- Christentum
Christentum, die von Jesus von Nazareth als dem »Christ«, d. h. Messias (s.d.), gestiftete Religion (die christliche Religion), im weitern Sinn die ganze geschichtbildende Macht, die sich in jenem Namen verkörpert hat, mit der Summe ihrer innern Antriebe und äußern gesellschaftlichen Wirkungen, mit der Gedankenwelt, die sie herausgeführt, und mit allen neuen Ordnungen und Sitten des Völker- u. Menschheitslebens in ihrem Gefolge. Unklarheiten und Mißverständnisse, die aus der Einmischung religiöser Interessen mit Notwendigkeit sich ergeben mußten, haben einen erbitterten Kampf darüber hervorgerufen, ob das C. als ein »neuer Anfang« zu betrachten, d. h. übernatürliche Eigenschaften von seinem Stifter auszusagen, übernatürliche Wirkungen an sein Auftreten zu knüpfen seien, oder ob es in der Gesamtentwickelung des religiösen Geistes zwar einen Glanz- und Höhepunkt darstelle, der aber seine geschichtliche Bedingtheit in den vorausgegangenen Stadien des Gottesbewußtseins mehr oder weniger erkennen lasse. Jedenfalls ist das C. zunächst aus dem alttestamentlichen Gottesglauben herausgewachsen, dessen Vollendung es darstellt. Das Volk Israel als das eigentliche Religionsvolk der alten Welt hatte den Glauben an den einen Gott im Verlauf des prophetischen Zeitalters sittlich vertieft und vergeistigt und den Dienst des »Heiligen in Israel« immer bewußter in Reinigung des Herzens und Lebens gesetzt. Freilich stellt das gesetzlich verfestigte Judentum der nachexilischen und neutestamentlichen Zeit mit seinem pharisäischen Äußerlichkeitsgeist einen auffallenden Rückschritt gegenüber den prophetischen Errungenschaften dar. Eine um so unmittelbarere Fortsetzung und Vollendung fanden die letztern dort, wo der eigentliche Erklärungsgrund für die ganze Lebensfülle und schöpferische Kraft liegt, die das C. offenbarte, im Selbstbewußtsein Jesu. Denn an der Person seines Stifters hängt schließlich vorzugsweise die geschichtliche Bedeutung des Christentums. Eine originale Persönlichkeit aber, ein religiös-schöpferischer Geist zumal behält immer für eine die Erscheinungen in ihre Elemente auslösende und auf ihre Herkunft befragende Wissenschaft etwas Undurchdringliches und Geheimnisvolles. Tatsache ist, daß in dem religiösen Bewußtsein Jesu das Verhältnis von Gottheit und Menschheit eine von allem Unreinen so durchgängig geläuterte, für die Lösung der sittlichen Aufgabe des ganzen Geschlechts so eminent fruchtbare Auffassung und zugleich auch, trotz aller unumgänglichen Bildlichkeit und sonstigen Unzulänglichkeit der zu Gebote stehenden sprachlichen Mittel, einen so reinen, unmittelbaren, ewig jungen und zugkräftigen Ausdruck gewonnen hat, wie ein zweites Beispiel in der Geschichte des fortschreitenden Gottesbewußtseins nicht wieder vorliegt. Was aber darum als »Sohn Gottes« Jesus Christus (s.d.) ist, das sollen alle, zu denen sein Evangelium dringt, werden: »Kinder« oder, wie es im neutestamentlichen, Text eigentlich heißt, »Söhne Gottes«. Ein solcher Übergang des eignen Reichtums in das Bewußtsein andrer setzt voraus, daß der ideale Inhalt eine geschichtlich gegebene Form vorfindet, in der er sowohl schon dem Bahnbrecher selbst sich darbietet, als auch für die Zeitgenossen greifbar und faßlich wird. Ein solches Losungs- und Schlagwort, vermöge dessen das neue Gottesbewußtsein eine geschichtliche Macht zu werden vermochte, bot die alttestamentliche Messiasidee, die Jesus sittlich und geistig neu belebte und zum Bekenntnis seiner Jüngergemeinde erhob (Matth. 16,15–17). Darin, daß Jesus sich als den von den Propheten vor Jahrhunderten dem jüdischen Volk verheißenen Gottessohn oder Messias (s.d.) wußte, lag das geschichtlich Bedingte, das Nationale und Zeitliche in seinem Selbstbewußtsein. Daran hielten sich, während jenes rein menschliche Moment zunächst noch in der Hülle blieb, die ältesten, aus dem Judentum hervorgegangenen Gemeinden, die Stiftungen der zwölf Apostel, überhaupt die Judenchristen. Was diese von den gewöhnlichen Juden unterschied, war lediglich der Glaube an den nicht mehr bloß zu erwartenden, sondern schon gekommenen Messias. Aber in der Tatsache, daß dieser Messias nicht in der erwarteten Gestalt eines theokratischen Herrschers und Heidenbezwingers aufgetreten war, sondern in der Demut und Niedrigkeit eines anspruchslosen Lehrers und Hirten, eines Befreiers nicht unterworfener Nationen, sondern geknechteter Willenskräfte, und ebendeshalb verachtet und verworfen von den Obersten seines Volkes, war ein Impuls gegeben, der nach einer andern Richtung treiben mußte. In der Tat hat sich die Ablösung der neuen Religion von der alten rasch vollzogen, zunächst in der Form des Paulinismus. Infolge des starken Anstoßes, den das »Ärgernis des Kreuzes« (Gal. 5,11) für die rechtgläubige Messiasidee darbot, kam es christlicherseits zu einer Weiterbildung des Messiasbegriffs, in deren Verlauf der Kreuzestod als gottgewollter, notwendiger Durchgangspunkt, der Messias selbst als ein gottähnliches, zum Zweck der Erlösung und Versöhnung der schuldbeladenen Menschheit auf Erden erschienenes Wesen zur Geltung kam, das gerade im Tode nur die sinnliche Hülle abstreift, um sofort vermöge seiner Auferstehung und Erhöhung göttliche Würde und Hoheit anzutreten. Der nähere Verlauf dieser für die christliche Weltanschauung entscheidenden Gedankengänge gehört nicht hierher (s. Christologie). Wohl aber liegen ihm religiöse Ideen und sittliche Werte zu Grunde, die dem C. erst seine bleibende, weltgeschichtliche Signatur gegeben haben. So ist dem ganzen religiösen Verhältnis dadurch, das der Zweck des Auftretens des Messias in die Erlösung und Heiligung seines Volkes gesetzt wird, eine entschiedene Wendung und Richtung auf das Gebiet des sittlichen Lebens, auf die Zubereitung eines in Gott befreiten Willens, gegeben; es ist zugleich dadurch, daß dieser Erlöser »durch Leiden des Todes vollendet« (Hebr. 2,9. 10) werden mußte, nicht etwa bloß das Leid und Wehe des Lebens mit einer selbst der tragischen Kunst des klassischen Altertums unerreichbaren Weihe geheiligt, sondern es ist dieses Dulden und Leiden geradezu zum Gegengift wider Sünde und Schuld, zur Existenzbedingung für alles erhoben worden, was sich im endlichen Leben als gereifter und bleibender Gehalt bewähren und den Menschen über das Niveau des Naturlebens erheben soll. Zugleich ist mit dieser Lehre vom leidenden Sohn Gottes der Gottesbegriff selbst der starren Einheit und überweltlichen Ferne, die seine Merkmale im Judentum ausmachen, entkleidet worden. Diese Veränderung in dem Begriff und Bild Gottes spiegelt sich innerhalb der christlichen Theologie besonders in den Dogmen von der Trinität (s.d.) und Menschwerdung (s.d.) ab.
Nächster Zweck der Erscheinung des Messias war die Herstellung und Ausrichtung des »Gottesreichs«, der Herrschaft des Volkes Gottes auf Erden. Wenn die Idee Gottes als des Vaters und das Selbstbekenntnis zur Sohnschaft (s. Menschensohn) zwei leitende Gedanken des Auftretens Jesu bilden, so tritt ihnen die Idee des Reiches Gottes als ein dritter, jene unter sich verbindender Gedanke zur Seite. Dieses »Reich Gottes« (s.d.) stellt den weitern Kreis dar, der sich um den in der Person Jesu gegebenen Mittelpunkt bildet. Aber es konnte auch ganz ebenso unter einem doppelten Gesichtspunkt betrachtet werden wieder »Sohn Gottes«. Den letzten Zielpunkt bildet die Idee einer Neubelebung aller gesellschaftlichen Zustände vermöge der übergreifenden Triebkraft des neuen Gottesbewußtseins, also Herstellung eines Gesamtlebens, in dem sich nur göttliche Zwecke realisieren. Aber auch diese Idee konnte in das Bewußtsein der Menschheit nur eintreten, indem sie an die jüdisch-volkstümlichen Begriffe von Gottesherrschaft und politischem Königtum anknüpfte. Indem sich Jesus als Messias erklärte, erstrebte er allerdings zunächst eine Umgestaltung des ihn unmittelbar umgebenden Volkslebens nach den Idealen der Propheten. Noch viel entschiedener aber bewegte sich das Bewußtsein seiner ersten Jünger und Gemeinden innerhalb dieses volkstümlich gefärbten Kreises, ja sie gingen merklich hinter den vorgeschobenen Standpunkt zurück, den Jesus selbst eingenommen hatte. Während er als Messias sich kühn über alles »Kleine am Gesetz« stellen konnte, fand innerhalb seiner ersten Anhängerschaft geradezu eine auch äußerliche Vereinigung mit der jüdischen Theokratie statt, und kaum hatte man davon eine Ahnung, daß das C. etwas grundsatzmäßig Neues sei. Es war überhaupt nicht das Judentum im Mutterland Palästina, sondern es war das hellenistische Judentum der Diaspora (s.d.), das schon längst einen griechisch-philosophischen Zug mit dem hebräischen Glaubensgehalt verbunden hatte, worin nun mehr auch das C. den Weg ins Freie finden sollte. Hier erst stellte sich die Überzeugung dar, daß dasselbe bestimmt sei zur Zusammenfassung der bisher getrennten Teile der Menschheit, der Heiden und der Juden. Aus den Synagogen Kleinasiens, Griechenlands und Roms, um die sich Proselyten aus dem Heidentum schon zuvor in großer Menge gesammelt hatten, ging die vom Judentum abgelöste Heiden- und Weltkirche hervor.
Schwerlich aber wäre im Verlauf weniger Jahrhunderte das C. die Religion des Morgen- und Abendlandes geworden, wenn nicht auch der griechische Geist auf die Gestaltung seiner Weltanschauung mächtig eingewirkt hätte. Das aber war schon deshalb der Fall, weil die Platonisch-stoische Unterscheidung des »Wortes« Gottes, des sogen. Logos (s.d.), von Gott selbst wie von den alexandrinischen Juden, so nunmehr auch von den Heidenchristen aufgenommen und auf ihrem Grund eine Lehre von dem Verhältnis des Vaters zum Sohn erbaut wurde, die sich dann unter Hinzutritt eines dritten zu berücksichtigenden Faktors, des Heiligen Geistes, im Trinitätsdogma abrundete.
Auf sittlichem Gebiet hatte Sokrates, wenn er seine Sittenlehre nicht von außen oder von oben, sondern aus den Tiefen des gottverwandten Geistes ableitete, wenigstens eine Art Vorarbeit für das gegeben, was später das C. leistete, indem es den Geist freier Sittlichkeit von der Beschränktheit alttestamentlicher Gesetzlichkeit entband. Das unvergleichlich Größte aber hat Platon getan, um die hellenische Gedankenwelt auf eine Stufe zu heben, auf der sie fähig war, sich mit den religiösen Erträgnissen des semitischen Orients, insonderheit mit dem Hebraisnms, zu berühren und eine aus beiden bisher sich fliehenden Elementen gemischte Weltanschauung zu erzeugen. Als eine solche aber muß diejenige des Christentums, wie es sich in der Geschichte ausbreitete, bezeichnet werden. Semitisch ist das Gewebe historischer Fäden, an dem es seine Gottes- und Weltanschauung zur Darstellung bringt; griechisch ist jene ganze Grundanschauung, wonach eine höhere, übersinnliche Welt als ein dem endlichen Verstand überlegenes, nur mit dem Glauben zu fassendes Etwas in unser Sinnenleben hereinspielt, so daß, was von geistigem Reiz und göttlichem Gehalt in diesem Leben vorkommt, was von sittlichen Aufgaben es sich stellt, aus solchem Hereinleuchten sich erklärt. Ganz besonders brauchbar erwies sich in dieser Richtung die Umbildung, welche die Gedanken Platons in dem nachgebornen System des Neuplatonismus erfuhren. Auf Grund dieses Systems also in seinen alten und neuen Formen haben Kirchenväter und Scholastiker ein Jahrtausend lang die christlichen Dogmen zuerst gebildet und bearbeitet, dann erklärt und bewiesen. Nächst dem Platonismus war es die Stoa, die mit ihrer Lehre von der Gottverwandtheit und Gleichheit der menschlichen Natur Einfluß ausübte. Alle Menschen sind schon nach Chrysipp als Mitgenossen und Mitbürger zu betrachten, damit die Welt erscheine »wie Eine verbundene Herde, die durch Ein gemeinsames Gesetz geleitet wird« (Johann. 10,16). Auch das Work, daß alle Menschen Brüder sind, hat man zuerst in der Stoa gehört. Wie schon das Altertum solchen Aussprüchen eine weltgeschichtliche Bedeutung beimaß, zeigt Plutarch, der meint, was Zenon gewollt, habe Alexander vollbracht. Alexanders Gedanke aber wurde im Grund erst durch das römische Weltreich verwirklicht, und als dieses eben unter dem ersten Kaiser seinen dauernden Zusammenschluß gefunden hatte, entstand in einem seiner entlegenen Winkel auch diejenige Religion, die unter allen dagewesenen Religionen allein eine solche Unabhängigkeit von jedweder national-partikularistischen Bedingtheit erlangen konnte und sollte, daß sie fähig wurde, den ungeheuern Riesenleib jenes Reiches gleichmäßig zu beseelen, ja sogar, als derselbe allmählich abstarb und zerfiel, ihn als europäische Weltreligion zu überdauern und eine neue, weltgeschichtlich noch verheißungsvollere Verbindung mit dem germanischen Element einzugehen.
Eine solche Dauerhaftigkeit, wie sie das C. unter dem Zusammensturz aller Kultur- und Staatsmächte der alten Welt an den Tag legte, setzte freilich voraus, daß es sich zuvor schon in bestimmt gegliederten Verfassungsformen verfestigt hatte, daß es Kirche (s.d.) geworden war. Das aber ist es keineswegs von vornherein schon gewesen. Vielmehr fand die urchristliche Phantasie zunächst ihren Schwerpunkt in der baldigst erwarteten Wiederkunft Christi (Parusie) und in dem sogen. Tausendjährigen Reich (s. Chiliasmus). Erst allmählich übte die in den Paulinischen und Johanneischen Schriften angelegte Auffassung, wonach Christus als göttliches Prinzip in der Gemeinde seiner Gläubigen waltet und diese letztere zur Trägerin seines Bewußtseins, zur Fortsetzerin seines Willens wird, einen umgestaltenden und versöhnenden Einfluß, während die Kirche sich zugleich immer unumgänglicher auf einen längern irdischen Bestand einrichten mußte, bis sie endlich unter Verzicht auf ihre ursprüngliche Ausstattung und Idealität eine Weltmission im großen zu beginnen und die Völker zu erziehen begann. Schon im 3. Jahrh. war sie ein Staat im Staate, indem sie zugleich Bildung und Philosophie des Staates, seine Rechtsordnung und seine Kulte in den eignen Dienst nahm, bez. sich diesen akkommodierte. Vollends seitdem sie Staatskirche geworden war (s. Konstantin d. Gr.), schiebt sich der Schwerpunkt des christlichfrommen Bewußtseins von der apokalyptischen Zukunftshoffnung hinweg in den gegenwärtigen, von der Kirche verbürgten und in ihr gegebenen Heilsbesitz. Das höchste und umfassendste aller sittlichen Ideale des Stifters, das Reich Gottes, fiel diesem Katholizismus (s.d.) eben schon in Eins zusammen mit der empirischen Kirche, während der Protestantismus (s.d.) als ein neuer Versuch zur Realisierung des christlichen Prinzips beide Gedanken wieder voneinander zu scheiden unternahm. – Die gegenwärtige Zahl aller Christen der Erde beträgt etwa 495 Mill. (vgl. die »Religions- und Missionskarte der Erde«). Weiteres bezüglich der äußern Ausbreitung des Christentums im Laufe von beinahe zwei Jahrtausenden s. Mission und Religion.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.