- Physiognōmik
Physiognōmik (griech.), die Kunst, aus der Bildung der äußern Körperteile, besonders des Gesichts (Physiognomie), auf die seelischen Eigenschaften eines Menschen zu schließen. Schon im Altertum scheint man diese Kunst geübt und geschätzt zu haben; Pythagoras, Sokrates, Platon legten besondern Wert darauf, und Aristoteles gilt als Verfasser einer ausführlichen Abhandlung über P., in der ebenso wie in Baptista Portas »Humana Physiognomia« die Vergleichung der menschlichen mit tierischen Zügen empfohlen und der Grundsatz aufgestellt wird, daß ein in seiner Gesichtsbildung an einen Löwen, Fuchs, Raubvogel etc. erinnernder Mensch auch ihren Charakter besitze. Obschon diese Theorie mit den Beobachtungen des täglichen Lebens im augenscheinlichsten Widerspruch steht, hat sie doch bei den astrologischen und chiromantischen Zeichendeutern des Mittelalters und noch in neuerer Zeit, wie z. B. in den »Physiognomischen Studien« von Sophus Schack (a. d. Dän., 2. Aufl., Jena 1890), Anhänger und Nachahmer gefunden. Lavaters orakelhafte, mit großer Zuversichtlichkeit verkündete physiognomische Urteilssprüche machten seinerzeit gewaltiges Aufsehen, obgleich Lichtenberg die hohle Phrasenhaftigkeit der Lavaterschen Offenbarungen und Behauptungen geißelte (»Fragment von Schwänzen«). Für Lavater waren nicht logische Gründe, sondern nur persönliche Gefühle und die Inspirationen seiner vermeintlichen physiognomischen Divinationsgabe maßgebend. Beweise und verständliche Grundsätze sucht man in seinem vierbändigen Werke »Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe« (Leipz. 1775–78) vergeblich. Auch die Gallsche Schädellehre hat den anfänglich von ihr erwarteten Nutzen für die P. nicht gehabt, da die Hypothese besonderer Sitze und Schädelausbuchtungen für Leidenschaften und Charakteranlagen sich als wissenschaftlich unhaltbar herausgestellt hat (vgl. Schädellehre). Erst nachdem Sir Charles Bell (»Anatomy of expression«, 1806) und Gratiolet (1865) die Anatomie und Mechanik des Gesichtsausdrucks dargelegt hatten, war eine Vertiefung des Problems möglich. Th. Piderit zeigte, daß man brauchbare physiognomische Merkmale nicht an den Knochenformen, sondern nur an denjenigen Gesichtsteilen zu finden erwarten darf, die unter dem Einfluß der Seelentätigkeit stehen, d.h. an den beweglichen Muskeln. Mimische, durch Leidenschaften und Stimmungen hervorgerufene Züge werden durch häufige Wiederholung allmählich zu bleibenden physiognomischen Zügen, und ein physiognomischer Zug ist anzusehen als ein habituell gewordener mimischer Zug. Von diesem Prinzip ausgehend, versuchte Piderit ein mit logischer Konsequenz durchgeführtes System rationeller P. zu begründen. Ursprung und Bedeutung der einzelnen physiognomischen Züge an Augen, Mund, Nase etc. wurden eingehend nachgewiesen und durch instruktive schematische Zeichnungen veranschaulicht (s. Mimik). Aber auch diese durch Muskelspannung hervorgerufenen physiognomischen Züge können täuschen und zu falschen Schlüssen verleiten, da nicht allein durch häufig wiederholte Gemütsbewegungen, sondern auch durch mancherlei andre Ursachen (Krankheiten, Art der Lebensbeschäftigung etc.) der physiognomische Ausdruck beeinflußt und verändert werden kann; als zuverlässigstes Hilfsmittel der P. empfiehlt sich deshalb die aufmerksame Beobachtung des Mienenspiels, das theoretische und praktische Studium der Mimik. Vgl. Camper, Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge (a. d. Holländ., Berl. 1792); Carus, Symbolik der menschlichen Gestalt (2. Aufl., Leipz. 1858); Reich, Die Gestalt des Menschen und deren Beziehungen zum Seelenleben (Heidelb. 1878); Darwin, Über den Ausdruck der Gemütsbewegung bei Menschen und Tieren (deutsch, 4. Aufl., Stuttg. 1884); Duchenne, Physiologie der Bewegungen (deutsch, Leipz. 1885); Piderit, Mimik und P. (2. Aufl., Detmold 1886); Mantegazza, P. und Mimik (deutsch, Leipz. 1890. 2 Bde.); Skraup, Katechismus der Mimik (das. 1892); Ledos, Traité de la physiognomie humaine (Par. 1894); Borée, Physiognomische Studien (deutsche Ausg., Stuttg. 1900; 119 Autotypien); Geßmann, Katechismus der Gesichtslesekunst (Berl. 1896). Über pathologische P. (Pathognomik), d.h. die Beurteilung psychischer oder somatischer Krankheiten aus den Gesichtszügen und andern äußern Merkmalen des Patienten, vgl. Baumgärtner, Krankenphysiognomik (2. Aufl., Stuttg. 1841–43, mit Atlas), und Morison, P. der Geisteskrankheiten (a. d. Engl., Leipz. 1853).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.