Bleivergiftung

Bleivergiftung

Bleivergiftung (Bleikrankheit, Saturnismus), die Folge der Aufnahme von Bleiverbindungen in den Körper. Akute B. entsteht, wenn große Mengen löslicher Bleisalze (Bleizucker, Bleiessig) in den Magen und von da aus in die Körpersäfte gelangen. Sie verläuft mit heftigem Magenkatarrh, Übelkeit, Erbrechen, großer Schmerzhaftigkeit des Leibes, später Lähmungen und bei übelm Ausgang Tod in wenigen Stunden. Viel häufiger ist die chronische B., die Bleikrankheit der Gewerbtreibenden, die durch Einatmen von bleihaltigem Staub oder durch Verunreinigung von Speisen und Getränken mit Blei entsteht. Sie ergreift die Arbeiter, die mit der Fabrikation der Bleipräparate (Bleiweiß) beschäftigt sind; dann Farbenreiber, Anstreicher etc., Schriftgießer, Blei- und Silberhüttenleute etc., auch Schriftsetzer und Menschen, die durch Bleiröhren fließendes Wasser längere Zeit trinken. Auch durch den Genuß bleihaltigen Mehles (wenn die Vertiefungen der Mühlsteine mit Blei ausgefüllt werden), durch das Schnupfen des in bleihaltiger Zinnfolie verpackten Schnupftabaks ist B. erzeugt worden. B. befällt Individuen jeden Alters. Wer sie einmal überstanden hat, bekommt sie sehr leicht wieder, sobald er sich mit Blei etc. zu schaffen macht. Bei der B. wird das Zahnfleisch schieferfarbig und bildet einen bläulichen Saum (Bleisaum) um die Zähne. Der Mund wird trocken, der Appetit vermindert, der Durst gesteigert. Der Kranke hat oft einen süßlichen Geschmack im Mund. Es treten allerhand Verdauungsstörungen ein: Gefühl von Vollsein im Magen, Übelkeit, Ausstoßen etc. Die äußere Haut wird blaß und fahl, das Gesicht ist mager und eingefallen. Der Puls ist klein, langsam und hart infolge der krampfhaften Zusammenziehung der Gefäßmuskeln (Bleipuls). Von allen Symptomen aber tritt die Bleikolik (Malerkolik) am häufigsten und frühesten ein. Sie äußert sich durch Schmerzen im Unterleib, die anfangs leise und herumschweifend, später heftig und auf gewisse Stellen beschränkt sind, anfallsweise auftreten, namentlich nachts besonders heftig sind. Der Leib ist dabei meist stark eingezogen, gleichzeitig besteht hartnäckige Stuhlverstopfung, selten kommen Durchfälle vor. Bisweilen sind Harnbeschwerden, Harnverhaltung, Blasenkrampf, auch Ohnmachten, Schlaflosigkeit, große Unruhe, krampfartige Atmungsbehinderung vorhanden, Fieber fehlt. Die Bleikolik geht bei zweckmäßigem Verhalten und entsprechender arzneilicher Behandlung ziemlich schnell unter Abgang reichlicher Kotmassen vorüber, sie kehrt aber auch leicht zurück, wenn das Blei nicht streng gemieden wird, und sie wird mit jedem neuen Anfall immer schwerer heilbar. Es treten dann noch lebhafte neuralgische Schmerzen in den Waden, seltener im Rumpf, in den Lenden etc. periodisch auf, namentlich in der Nacht. Die Bleilähmung entsteht in den verschiedensten Nervengebieten, sie befällt besonders die Streckmuskeln der Arme, seltener der Beine, und ist mit der Zusammenziehung der Glieder oder einzelner Finger nach der Seite der Beugemuskeln verbunden. Der Kranke kann das gebogene Glied nicht willkürlich strecken, aber passiv läßt es sich meist ziemlich ausgiebig bewegen. Diese Lähmung tritt nach und nach ein, oder sie bleibt nach einem Anfall von Bleikolik zurück und führt schließlich zu völligem Schwunde der gelähmten Muskeln. Seltener sind Lähmungen der Stimmwerkzeuge, der Brustmuskeln und ein eigentümliches Gliederzittern (tremor saturninus). In den schwereren Fällen treten manchmal noch fallsuchtähnliche Krämpfe (Bleiepilepsie), Sinnesstörungen, Betäubungszustände und verschiedenartige Seelenstörungen hinzu. Gewöhnlich werden diese Gehirnleiden durch anhaltenden Schwindel, Kopfweh, Trübsinn und Verstandesschwäche angekündigt. Nach längerer Dauer der B. zeigt sich die Bleikachexie (Bleianämie), die durch zunehmende Abmagerung des Körpers und Wassersucht den Tod herbeiführt. – Bei der Behandlung der akuten B. ist das Gift durch Brechmittel oder Magenspülung zu entfernen. Bei der chronischen B. wird zunächst die krampfhafte und schmerzhafte Spannung der Darmmuskulatur durch Opium gemildert und erst später, wenn nötig, ein Abführmittel nachgeschickt. In großen, gut gelüfteten Räumen beruht jede B. auf der Nachlässigkeit des Arbeiters; kein Bleiarbeiter darf auch nur einen Bissen essen, bevor er den Bleiraum verlassen, die Kleidung gewechselt und die Hände gereinigt hat. Wer das zweite oder spätestens dritte Mal an Bleikolik erkrankt, muß den Beruf wechseln, weil er sonst fast sicher invalid wird. 1895 kam in Preußen chronische B. vor bei 1120 Männern und 43 Weibern; davon starben 13. Von den Kranken entfallen auf Fabrikarbeiter 30,5, Maler, Auftreteher 29,8, Hüttenarbeiter 17,2, Metallgießer, Töpfer, Steindrucker, Färber, Glaser 5,15, Schriftsetzer 2,75 Proz. etc. Vgl. Tanquerel des Planches, Traité des maladies de plomb (Par. 1839, 2 Bde.); Hirt, Die Krankheiten der Arbeiter (Bresl. 1871–78).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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