Entwickelungsmechanik

Entwickelungsmechanik

Entwickelungsmechanik (Entwickelungsphysiologie, experimentelle Entwickelungsgeschichte) ist die Lehre von den Ursachen der organischen Gestaltungen. Sie sucht die Entstehung der Form der Organismen und ihrer einzelnen Teile zu erklären, d.h. ihre mechanischen Bedingungen aufzudecken, die Kräfte oder Energien zu ermitteln, durch die sie veranlaßt werden, und die Gestaltungsvorgänge der Entwickelung auf die ihnen zu Grunde liegenden Naturgesetze, also auf die durch diese Gesetze bezeichneten Wirkungsweisen zurückzuführen. Die Entwickelungsgeschichte verfuhr bisher zumeist rein deskriptiv; sie beschäftigte sich lediglich mit der Entstehung und Umbildung der Formen, ohne zu erörtern, aus welchen mechanischen Gründen gerade die eine Form entstehen muß, die Entstehung oder Fortbildung andrer aber ausgeschlossen ist. In ihrer Gestalt als E. tritt die Lehre von der Formbildung der Organismen in die Reihe der kausalen Disziplinen ein; demgemäß ist ihr Forschungswerkzeug nicht mehr allein die Beobachtung, sondern vor allem das Experiment, und zwar das analytische, nur einzelne Faktoren variierende Experiment. Liegen die eine Gestaltung bewirkenden Faktoren in dem gestalteten Teile selber, so ist diese Gestaltung Selbstdifferenzierung, andernfalls abhängige Differenzierung. Dementsprechend entwickeln sich bei einigen Tieren isolierte erste Furchungszellen des Eies zu halben Embryonen, bei andern Tieren zu ganzen Embryonen, so daß man aus einem Ei zwei Tiere machen kann (s. auch Postgeneration). Durch Einwirkungen von Salzen können auch unbefruchtete Eier zur Entwickelung veranlaßt werden. Von einfachen physikalischen Wirkungsweisen kommt besonders der Oberflächenspannung und der Osmose gestaltende Bedeutung zu. Erstere bewirkt z. B. die von Roux entdeckte Anziehung der Furchungszellen gegeneinander, den Cytotropismus. Eins der wichtigsten Kapitel der E. ist die Lehre von der funktionellen Anpassung, d.h. von der Selbstgestaltnug der Formen durch die Wirkung des Gebrauchs. Auf dieses Prinzip läßt sich z. B. die Gestalt der Gelenke, die merkwürdige Balkenstruktur der spongiösen Substanz der Knochen, die Gestalt der Muskeln zurückführen. Das Experiment zeigt, wie unter geänderten mechanischen Bedingungen auch die Form sich ändert und den neuen Verhältnissen sich anpaßt. So ändert sich z. B. die den bestehenden Beziehungen entsprechende Form eines Muskels, wenn man auf operativem Wege seinen Angriffspunkt am Knochen andert, ihn z. B. statt an dem ihm zukommendem langen Hebelarm an einem künstlich verkürzten sich ansetzen laßt; die neue Form entspricht den neuen physikalischen Bedingungen. Außer der Entstehung der organischen Formen gehört auch die kausale Erklärung ihrer Erhalt ung und Rückbildung in den Forschungskreis der E.; sehr wertvolle Ergebnisse verdankt sie ferner den Untersuchungen über die Regeneration oder Wiedererzeugung verloren gegangener, bez. auf experimentellem Weg entfernter Organe oder Organteile. Da die Funktion der Teile an ihre Form gebunden ist, wie die Form an die Funktion, so verspricht die E. auch den sich wesentlich mit den Verrichtungen der Organe und der Organismen beschäftigenden Zweigen der Physiologie für die Zukunft wertvolle Anregungen und Bereicherungen. Vgl. W. Roux: Die E. der Organismen (Wien 1890), Gesammelte Abhandlungen über E. der Organismen (Leipz. 1895, 2 Bde.), Programm und Forschungsmethoden der E. (das. 1897); Driesch: Die mathematisch-mechanische Betrachtung morphologischer Probleme der Biologie (Jena 1891), Analytische Theorie der organischen Entwickelung (das. 1894) und Resultate und Probleme der Entwickelungsphysiologie der Tiere (in den »Ergebnissen der Anatomie und Entwickelungsgeschichte«, Wiesb. 1899); Barfurth, Regeneration und Involution (ebenda, 1891–97); Morgan, Regeneration (Lond. 1901), Korschelt u. Heider, Lehrbuch der vergleichenden Entwickelungsgeschichte, allgemeiner Teil (Jena 1902); Maas, Einführung in die experimentelle Entwickelungsgeschichte (Wiesb. 1903); »Archiv für E. der Organismen« (hrsg. von Roux, seit 1894).


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