- Hypochondrīe
Hypochondrīe (Hypochondriasis, griech., v. Hypochondrium [s. d.], lat. Morbus eruditorum s. flatuosus), ein psychischer Krankheitszustand, über den in frühern Zeiten unter den Ärzten sehr verschiedene Meinungen obgewaltet haben. Bald sollte der H. ein Gallenübel, bald Stockung und Verstopfung der Unterleibsgefäße und Drüsen zugrunde liegen. Die eine medizinische Schule sah in der H. einen Eingeweidekrampf mit übermäßiger Darmgasentwickelung, die andre ein organisches Gehirnleiden, eine dritte eine schleichende Entzündung der Darmschleimhaut. Die H. ist wesentlich in einer abnormen Tätigkeit der psychischen Funktionen begründet. Ihr hervorstechendstes Merkmal ist die wahnhafte Annahme nicht vorhandener oder die wahnhafte Überschätzung tatsächlich bestehender Krankheitszeichen. Oft ist beim Hypochonder das Primäre eine krankhafte Organempfindung; durch einseitige Konzentration des Denkens auf diese entspringt aus ihr bei der pathologischen affektiven Reaktion auf sie die hypochondrische Wahnvorstellung. Gewöhnlich knüpft der Hypochonder an bestehende Symptome an: ein einfacher Ausschlag erweckt die Furcht syphilitisch zu sein, ein leichter Husten den Verdacht auf Tuberkulose der Lungen etc.; der Hypochonder fühlt Schmerzen in der Brust, sofort untersucht er ängstlich seinen Auswurf und fragt häufig seine Umgebung, ob er nicht abmagere. Oder das Herz klopft eine Zeitlang stärker, die Brust ist beklemmt: sofort fürchtet der Kranke eine drohende Herzerweiterung. Der Kranke quält seine Umgebung, weil sie nicht-genug Sorgfalt für den schwer Leidenden besitzt; Ärzte werden soviel wie möglich gebraucht und populär-medizinische Werke mit ängstlichem Eifer zu Rate gezogen. Gewiß tut man den Hypochondern unrecht, wenn man ihre Leiden nur ihrer Einbildung zuschreibt. Sie fühlen sich allerdings krank, aber die Ursache dieser Empfindungen läßt sich in der Regel nicht klar durchschauen oder steht doch wenigstens außer Verhältnis mit der Schwere des subjektiven Krankheitsgefühls. Die H. befällt das männliche Geschlecht häufiger als das weibliche; das Alter vom 20.–40. Jahr scheint am meisten prädisponiert. Sie kann entstehen durch alle Einflüsse, die schwächend auf das Nervensystem wirken. Sie hat dieselben Ursachen wie andre geistigen Erkrankungen. Die H. entwickelt sich auf dem Boden der verschiedensten Geisteskrankheiten, so auf Grund der traurigen Verstimmung der Melancholie. Die krankhafte Depression erweckt die Wahnvorstellung, ein unheilbares Leiden zu haben. Der Paranoiker kommt durch Sinnestäuschungen zu der Vorstellung, daß sein Leib einfällt, sein Magen schrumpft, daß man ihm den Samen abzieht etc. Nicht zu vergessen ist, daß hypochondrische Wahnvorstellungen auch bei der progressiven Paralyse vorkommen. Gewöhnlich weist der absurde Charakter derselben (Verschluß des Afters, Flüssigwerden des Gehirns, Fehlen des Magens etc.) auf das Bestehen der schweren Gehirnerkrankung hin. Die H. ist von großer Hartnäckigkeit und begleitet den Betreffenden oft bis an seines Lebens Ende. Sie schädigt die ethische und intellektuelle Persönlichkeit des Kranken, die einseitige Konzentration auf seinen Gesundheitszustand läßt ihn alles andre vernachlässigen, Familie, Gesellschaft und Beruf, es entwickelt sich ein krasser Egoismus. Die beständige Krankheitsfurcht macht ihn reizbar und verstimmt. Die H. hemmt die Leistungsfähigkeit bis zu teilnahmlosem Hinbrüten, sie zeitigt häufig Lebensüberdruß und kann in wirkliche Verrücktheit oder Geistesschwäche übergehen. In jedem Fall ist nur geringe Aussicht auf dauernde Besserung vorhanden, namentlich ist bei Hypochondern, wie bei andern Geisteskranken, der Versuch, das Leiden mit Logik und Vernunftgründen zu bekämpfen, absolut aussichtslos. Der häufige Wechsel der Ärzte, das übermäßige Medizinieren, das Haschen nach neuen Mitteln und die zahllosen diätetischen Fehler sind ebenso viele Hindernisse einer erfolgreichen Behandlung und einer möglichen Heilung. Die Heilung ist daher eine der schwierigsten Aufgaben für den Arzt. Eine einmalige vernünftige Belehrung, genaues Eingehen auf die geklagten Beschwerden durch körperliche Untersuchung, Abhärtung und Übung, Ablenkung durch passende Beschäftigung sind die Grundzüge der psychischen Behandlung. Tatsächlich bestehende krankhafte Veränderungen des Körpers werden nach den allgemeinen Grundsätzen der Medizin bekämpft. Sobald sich Zeichen einer ausgesprochenen Geistesstörung einstellen (Selbstmordideen etc.), ist die Unterbringung des Kranken in eine Irrenanstalt dringend geboten. Vgl. Wittmaack, Die H. in pathologischer und therapeutischer Beziehung (Leipz. 1857); Jolly in Ziemssens »Handbuch der speziellen Pathologie und Therapie«, Bd. 12, 2. Hälfte (2. Aufl., das. 1877); Weber, H. und eingebildete Krankheiten (Berl. 1887); Wollenberg, Die H. (Wien 1904).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.