Indische Philosophie

Indische Philosophie

Indische Philosophie. Die in den jüngern Teilen des Rigveda (s. Veda) zuerst uns entgegentretende, in den Upanischaden (s. d.) ihren Höhepunkt erreichende ältere indische Spekulation gipfelt in der Lehre vom Brahma (s. d.), dem Ewig-Einen, der Allseele. Während die Lehren der Upanischaden systemlos waren und vielfach einander widersprachen, schuf die spätere Zeit sechs Systeme, die, im Unterschied vom Buddhismus etc., als orthodox und vereinbar mit dem brahmanischen Glauben anerkannt waren. Sie ordnen sich zu je zwei und zwei als Pûrva- und Uttara-Mîmâmsâ, Sânkhjå und Joga, Njâja und Vaiçeschika. Die Pûraa-Mîmâmsâ des Dschaimini enthält Betrachtungen über den Veda, der für ungeschaffen und ewig erklärt wird, über die von diesem vorgeschriebenen Zeremonien und den Lohn, der an sie geknüpft ist. Die Uttara-Mîmâmsâ, meist als Vedanta, »Ziel (oder Ende) des Veda«, bezeichnet, ist begründet von Bâdarâjana, dessen Werk (Brahma Sûtra) von dem großen Exegeten Cankara (um 800 n. Chr.) kommentiert worden ist (vgl. P. Deussen, Die Sûtras des Vedânta nebst dem vollständigen Kommentar des Cankara, aus dem Sanskrit übersetzt, Leipz. 1887). Durchweg auf die Upanischaden sich gründend, lehrt der Vedânta die Identität unsers Selbst mit dem unendlichen, wandellosen Brahma. Es gibt kein Seiendes außer diesem Einen. Die Vielheit der Erscheinungen ist nur ein Wahn, ein Blendwerk (Mâjâ, s. d.); die richtige Erkenntnis vernichtet diesen Wahn, wie der Wahn vernichtet wird, daß eine Schlange sei, wo nur ein Strick ist. Diese Erkenntnis befreit von der Seelenwanderung, vom Dasein in der Welt, die eben als nichtig durchschaut ist; die Erlösung, das Eingehen in das Brahma, ist erreicht; s. auch Advaita. Gegenüber dem Monismus des Vedânta lehrt die Sankhja-Philosophie, wohl schon früher als jener in ein festes System gebracht, auf den mythischen Weisen Kapila zurückgeführt, den Dualismus. Unter ihren 25 Prinzipien (Tatwa) steht auf der einen Seite die Seele (Puruscha) oder vielmehr eine unedliche Vielheit von individuellen Seelen. Auf der andern die Urmaterie oder Natur (Prakriti) und aus ihr hervorgehende weitere 23 Prinzipien. Seele und Natur sind ewig, aber jene ewig unveränderlich, diese ewig veränderlich. Die Seele ist erkennend und nicht schöpferisch, die Natur schöpferisch, aber nicht erkennend. Das alles Leben erfüllende Leiden beruht auf der Nichtunterscheidung von Seele und Natur; die Philosophie räumt diesen Wahn hinweg und befreit dadurch von Leiden und Seelenwanderung. Nunmehr verharrt die Seele gleich einem Spiegel, in den kein Reflex fällt, in ihrem Fürsichsein, »nachdem der Wirrwar der Erscheinungen, ich, du, die Welt etc., geschwunden ist«. Über die Beziehungen des Sânkhjasystems zum Buddhismus s. d. – Das Joga-System, dessen literarische Fixierung dem Patandschali (2. Jahrh. v. Chr.?) zugeschrieben wird, lehrt auf der metaphysischen Grundlage der Sânkhjalehre, jedoch unter Einfügung der Idee eines persönlichen Gottes (Içvara), die Praxis des Joga, d. h. des Bestrebens, durch Versenkung des Geistes Wunderkräfte aller Art und die Erlösung zu erringen. Vorschriften zur Erreichung dieses Zieles sind andauerndes Zurückhalten des Atems, besondere Stellungen, hypnotische Übungen etc. Dadurch soll der Mensch die acht übernatürlichen Fähigkeiten bekommen: sich unendlich leicht oder schwer, klein oder groß zu machen, widerstandslose Erfüllung aller Wünsche, vollkommene Herrschaft über den Körper, desgleichen über den Naturlauf, überall hingelangen zu können. Die Anhänger des Joga (Jogin), großenteils der Verehrung des Çiva (s. d.) ergeben, gegenwärtig nicht besonders zahlreich, widmen sich vielfach grausamen Selbstpeinigungen (die Arme in die Höhe zu halten, bis sie sie nicht wieder senken können, oder in die Luft zu blicken, bis die Muskeln steif werden, die Nägel durch die gefalteten Hände wachsen zu lassen u. dgl.) und sind teilweise zu Gauklern niedrigen Schlages, Wahrsagern, Traumdeutern etc. herabgesunken. Weniger wichtig als die drei letztbesprochenen sind die beiden noch übrigen Systeme. Der Nijâja des Gotama ist vor allem eine Logik. Die Lehre von den Erkenntnismitteln, Syllogismen etc. wird ausführlich und scharfsinnig behandelt. Das Vaiçeschika des Kanâda ist eine atomistische Naturphilosophie. Vgl. Regnaud, Matériaux pour servir á l'histoire de la philosophie de l'Inde (Par. 1876–78, 2 Bde.); Deussen, Philosophie des Veda bis auf die Upanishads. Philosophie der Upanishads (im 1. Bd. seiner »Allgemeinen Geschichte der Philosophie«, Leipz. 1894–99); I. Dahlmann, Der Idealismus der indischen Religionsphilosophie (Freib. i. Br. 1901); Max Müller, The six systems of Indian philosophy (Lond. 1899) und Lectures on the Vedânta philosophy (d. is. 1894); Deussen, Das System des Vedânta (Leipz. 1883); Garbe, Die Sâmkhya-Philosophie (das. 1894) und Sâmkhya und Yoga (in Bühlers »Grundriß der indoarischen Philologie«. Straßb. 1896); Ballantyne, The Aphorisms of the Nyâya philosophy (Allahabad 1850); Röer in der »Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft«, Bd. 21 u. 22.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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