- Girardin
Girardin (spr. schirardäng), 1) Cécile Stanislas Xavier, Graf von, franz. Politiker, geb. 15. Jan. 1762 in Lunéville, gest. 27. Febr. 1827, war Kapitän in einem Dragonerregiment. Ein begeisterter Anhänger der Revolution, wurde er als Abgeordneter des dritten Standes in die Nationalversammlung gewählt, wo er sich anfangs zur äußersten Linken hielt, aber allmählich aus Furcht vor der Anarchie der Rechten sich näherte und 10. Ang. 1792 das konstitutionelle Königtum verteidigte. Deshalb warfen ihn die Jakobiner ins Gefängnis, bis der Sturz Robespierres ihm die Freiheit wiedergab. 1806 begleitete er Joseph Bonaparte nach Neapel. Zum Brigadegeneral befördert, ging er 1808 mit Joseph nach Spanien, wurde nach seiner Rückkehr Mitglied des Gesetzgebenden Körpers und 1812 Präfekt des Departements der untern Seine. Da er nach der Restauration sich in der Abgeordnetenkammer zur Opposition hielt, verlor er 1820 seine Präfektenstelle. Dagegen behielt er seinen Platz in der Kammer auf der äußersten Linken bis 1826. G schrieb: »Mémoires, journal et souvenir« (Par. 1828, 5 Bde.).
2) Alexandre, Graf von, Bruder des vorigen, geb. 16. Jan. 1776, gest. 5. Aug. 1855, nahm an den Feldzügen Napoleons I. mit Auszeichnung teil und ward 1814 Divisionsgeneral. Später von entschieden royalistischer Gesinnung, wurde er Oberjägermeister Karls X. Nach der Julirevolution lebte er zurückgezogen. G. veröffentlichte: »Mémoire sur la situation politique et militaire de l'Europe« (1844) u. a.
3) Ernest Stanislas, Graf von, franz. Kammermitglied, ältester Sohn von G. 1), Besitzer von Ermenonville, geb. 24. Juli 1802, gest. 2. Jan. 1874 in Paris, stand erst in Militärdiensten und saß seit 1830 zweimal in der Kammer, wo er mit der liberalen Minorität stimmte. 1848 und 1849 war er Mitglied der Konstituante und Legislative und gehörte zur gemäßigten Partei. Am 26. Jan. 1852 ernannte ihn Ludwig Napoleon zum Senator.
4) Jean, Chemiker, geb. 16. Nov. 1803 in Paris, gest. 29. Mai 1884 in Rouen, trat 1821 in das pharmazeutische Laboratorium der Hospitäler von Paris, 1825 in das Laboratorium von Thénard und erhielt 1828 die Professur der angewandten Chemie in Rouen. Hier richtete er auch einen Kursus der angewandten Chemie für Arbeiter ein und veröffentlichte diese Vorlesungen als »Leçons de chimie élémentaire, appliquée aux arts industriels« (1837; 6. Aufl. 1880, 5 Bde.). 1838 wurde er zum Professor der Agrikulturchemie an der auf seinen Antrieb gegründeten Ecole d'agriculture ernannt. 1848 begann er seine Vorlesungen über den Dünger im Depart. Niederseine und übte einen großen Einfluß auf die Fortschritte der Kultur in der Normandie. 1858 folgte er einem Rufe nach Lille, 1868 wurde er Rektor der Akademie zu Clermont und 1873 Professor der Agrikultur- und industriellen Chemie in Rouen. Er schrieb: »Éléments de minéralogie appliquée aux sciences chimiques« (1826, 2 Bde.); »Considérations générales sur les volcans« (1830); »Du sol arable« (2. Aufl. 1842); »Des fumiers et autres engrais animaux« (7. Aufl. 1875); »Résumé des conférences agricoles sur les fumiers« (3. Aufl. 1854); »Moyens d'utiliser le marc de pommes« (4. Aufl. 1854); »Des marcs dans nos campagnes« (1854); »Traité élémentaire d'agriculture« (3. Aufl. 1874, 2 Bde.); »Chimie générale et appliquée« (1868–69, 4 Bde.); »Leçons de chimie élémentaire appliquée aux arts industriels« (6. Aufl. 1880, 5 Bde.).
5) Delphine Gay, seit 1831 Madame Emile de, franz. Dichterin, geb. 26. Jan. 1804 in Aachen, gest. 29. Juni 1855 in Paris, Tochter der Schriftstellerin Sophie Gay, machte sich schon in ihrem 17. Jahr als Dichterin (auch durch ihre Schönheit) bekannt und erhielt von der Akademie einen Preis. Ihr Ruf gründet sich namentlich auf ihre Poesien, die als »Essais poétiques« (Par. 1824–26, 2 Bde., u. ö.) erschienen. Außerdem schrieb sie Romane (»Le Lorgnon«, »Marguerite«) und Theaterstücke (»Judith«, 1843; »Lady Tartufe«, 1853; »La joie fait peur«, deutsch von H. Laube, in Reclams Universal-Bibliothek, u. a.). Großen Erfolg hatten ihre »Lettres parisiennes« (1843), die sie unter dem Namen eines Vicomte de Launay 1836–39 in der »Presse« veröffentlichte. Ihre »Œuvres complètes« erschienen 1861 in 6 Bänden. Vgl. Imbert de Saint-Amand, Madame de G. (5. Aufl. 1888).
6) Emile de, franz. Publizist, geb. 22. Juni 1806 in der Schweiz als illegitimer Sohn des Grafen Alexandre G. (s. oben 2), der ihn 1847 anerkannte, starb 27. April 1881 in Paris. Er wurde 1823 im Kabinett des Generalsekretärs der königlichen Museen angestellt und einige Jahre später Kunstinspektor im Ministerium des Innern. Literarisch machte er sich zuerst bekannt durch den Roman »Émile«, worin er seine Herkunft und die Geschichte seiner Kindheit berichtet, sowie durch Gründung mehrerer Blätter, des »Voleur« (1828) und der »Mode« (1829), denen nach der Julirevolution das »Journal des connaissances utiles« (1831) und das »Musée des familles« (1832) folgten. Gleichzeitig beteiligte er sich bei verschiedenen industriellen Unternehmungen und Spekulationen. 1834 zum Abgeordneten in die Kammer gewählt, tat er sich als eifriger Ministerieller hervor und gründete das Journal »La Presse« als Organ der Hofpartei, dessen Schmähungen ihn in einen Zweikampf mit dem Redakteur des »National«, Armand Carrel (s.d.), der im Duell blieb, verwickelten. Für sein Journal, bei dem er als erster in Frankreich den Reklameschwindel einführte, bezog er vom Hof reichliche Unterstützung. Nach den Februartagen 1848 wechselte er beständig die Partei, je nachdem sein persönlicher Vorteil ihn die eine oder die andre vorziehen ließ. 1850 und 1851 nahm er teil an den Friedenskongressen zu Frankfurt und London. 1856 verkaufte er die oberste Redaktion der »Presse« an die Bankiers Millaud u. Komp. Trotz liberalen Scheins diente seine Tätigkeit doch der Verherrlichung des Kaisertums. Als es ihm gleichwohl nicht gelang, das gewünschte Portefeuille zu erhalten, kehrte er 1862 zu der publizistischen Tätigkeit zurück, leitete wieder bis 1866 die »Presse« und gründete 1867 die imperialistische »Liberté«, die er zu maßlosen Hetzereien gegen Preußen benutzte. Noch vor der Belagerung von Paris 1870 zog er sich nach Limoges zurück, gründete hier das Journal »La Défense nationale«, ließ dann seit April 1871 »L'Union française« erscheinen, worin er die Idee einer Umgestaltung Frankreichs in eine Föderativrepublik vertrat, erwarb späterhin das »Journal officiel« und übernahm im November 1874 die Direktion der »France«. Hier trug er 1877 wesentlich zum Sturz der reaktionären Regierung vom 16. Mai bei, gewann sich dadurch aufs neue Popularität und wurde in die Deputiertenkammer gewählt. 1881 verzichtete er auf eine Wiederwahl und zog sich reich und mit dem Ruf des größten französischen Puplizisten der Gegenwart ins Privatleben zurück. Von seinen zahlreichen Schriften heben wir noch hervor: »Études politiques« (2. Aufl. 1849); »De l'instruction publiqueen France« (neue Ausg. 1842); »De la liberté de la presse, etc.« (1842); »Les Cinquantedeux« (1848, 13 Bde.); »La politique universelle, décrets de l'avenir« (Brüss. 1852, 4. Aufl. 1854); »La séparation de l'Église et de l'État« (1861); »Paix et liberté« (1864); »Les droits de la pensée« (1864); »Force ou richesse« (1864); »Le succès« (1866); »La voix dans le désert« (1868); »Le gouffre« (1870); »Hors de Paris« (Bordeaux 1870); »L'Union française, extinction de la guerre civile« (1871); »L'homme et la femme. L'homme suzerain, la femme vasalle, réponse à l'homme-femme de Mr. Dumas fils« (1872); »Grandeur ou déclin de la France« (1876); »La question d'argent« (1877); »L'égale de l'homme« (wieder über die Frauenfrage, 1880, eine Entgegnung auf Dumas' »Les femmes qui tuent, etc.«) etc. Eine Auswahl seiner Journalartikel erschien gesammelt unter den Titeln: »Questions de mon temps« (1858, 12 Bde.) und »Questions philosophiques« (1868). Auch mehrere Lustspiele hat G. verfaßt, z. B. »Le supplice d'une femme« und »Les deux sœurs« (beide 1865 aufgeführt, jenes mit, dieses ohne Erfolg), »Le mariage d'honneur« (1886), »Les hommes sont ce que les femmes les font« (1872) u. a. – Verheiratet war G. 1831–55 mit der Dichterin Delphine Gay (s. oben G. 5), darauf mit Wilhelmine Brunold, Gräfin Tieffenbach, der Stieftochter des Prinzen Friedrich von Nassau, von der er sich jedoch 1872 wieder trennte.
7) François Auguste Saint-Mare, franz. Publizist, s. Saint-Mare Girardin.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.