- Gemütsbewegungen
Gemütsbewegungen (Affekte) bestehen ihrem Wesen nach in einer zusammenhängenden Folge starker Gefühle, mit denen sich bestimmte Veränderungen der Vorstellungstätigkeit und sichtbare physiologische Begleiterscheinungen verbinden. Da alle Gefühle ihrer Natur nach wechseln und mit seelischen und körperlichen Nebenerscheinungen verknüpft sind, so läßt sich zwischen diesen und den G. keine scharfe Grenze ziehen. insbes. tragen die rhythmischen Gefühle, die durch rhythmische Klangfolgen erregt werden, den Charakter gemilderter Affekte (worauf z. T. die Wirkung der Musik beruht); maßgebend für die Unterscheidung beider ist lediglich die Intensität der Wirkungen und der weitere Umstand, daß jedem Affekt mehrere in bestimmter Ordnung verlaufende Gefühle gehören. So beginnt der Schreck mit einem durch einen plötzlichen Eindruck verursachten heftigen Erregungsgefühl, dem sich als körperliche Reaktion eine plötzliche heftige Anspannung einzelner Muskelgruppen (im Bereiche des getroffenen Sinnesorgans), als seelische Wirkung ein momentaner Stillstand der Vorstellungstätigkeit, die ganz und gar durch den erregenden Eindruck in Anspruch genommen ist, anschließen; in demselben Maße, wie dieser Eindruck allmählich vom Bewußtsein aufgenommen (apperzipiert) wird, weicht das Gefühl der Erregung, um schließlich in ein solches der Abspannung überzugehen, gleichzeitig macht sich auch körperlich ein Zustand verminderter Muskelspannung (Erschlaffung) geltend, während das Bewußtsein noch auf längere Zeit mit der schreckerregenden Vorstellung beschäftigt bleibt; schließlich klingt der Affekt mit einem Gefühl allgemeiner Beruhigung ab. Die physischen Begleiterscheinungen der Affekte bestehen teils in Wirkungen auf das Herz (Pulsänderungen), die Blutgefäße (Erröten und Erblassen), die Atmung (Verlangsamung, bez. Stillstand oder Beschleunigung, Verstärkung oder Schwächung der Atmungstätigkeit), teils in solchen auf die äußern Bewegungsorgane (Ausdrucksbewegungen, s. d.). Die Frage, in welchem ursachlichen Verhältnis die physischen und die psychischen Vorgänge bei den G. zueinander stehen, ob jene als bloße Nebenwirkungen dieser, oder umgekehrt die körperlichen Störungen als Ursachen der innern Vorgänge zu betrachten sind, ist noch strittig. Für die letztere Auffassung spricht der Umstand, daß der regel- oder unregelmäßige Verlauf der physiologischen Prozesse im Körper fortdauernd unsre Gemütsverfassung beeinflußt, und daß tatsächlich in vielen Fällen G. aus rein physiologischen Ursachen entspringen. Alkohol, Opium, Haschisch erzeugen die Affekte der Freude, des Mutes etc., der Genuß des Fliegenschwammes verursacht Wutanfälle, Krankheiten des Nervensystems (Geisteskrankheiten) bewirken Affekte verschiedener Art. Diese künstlich erregten oder pathologischen Affekte unterscheiden sich jedoch dadurch von den normalen, daß bei ihnen die Vorstellung einer erregenden Ursache fehlt, die bei diesen regelmäßig vorhanden ist; die freudige Stimmung des »Angeheiterten« ist grundlos, während sich der normale Mensch immer über etwas freut, der Wahnsinnige bricht unmotiviert in Zorn aus etc. Sieht man deswegen von den pathologischen Fällen ab, so dürfte die erste Ursache aller G. in Wahrnehmungen und Vorstellungen zu suchen sein, wenn es auch sicher ist, daß die mit den körperlichen Störungen gegebenen sinnlichen Gefühle den Affekt nachträglich noch weiter verstärken (der Zornige gerät durch sein Toben, der Traurige durch Weinen und Wehklagen immer mehr in den betreffenden Affekt hinein). Mit Rücksicht auf ihre physischen Äußerungen werden die G. in sthenische und asthenische eingeteilt, je nachdem durch sie der Tätigkeitsgrad der körperlichen Organe gesteigert oder vermindert wird (Zorn, Freude etc. sind sthenisch, Trauer, Furcht etc. asthenisch). In gleicher Weise wird im allgemeinen auch die Vorstellungstätigkeit beeinflußt; Freude, Hoffnung etc. setzen die Phantasie in lebhafte Bewegung, dagegen denkt der Trauernde nur an seinen Verlust, können Furcht und Schrecken das Vorstellen und Denken fast zum Stillstand bringen. Mit Rücksicht auf die psychologische Beschaffenheit der G. kann man sie entweder nach der Qualität der dabei auftretenden Gefühle oder nach ihrer Verlaufsform einteilen. In ersterer Hinsicht würden als Hauptformen Luft und Unlust, erregende und lähmende, spannende und lösende Affekte zu unterscheiden sein, die auch gemischt auftreten können (Kummer ist ein lähmender, Zorn ein erregender Unlust-, Freude ein erregender, Hoffnung ein spannender Lustaffekt). Der Verlaufsform nach kann man plötzlich hereinbrechende Affekte (Enttäuschung, Schreck etc.), allmählich ansteigende (Sorge, Erwartung etc.) und intermittierende (periodische) unterscheiden. Die letztere Verlaufsform macht sich übrigens bei fast allen länger andauernden G. geltend. Wegen ihres engen Zusammenhanges mit der Willenstätigkeit und ihres Einflusses auf diese sind die G. auch in ethischer Hinsicht von großer Bedeutung. Da der im Affekt Befindliche zu ruhiger Überlegung mehr oder weniger unfähig, seiner »Besinnung« beraubt oder »außer sich« ist, so kann er für seine Handlungen nur in beschränktem Umfange verantwortlich gemacht werden, wie das auch in der Gesetzgebung aller kultivierten Nationen vorgesehen ist. Um so wichtiger ist aber die pädagogische Aufgabe der Beherrschung der Affekte. Durch Vernunftgründe und Zureden (z. B. Trostsprüche bei Traurigen) wird im allgemeinen wenig ausgerichtet, dagegen läßt sich ein vorhandener Affekt durch Erregung eines entgegengesetzten wirksam bekämpfen und durch fortgesetzte derartige Einwirkungen die Empfänglichkeit für Affekte überhaupt herabsetzen. Vgl. Gießler, Die G. und ihre Beherrschung (Leipz. 1900).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.