- Kapillarität
Kapillarität (lat., Haarröhrchenwirkung), die Erscheinung, daß in engen Röhren (Haarröhrchen), die man in eine Flüssigkeit taucht, diese höher oder tiefer steht als außerhalb. Die Erscheinung erklärt sich aus der molekularen Anziehung zwischen den Flüssigkeitsteilchen unter sich (Kohäsion) und zwischen den Teilchen der Flüssigkeit und der festen Wand (Adhäsion). Die Molekularkraft, mit der zwei Teilchen auseinander wirken, nimmt mit der Entfernung sehr rasch ab und wird schon in sehr geringem Abstand unmerklich. Denkt man sich um ein Teilchen mit diesem Abstand als Radius eine kleine Kugel beschrieben, so umschließt diese Kugel, die Wirkungssphäre, alle Teilchen, die auf das im Mittelpunkt gelegene Teilchen noch einwirken. Liegt dieses Teilchen im Innern der Flüssigkeit, so heben sich die Wirkungen von je zwei in bezug auf den Mittelpunkt symmetrisch liegenden Teilchen gegenseitig auf, und das betrachtete Teilchen erleidet von den Molekularkräften gar keine Einwirkung. Liegt das Teilchen dagegen an der ebenen Oberfläche der Flüssigkeit, so ist nur die eine Hälfte der Wirkungssphäre von wirksamen Teilchen erfüllt, deren Anziehungskräfte sich zu einer Mittelkraft zusammensetzen, die senkrecht zur Oberfläche nach dem Innern der Flüssigkeit gerichtet ist. Eine solche, wenn auch kleinere, nach innen gerichtete Mittelkraft wirkt auch noch auf jedes Teilchen, das um weniger als den Halbmesser der Wirkungssphäre von der Oberfläche absteht. Die der Oberfläche nahen Teilchen sind daher bis zu einer Tiefe gleich dem Radius der Wirkungssphäre einem zur Oberfläche senkrechten, nach einwärts gerichteten Druck, dem Kohäsionsdruck (Binnendruck), unterworfen, der Tausende Kilogramm pro Quadratzentimeter beträgt, und bilden gleichsam eine über die Oberfläche gespannte dünne, elastische Haut, die wie eine gespannte Kautschukmembran bestrebt ist, ihre Oberfläche zu verkleinern. Aus diesem Bestreben der Molekularkräfte, die Oberfläche zu verkleinern (der Oberflächenspannung), entspringt bei gekrümmten Oberflächen ein stets nach der hohlen Seite der Krümmung, also bei konvexer Oberfläche nach dem Innern der Flüssigkeit, bei konkaver nach außen gerichteter Druck. Die Oberflächenspannung kann man leicht an einer Seifenblase beobachten, die man am Ende eines Glasrohres erzeugt hat; unter dem Druck, den die flüssige Hülle nach innen ausübt, strömt die Luft aus dem offenen Ende des Rohres so kräftig aus, daß durch den Luftstrom eine Kerzenflamme ausgeblasen wird; die Seifenblase wirkt wie ein elastischer Sack. Dabei verkleinert sich die Blase mehr und mehr, sie behält dagegen ihre Größe bei, wenn man die Mündung des Röhrchens zuhält, weil alsdann der Druck der im Innern zusammengepreßten Luft der Oberflächenspannung das Gleichgewicht hält.
Wasser, auf eine reine Glasplatte gebracht, zerfließt auf ihr und benetzt sie, Quecksilber dagegen benetzt die Glasplatte nicht, sondern bildet auf ihr abgerundete Tropfen, und ebenso verhält sich Wasser auf einer fettigen unbenetzbaren Fläche. Im erstern Fall ist die Adhäsion des Wassers zum Glas stärker als die Kohäsion der Wasserteilchen unter sich, während im zweiten Fall die Kohäsion des Quecksilbers seine Adhäsion zum Glas übertrifft. Auf ein der Wand anliegendes Flüssigkeitsteilchen wirken also außer der Schwerkraft noch einerseits die Adhäsion mit einer zur Wand senkrechten Kraft und anderseits die Kohäsion mit einer in die Flüssigkeit einwärts gerichteten Kraft. In dem betrachteten Punkt kann die Flüssigkeit nur im Gleichgewicht sein, wenn sich ihre Oberfläche daselbst senkrecht zur Mittelkraft aus diesen Kräften gestellt hat. Der Winkel, den alsdann die Flüssigkeitsoberfläche mit der Wandfläche bildet, heißt der Randwinkel; da seine Größe nur von dem Verhältnis der wirkenden Kräfte abhängt, so ist er bei gleichbleibender Beschaffenheit von Flüssigkeit und Gefäßwand unveränderlich. An benetzter Wand ist der Randwinkel Null. Je nachdem die Mittelkraft aus Adhäsion und Kohäsion nach auswärts in die Gefäßwand hinein oder nach einwärts in die Flüssigkeit hinein gerichtet ist, muß die Flüssigkeit am Rande höher oder tiefer stehen als in der Mitte; ersteres findet statt, wenn die Gefäßwand von der Flüssigkeit benetzt, letzteres, wenn sie nicht benetzt wird. Da sich die Wirkung der Gefäßwand nur auf eine sehr geringe Entfernung erstreckt, so bleibt in einem weiten Gefäß die Oberfläche in der Mitte eben und wagerecht, weil sie sich hier zu Schwerkraft und Kohäsionsdruck senkrecht stellt. In einer engen Röhre dagegen, wo die Wirkung der Wand sich bis zur Mitte oder darüber hinaus geltend macht, muß die Flüssigkeitsoberfläche im Falle der Benetzung die Form einer vertieften Schale, bei Nichtbenetzung die einer gewölbten Kuppe annehmen, oder einen nach oben konkaven, bez. konvexen Meniskus bilden. Die Krümmung der Flüssigkeitsoberfläche bedingt aber einen nach der konkaven Seite der Krümmung, also in einem benetzten Röhrchen nach oben gerichteten Druck, weshalb die Flüssigkeit so weit gehoben wird, bis der hydrostatische Druck der gehobenen Säule dem nach oben wirkenden Kapillardruck das Gleichgewicht hält; ebenso muß in einem nicht benetzten Röhrchen die nach unten gerichtete Spannung der gewölbten Kuppe die Flüssigkeitssäule unter das äußere Niveau hinabdrängen (Kapillarelevation und Kapillardepression). Die kapillare Hebung oder Senkung ist dem Durchmesser des Röhrchens umgekehrt proportional. Die Steighöhe in benetzten Röhren ist nicht von dem Material der Röhren, sondern nur von der Natur der Flüssigkeit abhängig; in einer Röhre von 1 mm Durchmesser erreicht Wasser 30, Schwefelsäure 17, Alkohol 12, Äther 10 mm Höhe. Bezeichnet man die Steighöhe mit h, den Radius der Röhre mit r, mit s das spezifische Gewicht der Flüssigkeit, so ist das Gewicht der gehobenen Flüssigkeit πr2hs. Nennt man ferner a den Zug der Oberflächenspannung auf der Strecke 1, so daß der gesamte Zug am Rande der Flüssigkeitsoberfläche = zπr.a wird, so muß sein: πr2hs = zπra, also hs = 2a/r, wo die für die Flüssigkeit charakteristische Größe a, die Kapillaritätskonstante, wenn h, r und s gemessen worden sind, aus der vorstehenden Gleichung berechnet werden kann. Man findet soz. B. die Kapillaritätskonstanten für Wasser 7,5, Olivenöl 3,5, Petroleum 2,6, Alkohol 2,5, Äther 1,8, Quecksilber 49,0. Diese Zahlen geben in Milligrammen den Zug an, den die Oberflächenschicht auf 1 mm Länge ausübt. Denkt man sich mit W. Thomson (1870) über der Flüssigkeit gesättigten Dampf befindlich statt Luft, so ist die Dampfsäule über der Oberfläche im Kapillarrohr um die Steighöhe kürzer als die außerhalb, somit ihr Druck kleiner. Da Gleichgewicht besteht, folgt also, daß die Dampftension an der konkaven Oberfläche im Kapillarrohr kleiner sein muß als an der ebenen Oberfläche außerhalb. Ebenso findet sich für konvexe Oberflächen die Dampftension größer. Kleine Tropfen verdampfen deshalb in der Nähe von größern, die auf deren Kosten wachsen.
Befettete Nähnadeln schwimmen auf Wasser, da sie die Oberflächenhaut herunterdrücken, so daß die Oberflächenspannung schräg nach oben wirkt und sie hebt. Ein Aräometer mit Scheibe oben am Stil kann untergetaucht durch die Spannung der gehobenen Oberflächenhaut, die den Rand der Scheibe schräg nach unten zieht, am Aufsteigen gehindert werden (Kapillarschwimmer). Ein Heber aus Kapillarrohr (Kapillarheber) füllt sich von selbst, ebenso ein als Heber benutzter Docht. Aus gleichem Grunde können Salzlösungen enthaltende Gefäße durch die Heberwirkung effloreszierender Salzkrusten von selbst auslaufen. Beim Ausfluß von Flüssigkeiten, ebenso bei Erschütterung ebener Flüssigkeitsoberflächen entstehen durch Wirkung der Oberflächenspannung Wellen und Schwingungen, wie bei einer elastischen Membran (Kapillarwellen), aus deren Größe z. B. bei verflüssigten Gasen der Wert der Oberflächenspannung ermittelt werden kann. Ein Tropfen einer Flüssigkeit, der auf einer andern schwimmt (Fettaugen bei der Suppe), wird an jedem Randpunkte von drei Oberflächenspannungen beeinflußt und nimmt infolge der Wirkung dieser Kräfte und der Schwere im allgemeinen Linsenform an. Beim Auftropfen von Öl auf sehr reines, völlig fettfreies Wasser und in andern Fällen ist Gleichgewicht nicht möglich, da die Oberflächenspannung des Wassers weitaus überwiegt und rapide Ausbreitung des Öltropfens bis zu kaum mehr meßbarer Dicke von ca. 100 Millionstel mm veranlaßt, worauf infolge von Lösung, Oxydation etc. Zerfallen eintritt unter Bildung eigentümlicher Figuren, der Kohäsionsfiguren, aus deren Form manchmal die Natur des Öls erkannt werden kann. Auf Quecksilber tritt der Zerfall erst bei ca. 3 Millionstel mm Dicke ein. Wird Öl auf bewegtes Wasser getropft, so wird die Bewegungsenergie zum Teil zur Erzeugung dieser Ausbreitungserscheinungen verbraucht (Wellenberuhigung durch Öl). Tropft man Alkohol auf, so findet ebenfalls Ausbreitung statt, und man kann durch beständiges Nachfließenlassen eine stationäre Strömung, Kontaktbewegung, erhalten, da sich der Alkohol während der Ausbreitung auflöst und zum Teil verdunstet. Solche Kontaktbewegungen bilden sich stets an der Oberfläche verdunstender und erkaltender Flüssigkeiten aus, da durch die Verdunstung, bez. Erkaltung Differenzen der Oberflächenspannung wie zwischen Wasser und Alkohol hervorgebracht werden. Durch Reibung wird die innere Flüssigkeit mit in Bewegung gesetzt und es bilden sich, wenn dieselbe seine Körperchen, z. B. Bronzepulver (suspendiert), enthält, merkwürdige Figuren, Emulsionsfiguren, die auch, wenn schließlich Erstarren eintritt (z. B. bei Firnis), durch die Form der auftretenden Sprünge zum Ausdruck kommen (Entstehung der Basaltsäulen). Ist die Oberflächenspannung an der Grenze zweier Flüssigkeiten = 0, so mischen sich die Flüssigkeiten in allen Verhältnissen, es tritt Diffusion ein, die Grenzfläche wird verwaschen. Läßt man in zwei übereinander geschichtete Flüssigkeiten dieser Art einen Tropfen einer dritten schwereren Flüssigkeit fallen, die mit der obern nicht mischbar ist, wohl aber mit der untern, so tritt beim Auftreffen auf die Grenze eine Art Explosion des Tropfens ein, da an der Kontaktstelle der nach innen gerichtete Druck, soweit er durch die Oberflächenspannung von der Grenze des Tropfens bedingt ist, verschwindet, also der Inhalt des Tropfens an dieser Stelle herausgedrückt wird. Hierdurch können bei zähen Flüssigkeiten oder sehr weichen festen Körpern (fließenden Kristallen) eigentümliche wurst- und zopfförmige Gebilde entstehen, die Myelinformen, die zuerst von Virchow bei in Wasser austretendem Nervenmark beobachtet wurden. Ist der Tropfen leichter als die untere Flüssigkeit, so schwebt er an der Grenze und ist dann nur halbbegrenzt. Am Rande finden dabei infolge der Oberflächenspannung lebhafte Kontaktbewegungen statt, die zur Ablösung kleiner Tröpfchen führen (Emulsionsbildung). Auch feste Körper besitzen Oberflächenspannung und sehr weiche Kristalle, z. B. von ölsaurem Ammoniak, werden dadurch in ihrer Form beeinträchtigt, indem sich Ecken und Kanten abrunden, eventuell die Gestalt wurst- oder eiförmig wird, falls sie frei in einer spezifisch gleichschweren Flüssigkeit schweben, in welchem Falle Flüssigkeiten (z. B. Öl, flüssige Kristalle) vollkommene Kugelform annehmen. Ebenso wie freischwebende Flüssigkeitstropfen (und Kristalltropfen) fließen solche fließende Kristalle, wenn sie in Berührung kommen, zu einheitlichen Individuen zusammen. Vgl. A. Beer, Einleitung in die mathematische Theorie der Elastizität und K. (Leipz. 1869); Boys, Seifenblasen. Vorlesungen über K. (deutsch von G. Meyer, das. 1893); O. Lehmann, Molekularphysik (das. 1888–89, 2 Bde.) und Flüssige Kristalle (das. 1904).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.