Assyrien

Assyrien

Assyrien, im engsten und ursprünglichsten Sinne der von dem semitischen Stamm der Assyrer bewohnte Landstrich zwischen Tigris, dem untern Zab und den kurdischen Bergen, der bei den Assyrern selbst, deren Stammland er war, Assur (s. d.) hieß. Später wurde darunter alles Land zu beiden Seiten des Tigris und am Fuß der Gebirge bis zum Diala südwärts verstanden, und noch weitere Ausdehnung erhielt der Name durch die Eroberungen der assyrischen Könige, die schon im 12. Jahrh. v. Chr. unter Tiglathpileser I. vorübergehend bis an das Mittelmeer reichten und seit Asurnazirpal (884–860) sich über Babylonien, Westmedien, Armenien, Mesopotamien, Syrien, Palästina und Ägypten ausdehnten. Die Griechen verstanden unter A. meist das syrische Küsten- und das untere Euphrat-Tigrisland mit, ja beschränkten zuweilen den Namen auf letzteres. Das eigentliche A. ist eine räumlich beschränkte, fruchtbare, durch viele Gebirgsbäche bewässerte Ebene, die von niedern Höhenzügen vielfach durchschnitten ist. Der Muschelkalk derselben und große Tonlager lieferten gutes Baumaterial, die nahen Gebirge Marmor, Alabaster, Silber, Kupfer, Blei und Eisen, wodurch Baukunst und Skulptur mächtig gefördert wurden. Die wichtigsten Städte waren Assur, Kelach, Ninua oder Ninive, sämtlich am Tigris gelegen, und Arbaïlu (Arbela, heute Erbil) zwischen den beiden Zab.

[Geschichte.] Die griechischen Erzählungen von der Gründung des assyrischen Reiches und seiner Hauptstadt Ninive durch Ninos (s. d.) und den Eroberungszügen seiner kriegerischen Witwe, der Halbgöttin Semiramis (s. d.), der weichlichen Herrschaft ihres Nachfolgers Ninyas und weiter der Derketaden sind spätere Sagen persischen Ursprungs. Die Assyrer waren babylonische Kolonisten (vgl. 1. Mos. 10, 11 f.). Ihre erste Niederlassung war, wie es scheint, die auf dem rechten Tigrisufer, 64 km von der Mündung des obern Zab stromabwärts gelegene Stadt Assur (s. d.), nach der das ganze Land Assur (zuerst in babylonischen Briefen um 2250 v. Chr. erwähnt) genannt wurde. Assur war der älteste nachweisbare Sitz assyrischer Herrscher, der sogen. Issakkus (Patesis) oder »Stellvertreter« des Gottes Asur, unter denen die ersten uns bekannten Isme-Dagan (ca. 1840 v. Chr.) und sein Sohn Samsi-Ramman sind. Der Beginn des assyrischen Königtums mag in die Jahre 1700–1600 fallen; als ältester König wird Bel-kapkapu genannt. Die politischen Beziehungen Assyriens zu Babylonien begannen um 1480, um welche Zeit Asur-bel-nisesu sich mit dem babylonischen König Karaïndas I. friedlich über die gegenseitigen Grenzen einigte. Aber schon bald mischten sich die assyrischen Könige in die babylonischen Angelegenheiten, und es begann eine fast ununterbrochene Reihe von Kämpfen, in denen die Assyrer meist die Oberhand behielten; schon Bel-nirari (ca. 1380) entriß den Babyloniern das Ländergebiet nördlich vom Flusse Diala. Salmanassar I. (ca. 1330) erweiterte die Grenzen Assyriens gegen NW. und erbaute eine neue Residenz, Kelach (s. Nimrud). Sein Sohn Tukulti-Adar I. brachte Babylonien vorübergehend in seine Gewalt. Von 1210 ab werden abermals Kriege zwischen den beiden Reichen berichtet: das Glück wechselt, ist aber vorzugsweise auf assyrischer Seite. Der babylonische König Marduk-nadin-ache besiegte (1107) zwar Tiglathpileser I., doch drang dieser nachher in Babylonien ein und eroberte Opis, Sippar, ja Babylon selbst. Tiglathpileser I. (ca. 1120) ist der erste assyrische Monarch, von dem wir größere Schriftdenkmäler besitzen. Ihnen zufolge eroberte er das südliche Armenien, bekämpfte die aramäischen Stämme am Euphratufer und brachte zuerst transeuphratisches Gebiet zeitweilig an A. Bald nach Tiglathpileser I. versiegen die keilschriftlichen Quellen: wo sie wieder zu fließen beginnen, hören wir wiederum von babylonisch-assyrischen Kriegen, zunächst solchen zwischen dem Assyrer Adad-nirari II. (911–890), mit dessen Regierung der assyrische »Eponymenkanon« anhebt, und dem babylonischen König Samas-mudammik sowie dessen Nachfolger. Einen großen Aufschwung nahm das Reich unter Asurnazirpal (884–860), der viele Kriegszüge nach allen Seiten, sonderlich nach den Ufern des mittlern Euphrat, unternahm und bereits den Phönikern Tribut auferlegte, ferner Kelach neu gründete und den sogen. Nordwestpalast daselbst erbaute, und seinem Sohne Salmanassar II. (860 bis 824; s. Salmanassar). Tiglathpileser III. (745–727) begründete die assyrische Weltmacht: er eroberte ganz Armenien und einen großen Teil Mediens, nahm 741 Arpad, 732 Damaskus und machte die Könige von Israel und Juda zu Vasallenfürsten. Bis nach Arabien und der ägyptischen Grenze dehnte er seine Feldzüge aus. Näheres s. Tiglathpileser. Unter Salmanassar IV. (727–722) empörten sich die Phöniker und Hosea von Israel; Salmanassar unterdrückte den Aufstand, belagerte, freilich vergeblich, Tyros und schloß Samaria ein, das sich aber erst seinem Nachfolger Sargon ergab (722). Über die letzte assyrische Königsdynastie der Sargoniden, über Sargon (722–705), seinen Sohn Sanherib (705–681), dessen Sohn Asarhaddon (681–669), den Eroberer Ägyptens (671), und endlich dessen Sohn Asurbanipal (669–625) s. die betreffenden Artikel. Für die Jahre 647–625, während deren Asurbanipal unter dem Namen Kandalanu (Kineladan) den babylonischen Thron innehatte, sowie für die übrige Zeit bis zur Zerstörung Ninives mangeln keilschriftliche Berichte. Doch wissen wir aus andern Quellen, vornehmlich aus Herodot, daß der erste tödliche Stoß gegen A. und das assyrische Weltreich von Medien ausging, das sich unter der Führung des Geschlechts des Dejokes aus vielen kleinen Fürstentümern zu einem einheitlichen Reich entwickelt und unter Phraortes seine Oberhoheit über die Länder ringsum zur Geltung gebracht hatte. Phraortes wagte den ersten Angriff gegen Ninive, aber die Assyrer siegten, und Phraortes fand mit dem größten Teil seines Heeres den Untergang (ca. 624). Glücklicher war sein Sohn und Nachfolger Kyaxares, der zwei Jahre nachher abermals gegen A. vorrückte, die Assyrer besiegte und Ninive belagerte. Doch brachten die von Osten und Nordosten her einbrechenden und alle Länder von Medien bis nach Philistäa überschwemmenden sakischen Skythen noch einen letzten Aufschub für das assyrische Reich. Dieser Hereinbruch der wilden skythischen Reiterscharen dürfte sich hauptsächlich zur Zeit von Asurbanipals Sohn und Nachfolger Asur-etililani (-ukinni) vollzogen haben. Unter des letztern Nachfolger Sinsar-iskun (»Sin hat den König bestellt«), dem Sarakos der Griechen, erfolgte dann Assyriens Untergang. Wie es scheint, wurden die Meder unter Kyaxares zuerst der skythischen Völkerbewegung Herr; sie besiegten und vertrieben die Barbaren aus ihrem Land und verbündeten sich weiterhin mit dem Chaldäer Nabopolassar (s. d.) zum Kriege gegen A., der 606 mit der Einnahme Ninives und dem Untergang des assyrischen Reiches und Volkes endete. A. und Mesopotamien fielen an die Meder, Syrien an die Chaldäer.

[Kultur.] Wie schon bemerkt, waren die Assyrer babylonische Kolonisten. Ihre Sprache war die nämliche wie die babylonische, gleich dieser mit der hebräischen und arabischen nächstverwandt. Ihre Schrift (Keilschrift, s. d.) ist aus der babylonischen hervorgegangen und in vielen Stücken ihr gleich. Ihre Religion deckt sich ziemlich mit der der Babylonier (s. Babylonien), nur trat an die Spitze des Pantheons der assyrische Nationalgott Asur. Auch in der Baukunst und den übrigen Künsten und Wissenschaften, obenan der Astronomie, zeigen sich die Assyrer abhängig von ihren babylonischen Altvordern. Sie waren ein eminent kriegerisches Volk, aber in geistiger Beziehung keine Bahnbrecher, obwohl sie in manchen Stücken ihre babylonischen Lehrmeister überholt haben und ihrerseits wieder zu Lehrmeistern für die vorderasiatische Welt geworden sind. Sonderlich in der Architektur und Skulptur haben die Assyrer eine hohe Stufe erreicht. Ihre Tempel und Paläste, die sich gleich den babylonischen auf künstlichen Bergen oder Terrassen erhoben, waren aus Backsteinen und Balken errichtet, die Wände aber mit großen Kalkstein- oder Alabasterplatten bekleidet, die mit Bildwerken und Inschriften bedeckt waren (s. Tafel »Architektur II«, Fig. 1 und 2, und Tafel »Ornamente I«, Fig. 1–5). An den Eingängen der Säle und Hallen standen geflügelte Stiere mit Menschenköpfen, Löwenkolosse, Figuren von Göttern und Genien u. dgl. (s. Tafel »Bildhauerkunst II«, Fig. 1–4). Da fast jeder König neue Paläste erbaute und an ihren Wänden seine Taten in Bild und Schrift verherrlichte, so vertraten diese Monumente die Stelle von Archiv und Chronik des Reiches. Zugleich lernen wir aus ihnen die gesamte Lebensweise und Beschäftigung der Assyrer in Krieg und Frieden kennen. Der assyrischen Skulptur ist ein gewisses starres, stereotypes Wesen eigentümlich; besonders für Hauptfiguren, wie die Könige, bildeten sich typische Formen aus, die Natur wird möglichst genau nachgeahmt, ohne Freiheit und Individualität; die Tiergestalten, besonders die Figuren von Löwen, sind künstlerischer als die der Menschen. Alles weist auf eine lange geübte Technik hin, die mit der Zeit in einer bestimmten Manier erstarrte. Die Könige waren unumschränkte Herrscher, die unter dem unmittelbaren Schutz der Gottheiten deren Gebote ausführten. Die Zahl der Beamten war bedeutend, ihre Rangordnung genau festgestellt. Das Kriegswesen war wohlgeordnet und hoch entwickelt. Das Fußvolk war teils schwer, teils leicht bewaffnet. Auch Reiterei fehlte nicht. Die Assyrer verstanden es, ihr Lager zu befestigen, feindliche Städte mit Einschließungswällen zu umgeben und mit Belagerungsmaschinen zu bestürmen. Wenn die Alten viel von dem Wohlleben der Assyrer erzählen, so wird dies durch die Monumente bestätigt, wo wir die einzelnen Personen mit reichen, bunten, sein gewobenen und gestickten Gewändern sowie kostbarem Schmuck angetan sehen; das Haar ist sorgfältig gepflegt, besonders der Bart, der bis auf die Brust reicht; um den Kopf ist eine geschmückte Binde geknüpft (s. Tafel »Kostüme I«, Fig. 3). Die Hausgeräte sind reich verziert, von Metall, Holz, Elfenbein; besonders die Waffen sind kunstvoll gearbeitet und mit Köpfen von Löwen, Widdern etc. als Griff versehen. Teppiche und Gewänder sind gut gewebt. Die assyrischen Industrieprodukte wurden auch nach andern Ländern ausgeführt; assyrische Arbeiten in Gold und Silber, Glas- und Tonwaren, Teppiche und Webereien wurden selbst in Griechenland nachgeahmt. Um die Ausgrabungen in A. haben sich, seitdem Cl. J. Rich, Resident der Ostindischen Kompagnie in Bagdad, Ninive in den beiden Ruinenhügeln Kujundschik und Nebi Yunus (gegenüber von Mosul) wiederentdeckt hatte (1820), besonders verdient gemacht: der französische Konsul Emil Botta (1842–45) nebst dem Architekten Victor Place (1852), welche die Sargonsstadt ausgruben; ferner die Engländer Austen Henry Layard (1845–1847, 1849–51), Hormuzd Rassam (1852–54, 1877–82) und George Smith (1873, 1874, 1876); näheres s. unter Chorsabad, Nimrud, Ninive.

Literatur. Botta und Flandin, Monument de Ninivé (Par. 1847–50, 5 Bde.); Victor Place, Ninive et l'Assyrie (das. 1866–69, 3 Bde.); Layard, Niniveh and its remains (Lond. 1849; letzte Ausgabe 1854, 2 Bde.); Derselbe, Discoveries in the ruins of Niniveh and Babylon (das. 1853), nebst einem Atlas von 100 (das. 1849) und 71 Tafeln (1853), betitelt: »The monuments of Niniveh«; beide Werke Layards auch deutsch (Leipz. 1854 u. 1856); G. Smith, Assyrian discoveries (7. Aufl., Lond. 1883); Hormuzd Rassam, Excavations and discoveries in Assyria (das. 1879); Derselbe, Asshur and the land of Nimrud (Cincinnati 1897). Zur Geschichte vgl. M. v. Niebuhr, Geschichte Assurs und Babels seit Phul (Berl. 1857); Oppert, Histoire des empires de Chaldée et d'Assyrie (Versailles 1865); G. Rawlinson, The five great monarchies of the ancient eastern world (4. Aufl., Lond. 1879, 3 Bde.); Lenormant, Manuel d'histoire ancienne de l'Orient (9. Aufl., Par. 1882, 3 Bde.; deutsch bearbeitet von Busch, 2. Aufl., Leipz. 1873, 2 Bde.); Hommel, Geschichte Babyloniens und Assyriens (Berl. 1885); C. P. Tiele, Babylonisch-assyrische Geschichte (Gotha 1886–88, 2 Tle.); Mürdter, Geschichte Babyloniens und Assyriens (2. Aufl., neubearbeitet von F. Delitzsch, Kalw 1891); H. Winckler, Geschichte Babyloniens und Assyriens (Leipz. 1892); F. Kaulen, A. und Babylonien (5. Aufl., Freib. i. Br. 1899). Ausführliche Literaturübersicht bei Friedr. Delitzsch, Assyrische Grammatik (2. Aufl., Berl. 1902).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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