Ionĭer

Ionĭer

Ionĭer, einer der drei Hauptstämme der Hellenen, den die genealogische Sage auf Ion (s. d. 1) zurückführt, den Sohn des Xuthos, eines Nachkommen des Deukalion. Der Grundstock der J. tritt uns zuerst in Athen entgegen, ihre geschichtliche Eigenart hat sich indes erst an der kleinasiatischen Küste entwickelt, als diese von Athen aus durch eine aus verschiedenen Stämmen gemischte Bevölkerung besiedelt wurde. Die zwölf von ihnen gegründeten Städte, die den Ionischen Städtebund bildeten, waren in der Richtung von N. nach S. folgende: an der lydischen Küste: Phokäa, Erythrä, Klazomenä, Teos, Lebedos, Kolophon, Ephesos; an der karischen Küste: Priëne, Myus, Miletos; auf den der Küste nahen Inseln: Samos und Chios; später (um 700 v. Chr.) kam auch das äolische Smyrna zum Ionischen Bunde, der seitdem 13 Städte umschloß. Das ganze von den Ioniern bewohnte Küstenland hieß Ionien (Ionia; s. Karte »Alt-Griechenland« im 8. Band). In diesen Wohnsitzen in Kleinasien zwischen andern griechischen Niederlassungen, den äolischen im N. und den dorischen im S., gelangten die J., durch die alle Vorteile für den Verkehr in sich vereinigende Lage ihres Landes, dessen herrliches Klima und ausnehmende Fruchtbarkeit begünstigt, sehr bald zu einer hohen weltgeschichtlichen Bedeutung und übten namentlich durch ihre rege wissenschaftliche Tätigkeit auch auf das Mutterland großen Einfluß aus. Jeder einzelne Freistaat entwickelte sich bei demokratischer Verfassung völlig selbständig; einen vereinigenden Mittelpunkt jedoch gewährte das jährliche Fest des Poseidon Helikonios am Vorgebirge Mykale (Panionion), wo die J. ihre Bundestage abhielten. Geraume Zeit hindurch bestand der Bund in unbeeinträchtigter Freiheit und ungestörter Ruhe und beteiligte sich in hervorragender Weise an dem Werke der Kolonisation, indem er im 8. und 7. Jahrh. namentlich von Miletos aus die Küsten des Hellespont (Abydos, Lampsakos u. a.), der Propontis (Kyzikos, Byzantion u. a.) und des Pontos Euxeinos (Sinope, Pantikapäon, Odessos u. a.) besiedelte, etwas später die von Unteritalien (Elea, Rhegium, Cumä), Sizilien (Naxos, Leontinoi, Catana, Tauromenium, Zankle, Himera), Sardinien, Korsika und Gallien (Massilia). Viele dieser Kolonien erreichten durch die Großartigkeit ihres Handels die Mutterstädte und haben sie überdauert. In Kleinasien begann der Verfall, als seit des Gyges Regierung (689–654 v. Chr.) die lydischen Könige die blühenden Freistaaten angriffen und zwar mit solchem Erfolg, daß unter Krösos sämtliche ionische Besitzungen in Kleinasien der lydischen Herrschaft unterworfen waren. Mit dem lydischen Reich kamen sie 546 unter die noch drückendere persische Herrschaft des Kyros. Die allgemeine Unzufriedenheit rief 500 den Ionischen Aufstand gegen die persische Oberherrschaft hervor, an dessen Spitze sich der Tyrann Aristagoras von Milet stellte. Von Athen und Eretria unterstützt, drangen die Aufständischen bis Sardes, der Residenz des persischen Satrapen, vor und steckten die Stadt in Brand (499), wurden aber durch die überlegene Macht der Perser wieder bis Ephesos zurückgedrängt und hier in einer blutigen Schlacht gänzlich geschlagen. Miletos wehrte sich am längsten und wurde dafür nach der Niederlage der J. bei Lade 495 fast vollständig zerstört; die übrigen ionischen Städte unterwarfen sich der persischen Herrschaft wieder und mußten mit ihren Schiffen und ihrer streitbaren Mannschaft in den Perserkriegen gegen ihre Stammesgenossen in Hellas fechten. Erst die Siege der letztern und insbes. die Schlacht bei Mykale (479), in der die J. zu ihren Landsleuten übergingen, sowie Kimons Sieg am Eurymedon (466) machten der persischen Oberherrschaft im hellenischen Kleinasien ein Ende. Dafür gerieten die ionischen Städte von jetzt an in ein abhängiges Verhältnis zu Athen, dem Haupte des attisch-ionischen Seebundes, und verschmolzen mit den übrigen kleinasiatischen Griechen immer mehr zu einem Ganzen, so daß von Ioniern im Gegensatze zu Äoliern und Doriern fortan wenig mehr die Rede ist. Seit dem Rückgang des Bundes gerieten die ionischen Städte wieder unter persische Oberhoheit (durch den Frieden des Antalkidas 387), durch Alexander unter mazedonische; unter den Römern konnten sie sich nur noch als Handelsplätze und Sitze der Künste und Wissenschaften Ansehen bewahren. Die letzten Spuren ihrer frühern Größe verschwanden unter den Osmanen. – Was den Charakter der I. anlangt, so waren sie trotz ihres Leichtsinns, ihrer Weichlichkeit, Genußsucht und sinnlichen Reizbarkeit doch der geistig empfänglichste und tätigste hellenische Stamm, und ionische Bildung, Sprache, Kunst und Wissenschaft leuchteten lange Zeit als Muster dem Abendland vor. Ionien war die Wiege der griechischen Kunst und Literatur, namentlich nahmen von hier die griechische Dichtkunst, Philosophie und Historiographie nicht nur ihren Ausgang, sondern gediehen hier auch schon zu einer gewissen Vollendung. Homer und Hesiod, Mimnermos und Anakreon sind I., ebenso die Philosophen Thales, Anaximandros, Anaximenes, Xenophanes und Anaxagoras, die Logographen Kadmos, Dionysios, Hekatäos, die Begründer der Geschichtschreibung und Erdbeschreibung, endlich Herodot und der berühmte Arzt Hippokrates. Die an der Küste gebornen Künstler Polygnotos, Agorakritos, Parrhasios haben sich erst in Athen ganz entwickelt, während die Baukunst in Ionien selbst einen eignen, sich durch Leichtigkeit auszeichnenden Stil und großartige Werke hervorgebracht hat.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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