Knochenbrüche

Knochenbrüche

Knochenbrüche (Fracturae), plötzliche Trennungen des Zusammenhanges eines Knochens, die fast immer durch eine von außen andringende Gewalt, seltener durch heftige Muskelkontraktionen oder sonstige im Knochen selbst liegende Umstände, wie hohes Alter des Individuums, gewisse Konstitutionskrankheiten, wie Syphilis, Krebs, Rachitis, Skrofeln und Skorbut, und örtliche Krankheiten, wie z. B. Knochengeschwülste, Echinokokken etc., bewirkt wird (Spontanfrakturen). Man unterscheidet rücksichtlich der Anzahl der bestehenden Brüche: die Fractura simplex, wenn nur eine Trennung stattfindet, die F. duplex, wenn ein Knochen zweimal gebrochen ist; nach dem Grade der Trennung: die F. completa s. perfecta, Trennung der ganzen Masse, und die F. incompleta s. imperfecta, eine teilweise Aufhebung des Zusammenhanges, die eine Fissura (Spalte) oder eine Infractio (Einknickung) sein kann; mit Bezug auf die Richtung der Trennung: den Bruch mit unbestimmter Richtung oder den Splitterbruch und den Bruch mit bestimmter Richtung, der entweder ein Querbruch oder ein schiefer Bruch oder ein Längenbruch ist; rücksichtlich der Verschiebung der Bruchstücke: Knochenbruch mit und ohne Dislokation der Bruchenden; in bezug auf das gleichzeitige Entstehen oder Bestehen andrer Krankheitszustände endlich: die einfache Fraktur, die eine einfache Trennung des Knochens ohne Zerreißung der Haut darstellt, und die komplizierte Fraktur, wo die Trennung des Knochens mit einer Hautwunde und grober Verletzung benachbarter Weichteile vergesellschaftet ist. Erkannt werden die K. durch die Schmerzhaftigkeit an der gebrochenen Stelle, durch die äußerlich sichtbare Verschiebung der Bruchenden, durch die jedesmal vorhandene, durch Blutaustritt bedingte Schwellung und durch das beim Bewegen der Bruchenden gegeneinander fühlbare Knirschen (Krepitation). Bei Knochenbrüchen der langen Röhrenknochen ist außerdem die Funktion der Muskeln gestört, der Arm kann nicht erhoben, das Bein nicht zum Gehen angesetzt werden. Die Bedeutung der K., die Beschwerden,. die sie mit sich führen etc., sind je nach dem Einzelfall verschieden. Wirkte die Gewalt, die den Bruch veranlaßte, mit großer Heftigkeit und in großer Ausdehnung ein, so ist der Verlauf ungünstiger, als wenn die Einwirkung vorübergehend und beschränkt war. Brüche in der Nähe der Gelenke sind gefährlicher als andre, weil sie zur Gelenkentzündung führen können. Ein einfacher Querbruch ohne Quetschung und Verschiebung läßt einen weit günstigern Ausgang hoffen als ein Splitterbruch, ein Schiefbruch mit gleichzeitiger Verwundung der Weichteile, mit Verrenkung des nächstgelegenen Gelenks u. dgl. Jüngere, robuste, wohlgenährte und aller Bequemlichkeit des Lebens sich erfreuende Patienten können einem schnellern Ausganz entgegensehen als ältere, schwächliche und in Dürftigkeit lebende Kranke.

Die Behandlung der einfachen K. muß je nach dem betroffenen Knochen verschieden sein, doch lassen sich folgende allgemeine Momente aufstellen: Der Transport der Kranken muß mit möglichster Schonung geschehen unter Verwendung von Tragbetten, Tragbahren und Schwungtragen, die namentlich in der Kriegschirurgie eine wichtige Rolle spielen. Vor einem weitern Transport legt man gern einen festen Verband, und zwar meist einen Gipsverband, an, um das gebrochene Glied gegen Erschütterung und Verschiebung der Bruchenden möglichst zu bewahren. Eine möglichst schnelle und sichere Heilung des Bruches und Wiederherstellung der Form und Verrichtung des Gliedes erfordert die Zurückführung der verschobenen Bruchenden in die normale Lage (Reposition) und die Erhaltung der Bruchenden in dieser Lage (Retention). Bei der Reposition muß man unterscheiden: die Distraktion oder Extraktion, Auseinanderziehung, und die Konformation oder Koaptation, die Aneinanderfügung der Knochenflächen. Der erstere Akt fällt den Gehilfen zu, von denen in der Regel der eine an dem gebrochenen Glied einen vorsichtigen Zug ausübt, während der andre den Körper des Kranken festhält und so den Gegenzug bewirkt; die Anpassung dagegen ist die Aufgabe des Arztes, der mit den Händen die getrennten Knochenflächen wieder in ihre alte Lage auseinander zu schieben hat. Richtige Reposition zeigt sich an durch die Wiederherstellung der normalen Länge, Richtung und Gestalt des Gliedes, durch das Verschwundensein der Unebenheiten und das Aufhören des Schmerzes an der Bruchstelle. Bei schwierig einzurichtenden Brüchen muß, namentlich um die oft überaus stark gespannte Muskulatur zu erschlaffen, der Kranke chloroformiert werden. Bei schweren Brüchen der langen Röhrenknochen tritt bisweilen Fettembolie ein. Um die Bruchenden in steter gleichmäßiger Berührung miteinander zu erhalten, dient teils gute Lagerung, teils feste Verbände, wie der Gipsverband und der Ravothsche Verband mittels Schienen, die in Baumwolle gewickelt sind, und um die noch irgend ein andrer befestigender Apparat angebracht werden kann. Als Zeichen, daß der Verband richtig und zweckmäßig angelegt ist, dienen Schmerzlosigkeit, Festigkeit und Sicherheit im Gliede, richtige Länge des Gliedes, gehörige Richtung im Vergleich zum gesunden sowie später der Mangel an entzündlicher und schmerzhafter Geschwulst. Das allmähliche Lockerwerden oder das Eintreten von örtlichen Zufällen, wie etwa eine entzündliche Anschwellung, Schmerzen, das Gefühl von Einschlafen oder von Krämpfen und Zuckungen, kann Eröffnung oder Erneuerung oder Weglassung des Verbandes nötig machen. Die Heilung der Brüche wird mit einer entzündlich-ödematösen Schwellung der Weichteile, der Knochenhaut und auch des Knochenmarkes eingeleitet. Beim Anlegen des ersten festen Verbandes ist daher das Glied genügend mit Watte zu umpolstern, damit der unnachgiebige Verband das schwellende Glied nicht preßt, die Blutzufuhr abschneidet und Brand erzeugt. Werden z. B. bei einem Gipsverband am Unterschenkel die Zehen nebst Fuß kalt und blau und klagt der Kranke über Schmerzen, so muß der Verband ausgeschnitten werden. Bei schiefen und solchen Knochenbrüchen überhaupt, wo durch Muskelgruppen eine Verschiebung der Bruchenden bewirkt und die Kontraktion auf andre Weise, wie z. B. durch eine gebogene Lage (Lagerung z. B. des Unterschenkels auf der schiefen Ebene), Entwickelungen etc., nicht gehoben werden kann, muß während der Heilung die Ausdehnung des Gliedes unterhalten werden. Die Apparate zu diesem Zweck sind ihrer Form und Konstruktion nach sehr verschieden. Die Heilung selbst geschieht durch die Bildung eines zuerst weichen, dann knorpelharten, schließlich verknöchernden Gewebes (callus), das aus der Knochenhaut, dem Markgewebe und der weitern Umgebung (parostealer Callus) der Bruchstelle gebildet wird. Das ergossene Blut wird aufgesogen und verschwindet in einigen Tagen. Einfache Querbrüche heilen an kleinen Röhrenknochen in 3–4, an großen Röhrenknochen in 8–12 Wochen, ein Finger etwa in 10, eine Rippe in 15, ein Schlüsselbein in 10, ein Vorderarmknochen in 30, ein Oberarm in 40, ein Schienbein in 50, ein Oberschenkel in 60 Tagen. Zum völligen Verschwinden des Callus sind oft Jahre erforderlich; wenn die Richtung der Bruchenden nicht gerade war, so bleibt ein Rest während des ganzen Lebens bestehen (definitiver Callus). Zuweilen geht die Callusbildung nicht in der richtigen Weise vor sich, sei es, weil der Entzündungsprozeß an der Bruchstelle übermäßig oder zu schwach war (letzteres bei alten oder schlecht genährten Personen), sei es, weil der Heilungsvorgang durch äußere Momente gestört wurde. Der Callus bleibt dann fibrös, wird nicht starr und knöchern, so daß an der Bruchstelle Beweglichkeit oder selbst ein falsches Gelenk (eine Pseudarthrose) zurückbleibt, die namentlich an den untern Extremitäten von den übelsten Folgen ist. Die mangelhafte Callusbildung wird, ebenso wie die oft sehr lästige und lange dauernde Steifheit und Schwäche des Gliedes infolge Muskelschwund, vermieden durch frühzeitig geübte passive Gelenkbewegungen und Massage nach Abnahme des Verbandes, der nachher wieder angelegt wird. Dieses namentlich an den Armen neuerdings viel geübte Verfahren führt rascher zur Wiedergewinnung eines brauchbaren muskelkräftigen Gliedes als die völlige Ruhestellung. Bei den Beinen erreicht man ähnliches durch die Gehverbände (s. unten). Sind einzelne schwer festzustellende Knochenteile (Knochenvorsprünge) abgesprengt, so kann man dieselben mittels Silberdraht wieder annähen. Die Behandlung komplizierter, mit äußern Wunden verbundener K., Schußfrakturen etc., erfordert außer der Sorge für die Geradestellung und Streckung des Gliedes die größte Sorgfalt für die Weichteile, da sich bei Entzündung derselben leicht eine lebensgefährliche Entzündung des Knochenmarks (Osteomyelitis) ausbildet. Die Einzelheiten dieser Behandlung s. Wunde.

Die Nachkur hat die Behandlung der infolge des Bruches zurückbleibenden Zufälle zum Gegenstande, die durch langes Beharren des Gliedes in einer bestimmten Lage und Richtung, durch Einwickelung mit den Verbandstücken, durch unzweckmäßiges Verhalten des Patienten oder unpassende Behandlung des Bruches hervorgerufen werden können. Stechen, Spannen, große Schwäche, ja zuweilen völlige anfängliche Unfähigkeit, das Glied zu gebrauchen, können durch Muskelschwund oder durch Adhärenz der Sehnen in ihren Sehnenscheiden infolge der langen Ruhe des Gliedes sich einstellen und durch fleißigen Gebrauch des Gliedes, durch Reiben und Streichen der Muskeln, durch Einreibungen und durch Bäder gehoben werden. Wird die Schwäche und die Gebrauchsunfreiheit nicht genügend beseitigt durch allmählich gesteigerte Übung, so ist eine elektrische, häufig besser noch eine Massagebehandlung am Platze. Die Steifigkeit eines naheliegenden Gelenks, Verkürzungen des Gliedes, Verkrümmungen etc. werden durch sachgemäß geleitete Bewegungen und Dehnungen vermieden. Zur Verhütung von Muskelschwund und Gelenksteifigkeit des Gliedes ist die sogen. ambulante Behandlung von Knochenbrüchen vorteilhaft, indem man nach kurzer Zeit, nachdem die erste Konsolidation erfolgt, die Kranken mit Stützapparaten versehen, aufstehen und gehen läßt (vom 6., 7. Tage ab; Gehverbände). Es werden bei diesem Verfahren auch eher Pseudarthrosen vermieden, weil der funktionelle Reiz callusbildend wirkt. Schlecht geheilte K. müssen je nach Umständen künstlich wieder gebrochen und in richtiger Lagerung zusammengeheilt werden. Der alte griechische Name für diese Operation ist Dysmorphosteopalinklasis. Ob Knochenverletzungen der Kinder während der Schwangerschaft und während der Geburt vorkommen können, ist eine vielfach bestrittene, in gerichtlich-medizinischer Hinsicht wichtige Frage. Unableugbare Beobachtungen und Erfahrungen sprechen aber für das wirkliche Vorkommen von Knochenverletzungen der Frucht während der Schwangerschaft. Auch sind Knochenverletzungen während der Geburt vorgekommen, ohne daß Instrumente gebraucht wurden. Vgl. Esmarch, Die erste Hilfe bei plötzlichen Unglücksfällen (19. Aufl., Leipz. 1904); Kiesewetter, K. und Verrenkungen (Wiesbad. 1893); Bruns, Die Lehre von den Knochenbrüchen (in der »Deutschen Chirurgie«, Stuttg. 1886); Hoffa, Lehrbuch der Frakturen und Luxationen (4. Aufl., Würzb. 1904); Kocher, Beiträge zur Kenntnis einiger praktisch wichtiger Frakturformen (Basel 1896); Lossen, Grundriß der Frakturen und Luxationen (Stuttg. 1897); Dollinger, Die ambulante Behandlung der Frakturen der untern Extremitäten (Wien 1898); Helferich, Atlas und Grundriß der traumatischen Frakturen und Luxationen (6. Aufl., Münch. 1903).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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