Gaseinatmungskrankheiten

Gaseinatmungskrankheiten

Gaseinatmungskrankheiten (Gasinhalationskrankheiten) entstehen durch die länger oder kürzer dauernde Einatmung von verschiedenen Gasen, Dämpfen und Dünsten und kommen vorzugsweise bei Gewerbtreibenden vor, die in einer mit schädlichen Gasen und Dämpfen vermischten Atmosphäre zu arbeiten genötigt sind. Für die Entstehung von G. kommen besonders in Betracht Chlor-, Brom-, Fluorwasserstoff-, Salpetersäure-, Salzsäuredämpfe, Ammoniak, schweflige Säure, Untersalpetersäure, die sofort krampfhafte Verengerung der Stimmritze verursachen, ferner Stickstoff, Kohlenwasserstoffe, Kohlenoxyd, Kohlensäure, Leuchtgas, Arsen-, Phosphor- und Schwefelwasserstoff, Blausäure, Chloroformdämpfe etc. Wenn die schädliche Wirkung des Einatmens sehr rasch bemerkbar wird und nur geringe Mengen für die Erkrankung oder Tötung erforderlich sind, spricht man, während die G. durch anhaltende Einwirkung schädlicher Gase entstehen, von Gasvergiftungen. Durch Einatmung sogen. indifferenter Gase, z. B. des Stickstoffes, der Kohlenwasserstoffgase, der namentlich Bergleute und Grubenarbeiter ausgesetzt sind, entsteht Atemnot, welche die Arbeiter zu verstärkten Atembewegungen zwingt und mit der Zeit die Entwickelung des Lungenemphysems (s.d.) begünstigt. Schwefligsaure und schwefelsaure Dämpfe erzeugen Katarrhe der Atmungsschleimhaut, Husten, Bluthusten, Verdauungsstörungen, Appetitlosigkeit, saures Aufstoßen etc. Bei der Strohhutfabrikation, beim Schwefeln des Hopfens, der Schwefelsäurefabrikation, in Kalkbrennereien, beim Rösten von Schwefelkiesen, in Glashütten und chemischen Fabriken sind die Arbeiter der Gefahr der Einatmung dieser Dämpfe ausgesetzt. Salpetrigsaure und salzsaure Dämpfe rufen ähnliche Störungen hervor. Die Einatmung von Ammoniak in größerer Menge, wie sie in chemischen Fabriken, Gerbereien, Zuckersiedereien, Tabakfabriken, beim Räumen der Senkgruben vorkommt, bewirkt Erstickungsanfälle, lange fortgesetzte Einatmung von Ammoniak in geringerer Konzentration chronische Bronchialkatarrhe. Äußerst reizend wirkt Chlor auf die Atmungsorgane ein und ruft akute Katarrhe der Luftwege, Lungenentzündungen und Blutungen aus den Luftwegen hervor und bei stärkerer Konzentration Krampf der Stimmritze, Erstickungsgefahr, ja selbst den Tod. Arbeiter, die sich lange Zeit in einer mit Chlor verunreinigten Atmosphäre, z. B. in chemischen und Papierfabriken, Bleichereien und Verzinnungsanstalten, aufgehalten haben, sehen stets bleich und elend aus und altern ungewöhnlich schnell. Direkt giftig wirkt Kohlenoxyd, das die Leuchtgasarbeiter, Rohrleger, die Arbeiter in Eisenhütten, Koksfabriken, Gasanstalten, Metallgießereien, die Buchbinder und Büglerinnen zuweilen in größerer Menge einatmen (vgl. Kohlenoxydvergiftung). Kohlensäurereiche Gasgemenge kommen in schlecht ventilierten Kellern zur Zeit der Gärung des Weines und Bieres, in den Spiritus- und Preßhefefabriken, in tiefen Brunnenschächten, Leichengrüften, Lohgruben, Bergwerken vor, ihre Einatmung bewirkt Erstickungsanfälle, Scheintod und wirklichen Tod. Auch Schwefelwasserstoff, der bei Kloaken- und Schleusenarbeitern, in Kautschukfabriken und beim Flachsrösten eingeatmet wird, führt zu akuten Vergiftungen oder zu chronischem Siechtum, ebenso Schwefelkohlenstoffdampf, der bei der Kautschukfabrikation und in der Wollwäscherei eine Rolle spielt. Bei der Fabrikation der Jod- und Brompräparate ereignen sich zuweilen akute Vergiftungszufälle durch diese Gase, die mit heftigem Hustenreiz, Kopfschmerz, Entzündung der Augenbindehaut und Nasenschleimhaut sowie mit einem rauschähnlichen Zustand einhergehen, aber schnell wieder verschwinden, wenn reine Luft eingeatmet wird. Häufiger ist die chronische Jodvergiftung, die sich als allgemeine Kachexie, hochgradige Abmagerung etc. darstellt und mit hartnäckigem Magenkatarrh verbunden ist. Außerdem kommen noch in Betracht: Arsendämpfe in chemischen Fabriken, Laboratorien und Hüttenwerken (s. Arsenikvergiftung); Zinkdämpfe, die bei Messingarbeitern, Gelbgießern und Gürtlern das Gießfieber oder Zinkfieber veranlassen; die namentlich Malern und Schriftgießern verderblichen Bleidämpfe (s. Bleivergiftung); Quecksilberdämpfe, welche die Arbeiter in Quecksilberberg- und Hüttenwerken, der Thermometer- und Barometerfabrikation, die Spiegelbeleger und Vergolder, die Zündhütchenarbeiter etc. schädigen (s. Quecksilbervergiftung); Phosphordämpfe, denen die Arbeiter in Phosphor- und Zündholzfabriken ausgesetzt sind (s. Phosphorvergiftung); Terpentinöldämpfe, die bei Malern, Firnisarbeitern, Appretierern und in Zündholzfabriken entzündliche Reizungen der Lungen, des Magens und der Nieren veranlassen; Anilindämpfe.

Die wichtigste Aufgabe gegenüber den Gasen besteht darin, daß man den Zutritt der Gase zu den Atmungswegen der Gewerbtreibenden verhindert, was in jedem Falle besondere Maßnahmen erfordert. Die bereits erkrankten Personen müssen in reine Atmosphäre gebracht und je nach der Art des eingeatmeten Gases in verschiedener Weise behandelt werden. Vgl. Eulenberg, Die Lehre von den schädlichen und giftigen Gasen (Braunschw. 1865); Hirt, Die Gasinhalationskrankheiten (in Ziemssens »Handbuch der speziellen Pathologie und Therapie«, Bd. 1, 3. Aufl., Leipz. 1882); Layet, Allgemeine und spezielle Gewerbepathologie (deutsch von Meinel, Erlang. 1877) und die Literatur bei Artikel »Gewerbekrankheiten«.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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