- Lateinische Sprache
Lateinische Sprache (römische Sprache), ein Glied des indogermanischen Sprachstammes, neben dem Umbrischen und Oskischen eins der Hauptidiome der nichtetruskischen Bevölkerung Mittelitaliens und ursprünglich auf die Bewohner der Ebene Latiums beschränkt, aus denen die Römer hervorgingen. Während die Sprachen der übrigen Völker Italiens auf mehr oder minder enge Bezirke beschränkt blieben und seit Unterwerfung der ganzen Halbinsel unter Roms Herrschaft allmählich verschwanden, wurde das Latein durch die Römer nicht nur zur herrschenden Sprache Italiens, sondern auch nach Nordosten und Westen hin weit über dessen Grenzen hinaus verbreitet. Diese Ausbreitung begann im 3. Jahrh. v. Chr. und war im Anfang des Mittelalters abgeschlossen. Solange die Sprache auf Rom und seine nächste Umgebung beschränkt war, gab es in ihr keine erheblichen mundartlichen Unterschiede. In zweifacher Hinsicht aber entwickelten sich größere Gegensätze in ihr. Erstlich entstand eine Literatursprache, bei deren unter dem Einfluß des Griechischen geschehener Ausbildung theoretische Reflexion der Schriftsteller und Grammatiker eine sehr große Rolle spielte. Zwischen der Literatursprache, wie sie uns in der ältesten Zeit vorzugsweise durch Dichter, in der klassischen Periode durch Prosaiker und Dichter in gleicher Weise vor Augen gestellt ist, und der gewöhnlichen Umgangssprache des Volkes war schon im 1. Jahrh. v. Chr. eine breite Kluft. Von der Volkssprache der damaligen Zeit, gewöhnlich Vulgärlatein genannt, wissen wir nur wenig, das meiste durch einige Autoren, die zu dürftigen Unterricht genossen hatten, um korrekt schreiben zu können, wie z. B. Vitruvius. Auf der andern Seite entstanden Gegensätze durch die Ausbreitung des Vulgärlateins über Italien und die Provinzen des römischen Reiches. Schon in Italien selbst gewann das Volkslatein, zum Teil unter dem Einfluß derjenigen Sprachen, über die es obsiegte. und die es verdrängte, lokaldialektische Färbung, und die starke dialektische Differenzierung der heutigen italienischen Sprache ist nicht ohne Zusammenhang mit der vorrömischen Sprachverschiedenheit der Halbinsel. Außerhalb Italiens mußte schon die geographische Getrenntheit der einzelnen Provinzen das mundartliche Auseinandergehen der Sprache befördern, und es entstanden Dialekte und Dialektgruppen, von denen die meisten noch heute am Leben sind unter dem Namen des Portugiesischen, Spanischen, Provenzalischen, Französischen, Rätoromanischen und Rumänischen. Daß diese Sprachen, die zusammen die romanischen heißen, heute schon als völlig verschiedene Sprachen erscheinen, erklärt sich vor allem aus der Verkehrsgeschichte und der politischen Geschichte, die in den einzelnen Ländern natürlich verschieden verlief. Auch das Hochlatein blieb nicht durch alle Zeiten hindurch dasselbe. Auf die archaische Periode folgte das goldene Zeitalter, von Cicero bis zum Tode des Augustus (14 n. Chr.). In dieser Zeit wird die Scheidung zwischen dem Hochlatein, dem sermo urbanus, und der Volkssprache, dem sermo plebeius oder rusticus, endgültig besiegelt. Die Schriftsprache bewegte sich, da die Latinität gewisser Schriftsteller als mustergültige Norm aufgestellt wurde, in fester Bahn. Aber schon im 1. Jahrh. n. Chr. wurden die strikten Normen von vielen als beengende Fesseln empfunden, und zunächst entledigte man sich des Zwanges dadurch, daß man den Prosastil mit Wendungen des poetischen Stils durchsetzte, später, im 2. Jahrh., so, daß man zur vorciceronianischen Latinität zurückgriff und vieles aus der Sprache der ältesten Schriftsteller einmischte (sogen. archaisierende Periode). Indem nun mehr und mehr stilistische und überhaupt künstlerische Rücksichten wegfielen, verwilderte in den folgenden Jahrhunderten die Schriftsprache zusehends: im Wortgebrauch und in der Syntax wurden einerseits die Schranken zwischen Hoch- und Vulgärsprache nicht mehr beachtet, anderseits wurde auch den Provinzialismen Zutritt gestattet. Die Bemühungen einzelner, dem völligen-Verderb zu steuern, scheiterten an der Abneigung des christlichen Klerus, der diese entartete l. S. zu der seinigen gemacht hatte (wie sie auch Sprache der Regierung geworden war), gegen das Studium der altrömischen Literatur als einer heidnischen. Nur hier und da erhielt sich in Klöstern und Schulen mit dem Studium der altklassischen Literatur auch eine notdürftige Kenntnis der klassischen Sprache. Mit der Ausbildung der Scholastik, der Gründung der Universitäten und den anhebenden theologisch-philosophischen Streitigkeiten begann eine vermehrte Anwendung des damals üblichen Lateins, des sogen. Mittellateins, da es als Schriftsprache und verhältnismäßig immer noch am meisten gepflegte unter den damaligen Sprachen sich allein zur Sprache der Wissenschaft eignete. Die Wiederbelebung des klassischen Altertums seit der Mitte des 14. Jahrh. führte auch eine vollständige Regeneration der lateinischen Sprache aus der mittelalterlichen Entartung herbei, indem man an den jetzt wieder ans Licht gezogenen Klassikern mit dem größten Eifer wie die alten Römer sprechen und schreiben zu lernen sich bemühte. Auch nach dem Erlöschen der humanistischen Bewegung erhielt sich die l. S. als Sprache der Gelehrten und Geistlichen im gegenseitigen Verkehr und der Staatsmänner; in Wort und Schrift bediente man sich ihrer auf den Universitäten, in den Schulen, auf den deutschen Reichstagen, in allen öffentlichen Akten des Reiches, namentlich bei völkerrechtlichen Beschlüssen, ja auch vielfach an den Höfen, von denen sie erst zur Zeit Ludwigs XIV. durch die französische verdrängt ward. An den deutschen Universitäten wurde ihre Alleinherrschaft erst seit 1687 durch Chr. Thomasius gebrochen; doch hat ihre Verwendung bei öffentlichen Disputationen, in Promotionsschriften etc. sich auch heute noch in engern Kreisen, namentlich in der klassischen Philologie, bis zu einem gewissen Grade behauptet. Im Reich wurde das Deutsche seit 1717 dem Latein gleichberechtigt und verdrängte es dann schnell in den Reichstagsverhandlungen und den Erlassen der Gerichtsbehörden. In Verträgen hielten das Latein am längsten fest der Papst, Polen, Ungarn, der Kaiser und England. Französisch sind zuerst abgefaßt die Rastatter Friedensverhandlungen 1714, freilich unter Verwahrung des Reiches; seitdem erst gewinnt das Französische allmählich hier die Herrschaft. Gegenwärtig ist die l. S., wie vorzeiten, noch die Kirchensprache der römisch katholischen Welt.
Wie die Alphabete der übrigen italischen Völker, entstammt auch das lateinische einem griechischen, und zwar dem in der Latium benachbarten griechischen Kolonie Cumä üblichen chalkidischen. Von den 24 Buchstaben des cumäischen Alphabets ließ das Lateinische die ihm unbekannten Aspiraten Θ (th), Φ (ph) sowie Ψ (ps) fallen und behielt somit 21 Buchstaben: A B C D E F Z H I K L M N O P Q R S T V X. Von diesen kam Z allmählich außer Gebrauch und fand erst zu Ciceros Zeit wieder Aufnahme in die Bücherschrift wie auch Y. Das ursprünglich griechischem Γ in Stellung wie Aussprache entsprechende C diente, da K schon seit Mitte des 5. Jahrh. außer Gebrauch kam und sich nur in einzelnen Wörtern vor A (wie kalendae) erhielt, lange als Bezeichnung zugleich für den weichen und harten Gaumenlaut, bis im 3. Jahrh. v. Chr. für erstern G aufkam und C ausschließlich den letztern bezeichnete. So bildete sich ein Alphabet von 23 Buchstaben; denn die graphische Unterscheidung zwischen I und J, V und U ist nicht antik. Vgl. hierzu die Übersichtstafel beim Art. »Schrift« und Tafel »Paläographie«; über die lateinischen Zahlzeichen s. Ziffern. – In der Aussprache des Lateinischen herrschte bis vor wenigen Jahrzehnten allgemein bei allen Völkern ein sehr lässiges Verfahren, indem man in vielen wichtigen Punkten sich nicht nach dem richtete, was die Wissenschaft als den Wert der Schriftzeichen im Altertum ermittelt hatte, sondern wesentlich danach, wie man in der eignen Muttersprache die betreffenden Buchstaben und Buchstabenverbindungen zu sprechen pflegte. Daher kam es z. B., daß ein Deutscher und ein Engländer, die Lateinisch sprachen, sich gegenseitig nur mit großer Mühe verstehen konnten. Die wesentlichsten Aussprachfehler in Deutschland waren, daß man c vor e- und i-Vokalen als z statt als k, ti vor Vokalen als zi statt als ti, ae als ë statt als zweilautige Verbindung (Diphthong) und die kurzen Vokale in Stammsilben als lange Vokale sprach, z. B. Cicero, nuntius, caecus, fero als Zizero, nunzius, zäkus, fēro statt Kikero, nuntius, kaekus, fěro. In den Schulen wird jetzt meistens auf richtige Aussprache in diesen Punkten gehalten, doch ist die Macht der Gewohnheit zu groß, als daß man hoffen könnte, der alte Schlendrian werde bald ganz überwunden sein. Vgl. Seelmann, Die Aussprache des Latein nach physiologisch-historischen Prinzipien (Heilbr. 1885); Lindsay, Die lateinische Sprache (deutsch, Leipz. 1897); Conway, The restored pronunciation of Greek and Latin (Cambridge 1895).
Schon die Römer begannen zeitig, namentlich seit dem 1. Jahrh. v. Chr., ihre Sprache wissenschaftlich zu behandeln und zwar im Anschluß an die Systematik der Griechen. Fast ausschließlich war die Tätigkeit der Grammatiker der Formenlehre zugewendet; in der Behandlung der Syntax kamen sie über schüchterne Anläufe nicht hinaus. Im Mittelalter erhob man sich nicht über dürren Formelkram und magere grammatische Systeme nach der Weise des Donatus (s. d.). Seit dem 15. Jahrh. beginnt die Bearbeitung der lateinischen Grammatik durch die italienischen Humanisten, deren Reihe Laurentius Valla mit »Libri VI elegantiarum« (um 1470), einer Sammlung scharfsinniger Beobachtungen über Grammatik und Phraseologie ohne systematische Ordnung, eröffnet. Im 16. Jahrh. waren in derselben Richtung tätig besonders der Engländer Thomas Linacer, der zuerst die Syntax systematisch und ausführlich behandelte, der Deutsche Philipp Melanchthon, der Franzose Ramée und der Spanier Francisco Sanchez de las Brozas (Franciscus Sanctius Brocensis), dessen »Minerva, s. de causis linguae latinae commentarius« (zuerst Salamanca 1587, nachher noch oft, namentlich mit den wertvollen Zusätzen des Perizonius) auf die systematische Gestaltung der Grammatik der Folgezeit einen Einfluß gehabt hat wie keine frühere Leistung. Durch Belesenheit und Gründlichkeit überragte seine Vorgänger Gerh. Joh. Vossius (»Aristarchus, s. de arte grammatica libri VII«. Amsterd. 1634 u. 1662; neu hrsg. von Förtsch und Eckstein, Halle 1833–34, 2 Bde.). Aus dem 18. Jahrh. verdienen Erwähnung Th. Ruddimanns »Institutiones latinae linguae« (Edinb. 1725; zuletzt hrsg. von Stallbaum, Leipz. 1823). Von ältern Werken aus dem 19. Jahrh. erwähnen wir K. L. Schneiders »Elementarlehre der lateinischen Sprache« (nur Bd. 1 u. 2, 1 erschienen, Berl. 1819–21) als einen Anfang umfassender Darstellung; Ch. K. Reisigs »Vorlesungen über lateinische Sprachwissenschaft« (hrsg. von Fr. Haase, Leipz. 1839; neu bearbeitet von Hagen, Landgraf, Schmalz und Heerdegen, Berl. 1881–90, 3 Bde.); Haases eigne »Vorlesungen über lateinische Sprachwissenschaft« (hrsg. von Eckstein und Peter, Leipz. 1874–80). Wirklich wissenschaftlich ist die Methode der lateinischen Grammatik erst in neuerer Zeit durch den Einfluß der indogermanischen Sprachwissenschaft geworden. Aus der Fülle der neuern Bearbeitungen der lateinischen Sprache, von denen E. Hübners »Grundriß zu Vorlesungen über die lateinische Grammatik« (2. Aufl., Berl. 1881) ein bis 1880 reichendes Verzeichnis gibt, heben wir hier nur folgende hervor: »Historische Grammatik der lateinischen Sprache« von Blase, Landgraf etc., ein fünfbändiges Werk, von dem bis jetzt nur vorliegen Bd. 1 (von Stolz, Leipz. 1894) und Bd. 3, Heft 1 (von Golling, Landgraf und Blase, das. 1903); Stolz u. Schmalz, Lateinische Grammatik, Laut- und Formenlehre, Syntax und Stilistik (3. Aufl., Münch. 1900); Lindsays schon genanntes Buch; Sommer, Handbuch der lateinischen Laut- und Formenlehre (Heidelb. 1901); ferner Neue, Formenlehre der lateinischen Sprache (2. Aufl., Berl. 1875–77, 3 Bde.; 3. Aufl. von Wagener, 1892 bis 1902), Bücheler, Grundriß der lateinischen Deklination (neu hrsg. von J. Windekilde, Bonn 1879); Draeger, Historische Syntax der lateinischen Sprache (2. Aufl., Leipz. 1878–81, 2 Bde.). Vgl. L. Meyer, Vergleichende Grammatik der griechischen und lateinischen Sprache (Berl. 1861–65, 2 Bde.; Bd. 1 in 2. Aufl., das. 1882–84); Giles, Vergleichende Grammatik der klassischen Sprachen (Leipz. 1891); Brugmann u. Delbrück, Grundriß der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen (Straßb. 1886–1900, 5 Bde.; Bd. 1 in 2. Aufl. 1897).
Die ersten Anfänge der Lexikographie bei den Römern lassen sich bis in das 1. Jahrh. v. Chr. zurückverfolgen; vorzugsweise ist sie der Sammlung sogen. Glossen zugewendet. Vertreter dieser Richtung sind für uns Verrius Flaccus (um Christi Geburt), Nonius Marcellus (um 400 n. Chr.) und Isidorus von Sevilla (um 636), an den sich eine ganze Reihe auf alte Tradition zurückgehender Glossensammlungen anschließt. Als Anfang wissenschaftlicher, auf eigner Quellenforschung beruhender Lexikographie ist Rob. Stephanus' »Thesaurus linguae latinae« (zuerst Par. 1531, dann 1543, 3 Bde.; neue Ausg., Lond. 1734–53 und Basel 1740–43) zu betrachten. Ein selbständiges Werk ist Forcellinis »Totius latinitatis lexicon« (Padua 1771, 4 Bde.; Schneeberg 1830 ff., 4 Bde.; neu bearbeitet von Corradini, Padua 1864 ff., und de Vit, Prato 1858 ff., 6 Bde. nebst Onomastikon). Auf Gesner und Forcellini basieren mehr oder weniger alle neuern kleinern Lexika, von denen das beste Georges' »Ausführliches lateinisch-deutsches und deutsch-lateinisches Handwörterbuch« (7. Aufl., Leipz. 1879–80, 2 Bde.) ist. Ein neuer großer, auf 12 Bände berechneter »Thesaurus linguae latinae« wird von den Akademien von Berlin, Göttingen, Leipzig, München und Wien herausgegeben; bisher sind 2 Bände erschienen (Leipz. 1900–05), bis 1915 soll das ganze Werk geschlossen sein. Die mittelalterliche Latinität behandelte Du Cange (s. d.) in seinem »Glossarium ad scriptores mediae et infimae latinitatis«; vgl. auch Artikel »Lateinische Literatur des Mittelalters«.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.