- Ringelwürmer
Ringelwürmer (Gliederwürmer, Anneliden, Annulata, Annelides), die höchststehende Klasse der Würmer, Tiere mit gestrecktem, rundem oder abgeplattetem Körper, der durch eine Anzahl in die Leibeshöhle vorspringender Scheidewände (sogen. Dissepimente) in meist schon von außen sichtbare Segmente gegliedert ist (s. Abbildung).
Die Zahl der Körperringe ist bei den einzelnen Arten sehr verschieden und schwankt zwischen wenigen und sehr vielen, bis zu mehreren hundert. Die R. bilden ein gutes Beispiel für die homonome Gliederung des Körpers, die Körperringe sind einander fast gleich, und jeder folgende stellt mehr oder weniger die Wiederholung des vorhergehenden dar. Dies gilt sowohl für die äußere wie innere Organisation, d. h. die Körperanhänge sind ziemlich übereinstimmend (s. Abbildung), und im Innern der Segmente wiederholt sich der gleiche Abschnitt des Darmes, Nervensystems, der Blutgefäße und Nierenschläuche. Die ersten Glieder sind in der Regel durch den Besitz von Augen und Fühlern, Mund und Gehirn ausgezeichnet, auch innerlich anders gebaut und können daher als Kopf bezeichnet werden; ebenso hat das Endsegment des Tieres mit dem After eine besondere Form. Mit dieser Gliederung, wie sie sich im innern Bau ausspricht, braucht aber die äußere Ringelung, die den Ringelwürmern ihren Namen gegeben hat, nicht übereinzustimmen; beim Blutegel z. B. sind die Ringe der Haut sehr viel zahlreicher als die wirklichen Segmente. Die Oberhaut ist gewöhnlich weich; unter ihr liegt die Muskulatur in Gestalt eines Schlauches aus Längs- und Ringfasern, durch dessen Tätigkeit sich der Wurm verlängern und verdünnen oder verkürzen und verdicken, somit auch kriechen kann. Außerdem dienen zur Fortbewegung Saugnäpfe (beim Blutegel) oder Borsten, die direkt in der Haut stecken, oder auf eignen Höckern (Fußstummeln, Parapodien) angebracht sind, die man als Vorläufer der Gliedmaßen höher organisierter Tierformen, besonders der Gliedertiere, ansieht. Der Mund liegt vorn auf der Bauchseite des Kopfes und führt in einen Schlundkopf, der kräftige Kiefer haben und als Rüssel vorstülpbar sein kann; auf diesen folgt der Schlund und Darm, der oft zwischen je zwei Segmenten eingeschnürt, also im Segment ausgetrieben ist. Der After befindet sich ganz hinten, bei manchen Arten mehr nach der Rückenseite zu. Das Gefäßsystem besteht aus zwei Längsgefäßen, die am Bauch und Rücken verlaufen, kontraktil sein können und zuweilen durch Quergefäße miteinander verbunden sind. Besondere Atmungswerkzeuge (Kiemen) haben die meisten Meereswürmer. Das Nervensystem besteht aus dem Gehirn über dem Schlund und einem Bauchstrang, der in jedem Segment gewöhnlich zu einem Paar Ganglien anschwillt. Fast alle R. haben Augen, manche auch Gehörbläschen und Fühler; Polyophthalmus (»Vielauge«) besitzt Augen auf den Seiten jedes Segments, während sie sonst nur am Kopf angebracht sind. Die Augen sind einfach (s. Tafel »Auge I«, Fig. 1) oder komplizierter gebaut und dann sogen. Kamera-Augen wie bei den Alciopiden. Von kompliziertem Bau sind meist die Nierenschläuche (Nephridien), von denen fast jedes Segment ein Paar hat (daher Segmentalorgane); sie dienen häufig auch zur Beförderung der Eier oder des Samens nach außen. Die Fortpflanzung ist teils ungeschlechtlich, teils geschlechtlich. Bei der erstern, die namentlich bei kleinern Arten vorkommt, bildet sich für eine bestimmte Anzahl von Segmenten ein besonderer Kopf, und dann löst sich der junge Wurm ohne weiteres ab, oder es sprossen zwischen dem letzten und vorletzten Segment des alten Tieres neue Segmente mit Kopf, so daß bei Wiederholung dieses Prozesses zuerst eine Kolonie von Würmern hintereinander entsteht, die sich später voneinander trennen. Viele R. sind Zwitter. Die Eierstöcke und Hoden werden erst zur Zeit der Geschlechtsreife umfangreich; bei den Blutegeln gelangen ihre Erzeugnisse direkt nach außen, bei den meisten Ringelwürmern hingegen werden sie in die Leibeshöhle entleert und von dort durch die Segmentalorgane aus dem Körper geschafft. Die Entwickelung erfolgt in einzelnen Fällen in besondern Kokons und verläuft dann gewöhnlich direkt; gelangen dagegen die Eier frei in das Wasser, so tritt Metamorphose ein, die unter Vermittelung einer pelagischen, zarten und durchsichtigen Larve von Glockenform, der sogen. Trochophora (s. Tafel »Entwickelungsgeschichte II«, Fig. 8), verläuft. Lebendig gebären nur sehr wenige Arten. Viele R. können verloren gegangene Stücke des Körpers, ja sogar den Kopf mit Gehirn etc. wieder ersetzen. Die R. leben in feuchter Erde (Regenwurm), im Schlamm oder im Wasser. Namentlich reich an ihnen ist das Meer. Meist nähren sie sich von tierischer Kost; einzelne sind sogar zeitweilig Parasiten (Blutegel). Man teilt sie in zwei Gruppen: 1) Borstenwürmer (Chätopoden) und 2) Blutegel (Hirudineen), rechnet aber zumeist auch noch 3) die Gephyreen (Sternwürmer, s. d.) hinzu, die sich in vielen Beziehungen an die Borstenwürmer anschließen.
Die Borstenwürmer (Chaetopoda) besitzen bewegliche Borsten der mannigfachsten Gestalt (Haken, Nadeln, Pfeile, Stacheln etc., s. die Abbildungen auf Tafel »Würmer I«); die meisten Arten sind getrennten Geschlechts; in einzelnen Fällen sind sich Männchen und Weibchen so unähnlich, daß man sie früher wohl besondern Gattungen zugeteilt hat. Nach ihrer Beborstung lassen sie sich in zwei Gruppen bringen, die der Oligochäten (Wenigborster) und die Polychäten (Vielborster). Erstere sind Zwitter, ermangeln der Kiemen, Fühler, Fußstummel und Kiefer, besitzen als Augen nur Pigmentflecke, nähren sich meist von Pflanzen und entwickeln sich direkt. Sie finden sich im süßen Wasser, in Bächen, Quellen, auch in Brunnen und stehenden Gewässern und werden dann als Limikolen bezeichnet; hier sind die Gattungen Chaetogaster, Naïs, Tubifex, Stylaria (s. Tafel »Süßwasserfauna II«, Fig. 2) zu nennen. Außerdem leben sie in der Erde (Terrikolen); zu letztern gehören vor allem der Regenwurm (Lumbricus) und verwandte Gattungen (s. Regenwurm). – Die Polychäten (s. die Abbildung, S. 947, u. Tafel »Würmer I«, Fig. 2, 4, 8, 13, 16–20 u. 22) sind fast alle getrennt-geschlechtliche Meeresbewohner, besitzen Kiefer, Fußstummel mit allerlei Fäden (Cirren), Schuppen (Elytren) und Borsten, vielfach auch Kiemen etc., fressen hauptsächlich Tiere, die sie direkt erjagen (Raubanneliden); sie entwickeln sich mit Metamorphose. Die mit Wimpern versehene Larve (Trochophora; s. Tafel »Entwickelungsgeschichte II«, Fig. 8) besteht zunächst nur aus dem Kopf- und Aftersegment; später keimen in der Richtung von vorn nach hinten immer direkt vor dem letztgenannten die neuen Segmente hervor, und so streckt sich der Leib mehr und mehr (s. Tafel »Entwickelungsgeschichte II«, Fig. 10). Besonders deutlich zeigt alle diese Verhältnisse der merkwürdige borstenlose und äußerlich ungegliederte Polygordius, den manche Forscher als auf niederster Stufe zurückgeblieben (sogenannte Archiannelid) ansehen. Nach ihrer Lebensweise sind die Polychäten entweder Röhrenbewohner (Sedentaria oder Tubicolae, s. Röhrenwürmer) oder Schwimmer (Errantia). Letztere sind nur zeitweilig in dünnen Röhren zu finden, bewegen sich hingegen meist frei im Meer, sowohl auf dem Grund als an der Oberfläche, umher und sind gefräßige Räuber. Einige können nachts leuchten. Man ordnet die zahlreichen Arten in viele Familien ein. Die Alciopidae besitzen hochentwickelte Augen und ziemlich durchsichtigen Körper (s. Tafel »Meeresfauna II«, Fig. 9); die Aphroditidae oder Seeraupen (s. d.) sind vielfach über und über mit Borsten bedeckt; die Eunicidae werden zum Teil über 1 m lang und haben äußerst kräftige Kiefer; eine Art, der Palolowurm (Lysidice viridis), wird von den Eingebornen der Samoa- und Fidschiinseln gegessen; bei den Nereïdae (Heteronereïs), Arenicolidae mit dem Fischersandwurm (Arenicola piscatorum, s. Tafel »Würmer II«, Fig. 7) tritt zuweilen ein und dieselbe Art unter den verschiedensten Gestalten auf, die nur durch direkte Beobachtung als zusammengehörig erkannt werden können; die Syllidae zeigen deutlichen Generationswechsel. Als stark rückgebildete Polychäten betrachtet man die Myzostomidae, kleine rundliche Schmarotzer auf Haarsternen. Fossil finden sich R. vom Silur an (Nereïtes cambrensis, s. Tafel »Kambrische Formation«, Fig. 18); am meisten sind Röhren von Röhrenwürmern erhalten geblieben. Vgl. Savigny, Système des Annélides (Par. 1826); Grube, Die Familien der Anneliden (Berl. 1851); Claparède, Recherches anatomiques sur les Annélides (Genf 1861); Ehlers, Die Borstenwürmer (Leipz. 1864–69), Report on the Annelids (Boston 1888) und Die Polychäten des magellanischen und chilenischen Strandes (Berl. 1901); Mac Intosh, Report on the Annelida polychaeta (Challenger, Report XII, 1885); Quatrefages und Vaillant, Histoire naturelle des Annelés (Par. 1865–90, 5 Bde.); Semper, Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Tiere (Würzb. 1875); Hatschek, Studien über Entwickelungsgeschichte der Anneliden (Wien 1878); Kleinenberg, Die Entstehung des Annelids aus der Larve von Lopadorhynchus (Leipz. 1886); Eisig, Die Capitelliden des Golfes von Neapel (Berl. 1887); Meyer, Studien über den Körperbau der Anneliden (das. 1887–88); Malaquin, Recherches sur les Syllidiens (Lille 1893); Beddard, Monograph of the order of Oligochaeta (Lond. 1895); Michaelsen, Oligochaeta (im »Tierreich«, Lief. 10, Berl. 1900) und Die geographische Verbreitung der Oligochäten (das. 1903).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.