch die vor allem von Charles Darwin vertretene Deszendenztheorie erklärt werden, und hier waren es Huxley, O. Schmidt, Fritz Müller, Haeckel, Weis mann u.a., die bald den Zusammenhang darlegten. In zweifellosester Weise gelang dies Fritz Müller (1865) durch seine Studien über die Entwickelung der Krebse, indem er zeigte, daß Arten aus den verschiedensten Krebsfamilien, die im ausgewachsenen Zustand nur eine recht entfernte Verwandtschaft und sehr geringe Körperähnlichkeit miteinander zeigen, wie Blatt-, Ruder-, Rankenfüßer und sogar die höhern, zehnfüßigen Krebse, anfangs in fast gleicher Gestalt als sogen. Nauplius-Larve erscheinen (Tafel I, Fig. 2, 3, 4 u. 5). Aus dem Auftreten der letztern bei so verschiedenartigen Krebsen war zu schließen, daß diese von Formen herstammen möchten, die dem Nauplius ähnlich waren, daß wir es in ihm also mit der Stammform der Krebse zu tun haben. Besonders lehrreich erscheint dieser Schluß bei solchen Krebsen, die infolge ihres parasitischen Lebens die Krebsgestalt völlig verloren haben und ebenfalls die Nauplius-Larve aufweisen (Tafel I, Fig. 4 u. 5, a u. b, s. auch Entartung). Auf diese Tatsachen begründete Fritz Müller die Folgerung, die Haeckel unter dem Namen des biogenetischen Grundgesetzes kurz dahin formuliert hat: die E. des Individuums (Ontogenesis) ist die abgekürzte Wiederholung seiner Stammesgeschichte (Phylogenesis). Dieser Schluß hat im Laufe der Jahre zahlreiche Bestätigungen erfahren und das Studium der E. zu einer wichtigen Erkenntnisquelle für die Ermittelung der Abstammung und Verwandschaft der Tiere gemacht.
Freilich ist diese Quelle eine nicht ungetrübte und daher nur mit großer Vorsicht zu benutzen, da die Entwickelung eines Individuums naturgemäß nicht mehr alle Stadien der Phylogenie durchlaufen kann, sondern verkürzt werden und einen möglichst geraden Weg vom Ei bis zum fertigen Tier einschlagen muß, wobei sie mannigfache Veränderungen (nach Haeckel Fälschungen der Stammesgeschichte, Kainogenesis) erfährt.
Wie an der Wurzel des Tierstammes als niederste Wesen die einzelligen Tiere stehen, so beginnt auch die Entwickelung des Individuums mit der Zelle, dem Ei. Nach dessen Befruchtung (s. d.) erfolgt die Furchung oder Segmentation, die in einer Teilung des Eies in 2‚ 4, 8, 16 etc. Zellen (Blastomeren) besteht, wenn es sich um eine totale Furchung handelt (Fig. 1), wie sie den holoblastischen Eiern zukommt. Die Furchung ist äqual bei ungefähr gleich großen Zellen und inäqual, wenn die Zellen des obern (animalen) Pols kleiner als die des untern (vegetativen) Pols sind (Fig. 2). Die Unterschiede in der Furchung kommen davon her, daß die Anhäufung des Nährdotters am vegetativen Pol eine stärkere ist und infolgedessen die Entwickelung am animalen Pol rascher fortschreitet.
Im extremen Maße findet dies bei den Eiern mit partieller Furchung statt (den sogen. meroblastischen Eiern), bei denen diese nur an einer dünnen Plasmaschicht des animalen Pols (der Keimscheibe) abläuft und das übrige Ei ungefurcht bleibt (diskoidale Furchung, Fig. 3), obwohl später noch eine zellige Zerteilung des Dotters (Dotterfurchung) folgen kann. Endlich ist noch die superfiziale Furchung als zweiter Typus der partiellen Furchung zu unterscheiden (Fig. 4), indem die im Eiinnern entstandenen Zellen an die Oberfläche rücken und hier die Keimhaut (das Blastoderm) bilden, während das Innere vom Dotter erfüllt und ungefurcht ist.
Als Resultat der totalen Eifurchung entsteht ein Haufen ungefähr gleichgroßer Zellen (Maulbeerform, Morula, Fig. 5 A); im Innern entsteht die Furchungshöhle, und dieses von einer einschichtigen Zellenlage gebildete Stadium, das als Flimmerlarve frei schwimmen kann, nennt man die Blastula (Fig. 5 B, Blastaea, Planula).
Aus ihr geht durch Einstülpung des einen Teils die (Invaginations-) Gastrula, die nunmehr zweischichtige Keimblase (Fig. 5 C, D, Becherkeim, Darmlarve), hervor, die als Grundform der Entwickelung und Ahnenform aller mehrzelligen Tiere eine wichtige Rolle gespielt hat (Haeckels Gastraea-Theorie); tatsächlich wird dieses zweischichtige Embryonalstadium bei allen größern Abteilungen des Tierreichs angetroffen, in vielen Fällen auch als bewimperte freischwimmende Larve. Die Bedeutung der Gastrula als Ahnenform wird von andrer Seite bestritten und die große Verbreitung des zweischichtigen Keimes nur aus mechanischen Gründen erklärt.
Die beiden Zellschichten der Gastrula (Fig. 5 D) entsprechen den primären Keimblättern, dem Außen- oder Hautblatt (Ektoderm oder Ektoblast) und dem Innenblatt (Entoderm oder Hypoblast); sie bilden die Grundlage aller weitern Entwickelungsvorgänge, und durch ihre weitere Differenzierung (Zellwucherung, Verdickung, Faltenbildung) entstehen die Gewebe und Organe des ausgebildeten Tieres und zwar so, daß aus dem Ektoderm die Körperbedeckung, das Nervensystem und die Sinnesorgane hervorgehen (Hautsinnesblatt), während sich aus dem Innen- oder Magenblatt der Mitteldarm und seine Anhangsdrüsen bilden. Den Entodermsack nennt man auch Urdarm, seine Höhlung die Urdarmhöhle (Archenteron) und seine Mündung nach außen den Urmund (Blastoporus). Huxley wies 1849 die Homologie der beiden primären Keimblätter, d.h. ihre Gleichwertigkeit durch alle Tierklassen nach und zeigte, daß der Körper der meisten Pflanzentiere zeitlebens nur aus diesen beiden Zellenschichten und deren Bildungen besteht. Weiterhin tritt zwischen ihnen noch ein mittleres, sekundäres Keimblatt, das Mittelblatt (Mesoderm), auf, das sich bei manchen Tieren in zwei Blätter (Hautfaser- und Darmfaserblatt) spaltet und so die Leibeshöhle (das Cölom) in sich schließt; aus ihm gehen durch weitere Differenzierung der Zellschichten zumeist Bindegewebe, Muskeln, Gefäße, Skeletteile, sowie auch der exkretorische und Genitalapparat hervor. Über den Ursprung und die Beziehungen sowie die weitern Umbildungen der Keimblätter haben Remak, Alex. Kowalewsky, Haeckel, E. van Beneden, Balfour, Ray Lankester und namentlich die Gebrüder Hertwig wie auch viele andre Forscher aufklärend gearbeitet.
Die Entwickelungsvorgänge der einzelnen Abteilungen des Tierreichs gestalten sich äußerst mannigfaltig. Die im ausgebildeten Zustand sehr differenten Tiere können viel sach von recht ähnlichen Entwickelungsstadien ausgehen. Dies gilt z. B. auch für die Vertreter der höhern Wirbeltierklassen, so daß die Embryonen der Reptilien, Vögel und Säugetiere auf gewissen Stadien kaum zu unterscheiden sind (Fig. 6). Ähnliches gilt für die im ausgebildeten Zustand äußerst different gestalteten Rochen und Haie (Tafel I, Fig. 7 u. 8), und auch die unsymmetrischen Plattfische gehen von Stadien aus, die denen andrer, symmetrisch gestalteter Fische ganz ähnlich sind (Tafel I, Fig. 1), indem die Augen zu beiden Seiten des Kopfes stehen, bis dann eine Seite sich zur Oberseite ausbildet und das Auge der andern Seite hinüber wandert (Tafel I, Fig. 1).
Eine starke Komplikation der E. ergibt sich daraus, daß viele Tiere nicht direkt die Form der ausgebildeten Tiere annehmen, sondern in ganz abweichender (Larven-) Gestalt aus dem Ei schlüpfen (s. Metamorphose). Einige solche Fälle zeigt die Tafel I (Fig. 2 bis 6), andre mindestens ebenso abweichende Larvenformen finden sich auf den beiden Tafeln II u. III, woraus man erkennt, daß diese Erscheinung von den niedersten (Schwämmen und Cölenteraten, Fig. 1–5, 7 u. 9) bis zu sehr hochstehenden Tieren (Wesch- und Manteltieren, Fig. 14, 16 u. 17) verbreitet ist; sie findet sich aber auch noch bei den Wirbeltieren (Fisch- und Amphibienlarven). Über die weitere E., besonders der höhern Wirbeltiere, s. Embryo und über die E. der eierlegenden Tiere s. Ei. Experimentale E. s. Entwickelungsmechanik. Vgl. Wolff, Theoria generationis (Halle 1759); v. Baer, E. der Tiere (Königsb. 1828–37, 2 Bde.); Remak, Untersuchungen über die Entwickelung der Wirbeltiere (Berl. 1850–55); Rathke, E. der Wirbeltiere (Leipz. 1861); Balfour, Handbuch der vergleichenden Embryologie (deutsch, Jena 1880–81, 2 Bde.); Korschelt und Heider, Lehrbuch der vergleichenden E. der wirbellosen Tiere (das. 1890–93; 2. Aufl. 1902–1903); Marshall, Vertebrate embryology (Lond. 1893); O. Hertwig, Lehrbuch der E. des Menschen und der Wirbeltiere (7. Aufl., Jena 1902); »Handbuch der vergleichenden und experimentellen Entwickelungslehre der Wirbeltiere« (mit Barfurth, Braus, Bühler u.a. hrsg. von O. Hertwig, das. 1901 ff.); Bergh, Vorlesungen über allgemeine Embryologie (Wiesb. 1895); Haeckel, Anthropogenie, E. des Menschen (5. Aufl., Leipz. 1903); Kölliker, E. des Menschen (2. Aufl., das. 1879); O. Schultze, Grundriß der E. des Menschen und der Säugetiere (das. 1897); His, Unsre Körperform (das. 1874); Derselbe, Anatomie menschlicher Embryonen (das. 1880–85, 3 Tle.).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.