Pestalozzi

Pestalozzi

Pestalozzi, Johann Heinrich, der einflußreichste Pädagog der neuern Zeit, geb. 12. Jan. 1746 in Zürich, gest. 17. Febr. 1827 in Brugg (Aargau). Das Vorbild des Großvaters, Pfarrers P. in Höngg (den Vater, einen Chirurgen, hatte er schon 1751 verloren), regte Neigung zum seelsorgerischen Beruf und warme Liebe zum niedern Volk an. Begeistert durch Rousseaus »Émile« (1762), beschloß P., ein Reformator der Volkserziehung zu werden. Das theologische Studium wie das der Rechte gab er auf, noch bevor seine Schulbildung aus Ziel gelangt war, und wurde Landwirt. Um praktisch zu zeigen, wie man durch Verbindung der Landwirtschaft mit Fabrikation und häuslicher Erziehung den Nachteilen einer verkünstelten Kultur entgegenzuwirken und das Volk aus physischem und sittlichem Elend zu Wohlstand und Sittlichkeit zu erheben vermöchte, kaufte er 100 Morgen Wustung bei Birr (Aargau, 1769) und errichtete darauf das Landgut Neuhof (1771). Das Unternehmen, besonders auf Krappkultur gegründet, schlug fehl. Ebenso scheiterte er mit einer Erziehungsanstalt für arme Kinder, die er 1774 mit 50 Zöglingen in Neuhof eröffnete; sie ging 1780 ein. Es folgten Jahre der Not und Demütigung für P. Doch sein Stern ging in andrer Weise wieder auf. Er trat als Schriftsteller hervor. 1780 erschien die »Abendstunde eines Einsiedlers« in Iselins, seines treuen Gönners, »Ephemeriden«. Diese Aphorismen enthalten das pädagogische Programm Pestalozzis. Bald darauf erschien seine berühmte Dorfgeschichte »Lienhardt und Gertrud« (Berl. 1781–89, 4 Bde.; oft aufgelegt). Der Erfolg dieses Buches war großartig; dessen Fortsetzung: »Christoph und Else, Versuch eines Lehrbuches zum Gebrauch der allgemeinen Realschule der Menschheit, ihrer Wohnstube« (Zürich 1782) sprach weniger an. In diese Zeit fällt neben manchen kleinern Aufsätzen sozialpolitischer Tendenz auch seine kleine Schrift: »Gesetzgebung und Kindermord« (1783). Eine Reise nach Leipzig (1792) brachte ihn in nähere Beziehung zu deutscher Wissenschaft und Literatur. Persönlich bekannt wurde er vermutlich mit Schiller. Im folgenden Jahr in der Schweiz trat ihm Fichte näher. Fichtes Einfluß zeigt die tiefsinnige Schrift »Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwickelung des Menschengeschlechts« (1797). Von der französischen Republik zum Ehrenbürger ernannt, trat P. als literarischer Vorkämpfer der neuen Ideen, die er von ihrer edelsten Seite auffaßte, in den Dienst des Direktoriums, dessen Mitglieder Stapfer und Legrand ihm geistverwandt und befreundet waren. Im Herbst 1798 infolge der Verwüstung des Kantons Unterwalden durch die Franzosen gründete das Direktorium ein Waisenhaus zu Stans und stellte P. an dessen Spitze. Dieser sammelte im vormaligen Ursulinerkloster zu Stans 80 verwaiste oder verwahrloste Bettelkinder um sich. Das Lernen suchte er, wie früher in Neuhof, mit Handarbeiten, die Unterrichts- mit einer Industrieanstalt zu verbinden. Auch versuchte er, Kinder durch Kinder unterrichten zu lassen. Dies Unternehmen, der eigentliche Glanzpunkt in Pestalozzis Wirken, unterbrach schon 1799 der Wiederbeginn der Kriegswirren. P., körperlich erschöpft, suchte bei der Heilquelle auf dem Gurnigel im Berner Oberland Erholung. Von da ging er nach Burgdorf im Kanton Bern, um hier an mehreren der vorhandenen Ortsschulen seine praktischen Studien über die von ihm angestrebte natur- und kulturgemäße Unterrichtsmethode fortzusetzen. Er mußte aber schon nach einem Jahr wegen Brustleidens zurücktreten. Gleichwohl eröffnete er bald darauf in Verbindung mit Krüsi und Tobler eine Erziehungsanstalt nebst Lehrerseminar im Burgdorfer Schloß (1800), die von der Regierung auf Stapfers Empfehlung hin unterstützt wurde. 1802 ging P. als erwähltes Mitglied der Schweizerdeputation nach Paris. Vor seiner Abreise veröffentlichte er: »Ansichten über die Gegenstände, auf welche die Gesetzgebung Helvetiens ihr Augenmerk zu richten hat« (Bern 1802). Eine Denkschrift über das, was der Schweiz not tue, übergab er in Paris dem Ersten Konsul, erhielt aber von diesem die Antwort, er könnte ins ABC-Lehren sich nicht mischen. Während seines Aufenthalts in Burgdorf schrieb P.: »Wie Gertrud ihre Kinder lehrt; ein Versuch, den Müttern Anleitung zu geben, ihre Kinder selbst zu unterrichten« (Bern u. Zürich 1801) und mit Krüsi das »Buch der Mütter, oder Anleitung für Mütter, ihre Kinder bemerken und reden zu lehren« (das. 1803). In Gemeinsamkeit mit den übrigen Lehrern wurden abgefaßt und unter Pestalozzis Namen veröffentlicht: »ABC der Anschauung oder Anschauungslehre der Maßverhältnisse« und »Anschauungslehre der Zahlverhältnisse«. Die Berner Regierung räumte für Pestalozzis Anstalt 1804 das Kloster Münchenbuchsee ein und ließ dieses hierzu einrichten. Pestalozzis Bestrebungen wurden inzwischen in immer weitern Kreisen bekannt und beachtet. Er hatte, namentlich aus Deutschland, Zuspruch von vielen Fremden, die seine Methode durch Augenschein kennen zu lernen wünschten. Da aber die Ordnung in der Hauswirtschaft fehlte, ging das Institut bald zurück; weshalb die Lehrer, besonders Tobler und Muralt, Ökonomie und Direktion der Anstalt an den von P. angeregten Philanthropen Ph. E. v. Fellenberg, der nahe bei Buchsee, in Hofwil, wohnte, übergaben. P. folgte darauf gern der Einladung, die von Iferten (Yverdon) aus an ihn erging, dort eine Erziehungsanstalt für Kinder aus allen Ständen und zugleich eine Anstalt für Lehrerbildung zu begründen. Diese Anstalt erlangte unter seiner Leitung europäische Berühmtheit (vgl. Israel, Pestalozzis Institut in Iferten, Gotha 1900). Von P. angeregte und ausgebildete Volksschullehrer wirkten belebend nicht nur in ganz Deutschland, namentlich in dem von Napoleon niedergeworfenen Preußen, sie unterrichteten auch in Madrid, Neapel und Petersburg; Kaiser Alexander von Rußland bezeigte ihm persönlich sein Wohlwollen; Fichte erblickte in Pestalozzis Wirken den Anfang einer Erneuerung der Menschheit; Herbart erbaute auf Pestalozzis Grundlagen sein System der Pädagogik. Dieser außerordentliche Erfolg machte P. zu sicher in bezug auf das, was er erreicht hatte, und verleitete ihn öfters zur Unterschätzung dessen, was bereits anderwärts für Unterricht und Erziehung geschehen war. Zunächst waren allerdings die Leistungen des Instituts glänzend; doch gehörten die Zöglinge je länger, desto mehr den höhern Ständen an; die unmittelbare Wirksamkeit für das niedere Volk, die P. eigentlich als seine Lebensaufgabe ansah, trat zurück. Allmählich erhob sich auch Widerspruch gegen Pestalozzis Ansichten und zumal gegen sein Institut, in dem allerdings bei seiner Unfähigkeit zur Leitung und Haushaltung manches wunderlich durcheinander lief. Infolge der Zwistigkeiten unter den Lehrern, besonders dem Theologen Niederer und dem Rechenmeister Schmid, wich zuletzt aller Segen von der Anstalt und von Pestalozzis Unternehmen. 1818 schloß Joseph Schmid mit Cotta einen Kontrakt zur Herausgabe sämtlicher Werke Pestalozzis. Da bedeutende Subskriptionen einliefen, erwachten in dem immer jugendlichen Geist Pestalozzis neue Hoffnungen für sein Streben; er bestimmte 50,000 franz. Livres, »welche die Subskription ertragen werde«, zu pädagogischen Zwecken und errichtete eine Armenanstalt zu Clindy, in der Nähe von Iferten, die später mit der Hauptanstalt räumlich vereinigt ward. 1825 löste P. das Institut zu Iferten auf und kehrte nach Neuhof zurück, wo er den »Schwanengesang« und seine »Lebensschicksale« schrieb. In diesen letzten Schriften hat P. mit rührender Offenheit die Fehler und Mißgriffe eingestanden, die das Mißlingen seiner praktischen Versuche mit bedingt haben. Noch im selben Jahre ward er zum Vorstande der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach erwählt. Im folgenden Jahre las er noch der Kulturgesellschaft in Brugg eine Abhandlung vor: »Über die einfachsten Mittel, das Kind von der Wiege an bis aus sechste Jahr im häuslichen Kreise zu erziehen«. Bei klarster Kenntnis der menschlichen Natur im allgemeinen war P. unfähig, die einzelnen Menschen zu durchschauen und zu leiten. Er sah die schönsten Ideale als Ziel seines Lebens vor sich und beleuchtete den zu ihnen führenden Weg wie ein Prophet, war aber blind, wenn er diesen Weg im einzelnen praktisch zu zeigen unternahm. Wenn aber auch alle seine äußern Werke wieder zerfielen, so ist doch sein Leben ein großartig fruchtbares und gesegnetes gewesen, und dadurch, daß er Liebe und Begeisterung für die Erziehung der Jugend und des Volkes in weiten Kreisen weckte, hat er sich unsterbliches Verdienst um die Pädagogik, insbes. um die Volksschule, erworben. Am 12. Jan. 1846 ward Pestalozzis 100jähriger Geburtstag an vielen Orten festlich begangen, und seitdem wurden mehrere durch Privatbeiträge gestiftete und unterhaltene Erziehungs-, Bildungs- und Besserungsanstalten, namentlich für die ärmern Klassen, Pestalozzi-Stiftungen genannt. Vor allen bekannt ist die von Diesterweg 1847 begründete Deutsche Pestalozzi-Stiftung in Berlin, die in Pankow zwei Erziehungshäuser für Lehrerwaisen (zusammen ca. 40 Zöglinge) unterhält. Auch Pestalozzi-Vereine bestehen fast in allen Ländern und Provinzen deutscher Zunge, welche die Unterstützung dürftiger Lehrerwitwen und Lehrerwaisen sich zur Aufgabe stellen. Verbunden mit einer permanenten Schulausstellung (Pestalozzianum) besteht seit 1879 in Zürich ein »Pestalozzistübchen« mit wertvoller Sammlung literarischer und sonstiger Andenken an P. Über Wachstum dieser Sammlung etc. berichten die »Pestalozzi-Blätter« (Zürich 1880 ff.). Glänzend wurde Pestalozzis Andenken 1896 durch die 150jährige Feier seines Geburtstages begangen. Pestalozzis »Sämtliche Schriften« erschienen Stuttgart und Tübingen 1819–26, 15 Bde.; »Sämtliche Werke«, mit erläuternden Einleitungen von Seyffarth, Morf und Hunziker, Berl. und Liegnitz 1881–96, 20 Bde.; hrsg. von Seyffarth Liegnitz 1899–1902, 12 Bde.; in Auswahl hrsg. von Mann (in der »Bibliothek pädagogischer Klassiker«, Langensalza, 4 Bde. in 5. u. 4. Aufl., 1893–1902) und von Natorp (in »Greßlers Klassikern der Pädagogik«, das. 1905, 3 Bde.).

Vgl. Biber, Beitrag zur Biographie H. Pestalozzis (St. Gallen 1827); Blochmann, H. Pestalozzi, Züge aus dem Bild seines Lebens und Wirkens (Leipz. 1846; neue Ausg., Langensalza 1897); Ramsauer, Kurze Skizze meines pädagogischen Lebens (Oldenb. 1838, 2. Aufl. 1880); Christoffel, Pestalozzis Leben und Ansichten in einem Auszug aus Pestalozzis Schriften (Zürich 1846); Morf, Zur Biographie Pestalozzis (Winterthur 1864–89, 4 Bde.); Seyffarth, Joh. Heinrich P. (8. Aufl., Leipz. 1904); Natorp, Pestalozzis Leben und Wirken (Langensalza 1905); Krüsi, P., his life, work and influence (New York 1875); Frau Zehnder-Stadlin, Pestalozzis Idee und Macht der menschlichen Entwickelung (Gotha 1875, Bd. 1); Pompée, Études sur la vie et les travaux de J. H. P. (2. Aufl., Par. 1882); Guimps, Histoire de P. (2. Aufl., Lausanne 1888); Guillaume, P. (Par. 1890); Schneider, Rousseau und P. (5. Aufl., Berl. 1895); Kayser, Joh. Heinr. P. (Zürich 1895); Hunziker, Geschichte der schweizerischen Volksschule, Bd. 2 (das. 1882), P. und Fellenberg (Langensalza 1879), Rousseau und P. (Basel 1885); Vogel, Systematische Darstellung der Pädagogik Pestalozzis (Hannov. 1886); Scherer, Die Pestalozzische Pädagogik (Leipz. 1895); v. Raumer, Geschichte der Pädagogik, Bd. 2 (6. Aufl., Gütersl. 1889); Gundert, J. H. P. (in Schmids »Geschichte der Erziehung«, Bd. 4, Abt. 2, Stuttg. 1898); v. Sallwürk, Pestalozzi (Leipz. 1894); Süß, P. als sittlich-religiöser Erzieher (Weißenburg 1898, 2 Bde.); Rothenberger, P. als Philosoph (Berl. 1898); Pinloche, P. et l'éducation populaire moderne (Par. 1902); Barnard, P. and his educational system (New York 1906); Israel, Versuch einer Zusammenstellung der Schriften von und über P. (Zschopau 1894) und Pestalozzi-Bibliographie (Bd. 25, 29 u. 31 der »Monumenta Germaniae paedagogica«, Berl. 1901–05); die Monatsschrift »Pestalozzi-Studien« (hrsg. von Seyffarth, Liegnitz 1896 ff.).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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