Nervenschwäche

Nervenschwäche

Nervenschwäche (lat. Nervosität, griech. Neurasthenie), eine Störung des gesamten Nervensystems, d.h. des Gehirns, des Rückenmarks, des peripherischen und sympathischen Nervensystems. In diesem weitesten Sinne gefaßt, sind es die »Nerven«, die bei den erhöhten Ansprüchen, die das gegenwärtige Leben der Kulturvölker an die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit stellt, angegriffen werden und einer abnormen Reizbarkeit und leichten Erschöpfbarkeit verfallen. In den höhern Gesellschaftsklassen sind dabei die gesellschaftlichen Strapazen vielfach von großer ursachlicher Bedeutung, bei Lebemännern der gehäufte gesundheitsschädliche Lebensgenuß auf Kosten des Schlafes, ebenso aber tritt eine Schädigung des Nervensystems auch ein bei den Männern, denen eine schwere Berufspflicht, eine angespannte Geistesarbeit, ein rastloser Kampf ums Dasein mehr zugemutet hat, als Körper und Geist auf die Dauer ohne Schaden ertragen können. Nicht minder als gesteigerte geistige Leistungen sind aber dauernde niederdrückende Einwirkungen auf das Gemüt, Not und Sorge um den Lebensunterhalt, Kummer, Enttäuschung und ähnliches wichtige Ursachen der N. Sehr richtig ist der Ausspruch, daß weniger oft die schweren Schläge des Schicksals, als die Nadelstiche des täglichen Lebens zu N. führen. Mißbrauch von Alkohol und Tabak spielen ebenfalls eine bedeutende Rolle. Jedoch sind in den meisten, namentlich in den schwereren Fällen alle die erwähnten Umstände nur Hilfsursachen zur Entstehung der N., in den meisten Fällen liegt eine angeborne und ererbte »konstitutionelle« Veranlagung zugrunde, eine gewisse abnorm geringe Widerstandskraft gegenüber den Widrigkeiten und Anforderungen des Lebens, die von gesund Beanlagten ohne krankhafte Erscheinungen überwunden werden. Die N. ist eine Funktionsstörung, keine organische, durch sichtbare Veränderungen bedingte Erkrankung des Nervensystems, eine sogen. allgemeine Neurose (s. Nervenkrankheiten). Dennoch ist die Unterscheidung von manchen organischen Nervenkrankheiten oft außerordentlich schwer, manche Fälle von nervösem Zittern sind z. B. leicht mit dem Zittern beim Beginn von Gehirnlähmungen zu verwechseln, manche Klagen über gestörte Verdauung sind den Erscheinungen bei Magen- und Darmkrankheiten so ähnlich, daß nur die sorgfältigste Untersuchung eines erfahrenen Arztes hier die Grenzen ziehen kann. Auch sich allmählich und anfangs oft unmerklich entwickelnde konstitutionelle Krankheiten mit chronischem Verlauf, wie z. B. die Zuckerkrankheit, sind schon eine Zeitlang mit N. verwechselt worden. Der allgemeine Ausdruck N. bezeichnet nicht ein bestimmtes Krankheitsbild, vielmehr begreift man unter demselben sowohl die Hysterie (s. d.) als die Neurasthenie im engern Sinn, einen Symptomenkomplex, der bei aller Mannigfaltigkeit im einzelnen bei scheinbar schweren Leiden innerer Organe doch dadurch ausgezeichnet ist, daß diese Leiden nicht auf wirklichen anatomisch nachweisbaren Veränderungen beruhen, sondern auf Ernährungsstörungen des Nervensystems, woraus dann als wichtigste Schlußfolgerung hervorgeht, daß alle jene verschiedenartigen Klagen lediglich durch eine geeignete Behandlung der N. verschwinden können. Diese Neurasthenie im engern Sinn ist vorwiegend beim männlichen Geschlecht zu beobachten, obwohl auch Frauen, die den gleichen Schädlichkeiten ausgesetzt sind, davon befallen werden; im allgemeinen leiden dagegen Frauen mehr an jener Art der N., die als Hysterie bezeichnet wird. Übrigens kommen Zwischen- und Übergangsformen zwischen Neurasthenie und Hysterie vor. Die Ursache der Neurasthenie ist außer der erwähnten Überanstrengung ausschweifender Lebenswandel, zuweilen schließt sich der Prozeß an schwere Krankheiten, namentlich Unterleibstyphus, an, zuweilen führen gewaltsame Kuren, die zur schnellen Entfettung eingeschlagen werden, jenen Schwächezustand herbei, zuweilen forcierte Schwitz-, Trink-, Hunger- oder Kaltwasserkuren, die zu den modernen »Heilmitteln« gehören und die sehr zum Schaden der Patienten oft ohne ärztliche Vorschrift und Überwachung auf eigne Hand unternommen und durchgeführt werden. Vorzugsweise betroffen werden die geistig arbeitenden Klassen und naturgemäß in höherm Maß in dem lebhaften Treiben der großen Städte als auf dem Lande; Beamte, Offiziere, Ärzte, Gelehrte und Künstler stellen das größte Kontingent. Bei der verwirrenden Mannigfaltigkeit der Symptome sei hier an einem Beispiel dargetan, wie bei einem ehrgeizigen Mann die N. aus Überanstrengung sich zu entwickeln pflegt: Im besten Mannesalter stehend, bisher gesund und kräftig, hat er zehn Stunden und darüber angestrengt arbeiten können, ohne an Frische dabei einzubüßen. Unter dem Einfluß einer Gemütsaufregung fühlt er sich plötzlich bei der Arbeit unruhig und zerstreut, zeitweise schwinden die Gedanken, indessen rafft er sie zusammen und arbeitet weiter, bis er wiederum von Aufregung und Angstgefühl befallen wird. Anfangs wird der Schwächezustand gewaltsam überwunden, allmählich versagen die Kräfte, es tritt Unfähigkeit zur Arbeit ein, die Zeit wird mit Grübeln über den krankhaften Zustand ausgefüllt, es stellt sich ein Gefühl von Druck im Kopf ein, das den Kränkelnden zwingt, sich in den stillsten Winkel seiner Wohnung zurückzuziehen. Dabei wird er leicht erregbar, schreckhaft über jedes Geräusch (nervöse Hyperakusie), der Schlaf ist unruhig, gleicht mehr einem unerquicklichen Halbschlummer. Am Morgen erwacht er wieder, es gelingt ihm nicht, Zeitung oder Bücher zu lesen (nervöse Asthenopie), er leidet an nervösem Herzklopfen, fühlt sich beängstigt, die Brust zusammengeschnürt. Der Appetit fehlt, die Zunge wird belegt, gegen Speisen stellt sich Widerwillen ein, nach dem Essen folgt Übelkeit und Aufstoßen, Magenschmerzen (nervöse Kardialgie) und Stuhlverstopfung (spastische Obstipation). Die Gemütsverstimmung kann sich zur Hypochondrie und zu voller Schwermut steigern. Alle diese Symptome hängen vom Gehirn ab (cerebrale Neurasthenie). Das Herzklopfen, Blutwallungen und rasch folgende Blässe, übertriebene oder fehlende Schweiß- und Speichelsekretion deuten auf Störungen im sympathischen Nervengeflecht hin. Daran schließt sich zuweilen als drittes Glied eine Reihe von krankhaften Störungen des Rückenmarks (spinale Neurasthenie), schnelles Ermüden von Arm und Beinen, Zittern der Hände beim Ausstrecken mit gespreizten Fingern (tremor), krampfartige Muskelzuckungen und ein Gefühl von unaufhörlichen oder zeitweise aussetzenden flatternden Bewegungen. Störungen der Empfindung äußern sich in Taubsein, Eingeschlafensein oder Ameisenlaufen, besonders in den Füßen, Schmerzen in der Wirbelsäule, die im Verlauf der Nerven auf die Extremitäten ausstrahlen. Zuweilen ist die sexuelle Erregbarkeit gesteigert (Satyriasis), zuweilen erloschen, namentlich bei bestehenden chronischen Krankheiten dieser Sphäre. Ein großer Teil der genannten und zahlreiche andre körperliche Störungen und abnorme Empfindungen sind unmittelbar auf krankhafte seelische Vorgänge, auf Autosuggestion infolge hypochondrischer Vorstellungen zurückzuführen. Diese Störung des Vorstellungslebens ist der Ausgangspunkt der ganzen Erkrankung. Die hypochondrischen Angstvorstellungen (sogen. Phobien, von denen besonders häufige Formen unter andern sind die Agoraphobie, d.h. Platzangst, Klaustrophobie, d.h. Angst vor geschlossenen Räumen, die Angst vor Feuer, vor Berührung etc.) erzeugen naturgemäß eine krankhafte Aufregung, die gedrückte Stimmung, den Mangel an Stetigkeit des Gedankenganges, die minutiöse, zu immer neuen Wahrnehmungen führende Selbstbeobachtung.

Die Behandlung erfordert die größte Umsicht des Arztes, die sich in jedem Falle zunächst auf die Beseitigung etwa vorhandener Organleiden, alsdann aber auf die N. als solche richten muß. Vor allem bedarf es eines tröstenden, den Kranken ermutigenden Zuspruchs. Es muß für einen geeigneten Aufenthalt in reiner Wald-, Gebirgs- oder Seeluft gesorgt werden; unter Umständen sind Bäder, Kaltwasserkuren, Massage mit elektrischer Reizung der Nerven, nervenstärkende Mittel, Bromkalium, Chinin, Eisen am Platz. In schweren oder hartnäckigen Fällen ist Behandlung in einer geeigneten Heilstätte oft sehr wertvoll. Umfangreichere Gründung von Heilstätten, die für weitere Bevölkerungskreise zugänglich und mit Einrichtungen zu nützlicher, direkt heilsamer Beschäftigung (Gartenarbeit, Tischlerei etc.) versehen sind, ist höchst erstrebenswert. Die Ernährung muß geregelt werden, und unter allen Umständen muß für die Zukunft den Schädlichkeiten, welche die N. hervorgebracht haben, vorgebeugt werden. Die Heilung ist gewöhnlich langsam, aber bei rationeller Behandlung und gutem Willen des Kranken oft von vollkommenem Erfolg. Vgl. Beard, Die N., Neurasthenie (deutsch, 3. Aufl., Leipz. 1889) und Die sexuelle Neurasthenie (mit Rockwell; 6. Aufl., New York 1905; deutsch, 2. Aufl., Wien 1890); Möbius, Die Nervosität (u. Aufl., Leipz. 1885); v. Krafft-Ebing, Über gesunde und kranke Nerven (5. Aufl., Tübing. 1903), Nervosität und neurasthenische Zustände (in Nothnagels »Pathologie und Therapie«, 2. Aufl., Wien 1900) und Über Nervosität (3. Aufl., Graz 1884); v. Ziemssen, Die Neurasthenie (Leipz. 1887); Erb, Über die wachsende Nervosität unsrer Zeit (Heidelb. 1893); Kräpelin, Über geistige Arbeit (2. Aufl., Jena 1897); F. K. Müller, Handbuch der Neurasthenie (mit andern, Leipz. 1893); Löwenfeld, Pathologie und Therapie der Neurasthenie und Hysterie (Wiesbad. 1893, 2 Bde.) und Die moderne Behandlung der N. (4. Aufl., das. 1904); Binswanger, Pathologie und Therapie der Neurasthenie (Jena 1896); Deutsch, Neurasthenie beim Mann (5. Aufl., Berl. 1899); Möbius, Über die Behandlung von Nervenkrankheiten etc. (das. 1896). Vgl. Nervenkrankheiten.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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