- Rouen
Rouen (spr. ruāng), Hauptstadt des franz. Depart. Niederseine, ehemalige Hauptstadt der Normandie, liegt unter 49°26´ nördl. Br. und 1°6´ östl. L., 5 m ü. M., am rechten Ufer der Seine, die hier, 130 km vom Meere, noch Ebbe und Flut aufweist, und ist Knotenpunkt der Westbahn (Linien Paris-Le Havre, R.-Elbeuf) und der Nordbahn (R.-Amiens) mit vier Bahnhöfen. Obwohl R. seine frühere Stellung als Haupthafen des Seinegebietes im Laufe des 19. Jahrhunderts an Le Havre abtreten mußte, ist es doch noch immer als einer der wichtigsten Handels- und Hafenplätze und eine der ersten Fabrikstädte Frankreichs von großer Bedeutung. Die eigentliche Stadt ist mit der Vorstadt St.-Sever am linken Ufer der Seine durch eine steinerne, über die Insel Lacroix führende Brücke (von 1829) mit sechs Bogen und eine eiserne Brücke verbunden. Das frühere altertümliche und charakteristische Aussehen von R., seine alten Straßen und Häuser sind zum großen Teile der modernen Umgestaltung der Stadt zum Opfer gefallen. Es hat einen Gürtel von Boulevards, welche die Stelle der alten Festungswerke einnehmen, schöne Kais, einige breite Straßen (Rue de la République, Rue Jeanne d'Arc) und mehrere größere Plätze, darunter den Platz des Stadthauses und den alten Marktplatz. Unter den Kirchen sind die hervorragendsten die Kathedrale (Notre-Dame) und die Kirche St.-Ouen, zwei gotische Bauwerke, erstere dem Stil des 13., letztere dem des 14. Jahrh. angehörend. Die Kathedrale hat eine reiche Fassade (16. Jahrh.) mit zwei freistehenden Türmen, einem nördlichen, St.-Romain, und einem südlichen, Tour de Beurre (beide je 75 m hoch), eine 148 m hohe eiserne Pyramide über der Vierung und zwei schöne Seitenportale (15. Jahrh.). Das Innere der Kirche (135 m lang, im Querschiff 52 m breit, 28 m hoch) enthält wertvolle Glasmalereien und 25 Kapellen, darunter die der heiligen Jungfrau mit schönen Grabdenkmälern, insbes. von Pierre und Louis Brézé (das Denkmal des letztern wurde von seiner Witwe, Diana von Poitiers, errichtet) und dem großen Doppelmonument der beiden Kardinäle von Amboise (in schwarzem und weißem Marmor 1518–25 ausgeführt). Die Kapitelbibliothek enthält einen reichen Kirchenschatz. Die ehemalige Abteikirche St.-Ouen wurde 1318–1550 erbaut und zeichnet sich namentlich im Innern durch ihre harmonischen Verhältnisse aus; sie hat einen schönen, 82 m hohen Turm über der Vierung (16. Jahrh.), ein elegantes Südportal (des Marmousets) mit Vorhalle und wurde an der westlichen Hauptfassade 1846–58 mit zwei neuen, 76 m hohen Türmen und einem Portal versehen. Unter den andern Kirchen sind die der spätesten Epoche des gotischen Stils angehörende Kirche St.-Maclou (1437–1521) mit 88 m hohem, 1868–70 erneuertem Turm, schönen Skulpturen und Holztüren (von Jean Goujon), die Kirchen St.-Vincent, St.-Godard und St.-Patrice, sämtlich mit schönen Glasmalereien, endlich in der westlichen Vorstadt die romanische Kirche St.-Gervais (1872–74 erneuert) mit uralter Krypte zu erwähnen.
Das hervorragendste weltliche Gebäude ist der Justizpalast (aus dem 15. und 16. Jahrh., 1842 bis 1885 restauriert und ergänzt), ehemals Parlamentspalast, ein prächtiges spätgotisches Bauwerk mit reichverzierter Fassade und schönen Sälen, insbes. dem kühn gewölbten Saal des Procureurs oder des Pas perdus und dem Saal des Assisenhofes mit schöner Holzdecke. Bemerkenswert sind außerdem: das erzbischöfliche Palais (aus dem 15. Jahrh.); das Stadthaus, ein Teil der ehemaligen Abtei St.-Ouen (18. Jahrh.); der gotische Uhrturm (von 1389, 1892 erneuert); der sogen. Turm der Jeanne d'Arc, Rest des alten von Philipp August erbauten Schlosses; der Turm St.-André, Rest einer Kirche aus dem 15. Jahrh.; das Hôtel du Bourgtheroulde (aus dem 15. Jahrh.) mit schönem Hof und Reliefs, insbes. Darstellung der Zusammenkunft Franz' I. mit Heinrich VIII.; drei Theater, darunter das Theater des Arts (1881), die Börse (18. Jahrh.), das Zollhaus (18. und 19. Jahrh.), das Gebäude des Museums und der Bibliothek (1880). Eine bronzene Reiterstatue Napoleons I. (von Dubray, 1865) erhebt sich auf dem Platze des Stadthauses. Eine Statue Corneilles (von David d'Angers, 1834) steht auf der Brücke, eine von Boieldieu (von Dantan jun., 1839) auf dem Börsenkai. Ferner hat die Stadt Denkmäler der Jeanne d'Arc (1892), des Abbé de la Salle (1875), Armand Carrels (1387), Gustav Flauberts (1890) und Pouyer-Quertiers, zahlreiche Fontänen, darunter die große Fontäne Ste. – Marie (1879), und außer den Boulevards mehrere Squares und Anlagen (Jardin Solferino, die Anlage beim Stadthaus u.a.). Für den Lokalverkehr bestehen Straßenbahnen und Dampferlinien.
Die Zahl der Einwohner von R. beläuft sich auf (1906) 118,459. Ihre Hauptbeschäftigung bilden Industrie und Handel, in ersterer Beziehung vor allem die Baumwollindustrie, für die R. gegenwärtig in ganz Frankreich den ersten Rang behauptet. In der Stadt und Umgebung sind 1,223,000 Spindeln und 24,000 Webstühle (14,000 mechanische) tätig, die Druckware, Möbel- und Kleiderstoffe, Krawatten, sogen. Rouenneries, d.h. Stoffe aus gefärbten Garnen, insbes. Taschentücher etc., liefern. Daneben ist in R. die Fabrikation von bunten Schafwoll- und von gemischten Geweben sowie die Flachsspinnerei und Leinweberei vertreten. Andre Industriezweige von R. sind: die Fabrikation von Maschinen (insbes. Gaskraft- und Schiffsmaschinen), Eisenwaren, chemischen Produkten, Seifen, Kerzen, Bürsten, Spiritus, Leder, Schuhwaren, Konfitüren, die Petroleumraffinerie sowie der Schiffbau.
Der von der Seine gebildete, für Seeschiffe zugängliche Hafen besteht aus dem Hauptbassin und zwei Bassins für Holz und Petroleum (zwischen mehreren Flußinseln) und ist mit Kais in einer Ausdehnung von 6,2 km, Schienengleisen, Dampfkränen und Magazinen ausgestattet. Die Handelsmarine von R. umfaßte Ende 1901: 91 Schiffe von 19,079 Ton. Im internationalen Verkehr sind 1901: 1482 beladene Schiffe von 916,882 T. ein- und 480 Schiffe von 218,842 T. ausgelaufen. Der Hauptverkehr findet mit England, Rußland, Algerien und den Vereinigten Staaten von Nordamerika statt. Der Warenverkehr (Spezialhandel) belief sich auf 1,823,386 T. im Werte von 189,3 Mill. Fr. in der Einfuhr und auf 186,226 T., resp. 47,5 Mill. Fr. in der Ausfuhr. Die bei der Einfuhr erhobenen Zölle betrugen 33,84 Mill. Fr. Die Hauptartikel waren in der Einfuhr: Getreide (39,6 Mill. Fr.), Wein (22,7), Holz (22,3), Kohle (20,8), Mineralöl (16,8), Papierzeug (10), Maschinen, Kobalt, Gemüse, chemische Produkte, Kupfer, Hanf, Eisen etc.; in der Ausfuhr: Zucker (12,7 Mill. Fr.), Fässer, Metallwaren, Baumwollengewebe, Felle, Chemikalien, Waffen und Munition, Spirituosen. Zu obigen Ziffern kommt noch die Küstenschiffahrt, bei der 951 Schiffe von 191,838 T. ein- und 977 Schiffe von 213,716 T. ausliefen. Die Einfuhr bestand aus Wein, Getreide und Mehl, Holz etc. (zus. 211,163 T.), die Ausfuhr aus Baumaterialien, Fässern, Salz, Webwaren etc. (zus. 101,761 T.). An Wohltätigkeitsinstituten sind zu nennen: 3 Zivilspitäler, eine Blindenanstalt, 2 Irrenanstalten, ein Waisenhaus u.a. Sehr reich ist R. an Unterrichts- und Bildungsanstalten. Hierher gehören: ein Lyzeum, ein großes und ein kleines Seminar, Vorbereitungsanstalten für Medizin und Pharmazie sowie für den höhern Unterricht, eine Sternwarte, ein Mädchenlyzeum, eine Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalt, eine hydrographische Schule, eine höhere Handels- und Gewerbeschule, eine Handels- und Gewerbeschule für Mädchen, eine Kunstschule, eine Ackerbau-, eine Gartenbau-, eine Notariatsschule und ein Taubstummeninstitut. Außerdem befinden sich hier eine Akademie der Wissenschaften und Künste, mehrere wissenschaftliche und gemeinnützige Gesellschaften, eine Bibliothek (135,000 Bände, 350 Inkunabeln und 3800 Manuskripte), ein Kunstmuseum (mit Skulpturen, Gemälden, keramischen Werken etc.), ein Antiquitäten-, ein naturhistorisches, ein Industrie- und Handelsmuseum und ein Botanischer Garten. R. ist Sitz des Präfekten, des 3. Armeekorpskommandos, eines Erzbistums, eines protestantischen Konsistoriums, eines Appell- und Assisenhofs, eines Handels- und Seegerichts und mehrerer Konsuln fremder Staaten (darunter eines deutschen Vizekonsuls); es hat eine Handels- und Ackerbaukammer, eine Börse, eine Filiale der Bank von Frankreich. 4 km östlich von R. auf aussichtsreichem Hügel (mit Drahtseilbahn) liegt Blosseville (1761 Einw.) mit der 1838–50 im gotischen Stile des 13. Jahrh. erbauten Wallfahrtskirche Bon Secours und einem Denkmal der Jeanne d'Arc. Wichtigere industrielle Vororte von R. sind: am rechten Seineufer Déville, Bois-Guillaume, Darnétal, am linken Ufer Sotteville und Petit Quevilly (s. die betreffenden Artikel). R. ist Geburtsort der Dichter Pierre und Thomas Corneille, des Komponisten Boieldieu, der Maler Jouvenet und Géricault, des Romanschriftstellers Flaubert u.a.
Bei den Alten hieß R. Rotomagus und war Hauptstadt der Vellokasser und unter Konstantin d. Gr. Hauptstadt der Provincia Lugdunensis secunda. Im Mittelalter hieß es Rothomum und Rodamum. 841 wurde die Stadt von den Normannen eingenommen. Seit der Belehnung Rollos 911 war sie Hauptstadt der Normandie und Residenz ihrer Herzoge und stand daher, wie diese Provinz, seit Wilhelm dem Eroberer (1066) unter englischer Herrschaft. Um 1175 erhielt sie eine freie Kommunalverfassung. 1204 wurde sie von Philipp August von Frankreich dem König Johann ohne Land entrissen. 1419–49 hielten die Engländer sie besetzt, und 1431 wurde in R. die Jungfrau von Orléans verbrannt. Die Eroberung Rouens 1562, das von Montgomery verteidigt wurde, war einer der besten Erfolge, welche die katholische Partei in den Hugenottenkriegen davontrug. Heinrich IV. belagerte R. 1591–92 vergebens und erhielt es erst 1594 durch Kapitulation. Am 25. Febr. 1848 wurden bei einem Tumult die Fabrikstätten der englischen Spinnereien demoliert; am 27. und 28. April 1848 fand hier ein Barrikadenkampf wegen der Wahlen statt. Im deutsch-französischen Kriege war R. vom 6. Dez. 1870 bis 22. Juli 1871 von deutschen Truppen besetzt. Vgl. Périaux, Histoire de la ville de R. (Rouen 1874); Chéruel, Histoire de R. pendant l'époque communale (das. 1843–44, 2 Bde.); Girieud, R. et ses monuments (das. 1899); Le Corbeiller, Histoire du port de R. et de son commerce (das. 1902); Enlart, R. (in der Sammlung »Les villes d'art celèbres«, Par. 1904).
Seit dem 16. Jahrh. besaß R. eine Fayencefabrikation, die sich um die Mitte des 17. Jahrh., vornehmlich durch Edme Poterat, zu großer Blüte entwickelte und erst um 1830 erlosch. Anfänglich von Nevers beeinflußt, bildete sich der Industriezweig später nach japanischen, chinesischen und holländischen Mustern. Die ältesten Fabrikate zeichnen sich durch milchweißes Email aus, das später gräulich, bläulich und grünlich wird. Die Verzierungen waren meist blau, seltener rot und gelb. Für das 17. Jahrh. ist die Lambrequin- und Spitzenverzierung charakteristisch, für die Rokokozeit Füllhörner, Blumen und Insekten. Man fabrizierte außer Gebrauchsgeschirr auch Öfen, Kamine, Wand- und Bodenplatten, Apothekergefäße, Vasen, Schreibzeuge, Weihkessel, Laternen, Jardinieren, kleine Möbel, Spiegelrahmen, Figuren etc. (Fabrikmarke s. Abbildung).
Vgl. Pottier, Histoire de la faïence de R. (Rouen 1870); Milet, Histoire de la faïence et de la porcelaine de R. an XVII. siècle (das. 1902).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.