Rachītis

Rachītis

Rachītis (schott. räkits, »Höcker«, nicht v. griech. rhachis, Wirbelsäule, abgeleitet; Englische Krankheit, Zwiewuchs), eine eigentümliche chronische Erkrankung des frühen Kinderalters, deren Haupterscheinung eine Wachstumsstörung der Knochen ist. Sie findet sich gleichzeitig an allen Knochen des Skeletts, am auffallendsten an den Extremitäten. An den letztern tritt eine exzessive Wucherung der Knorpelscheiben an der Epiphysenlinie (Epiphysenknorpel) ein, die zwischen die Gelenkenden und das Röhrenstück der Knochen eingeschaltet sind; desgleichen verdickt sich die Knochenhaut. Die knorpeligen und fibrösen Massen aber, die durch übermäßige Wucherung der Epiphysenknorpel und des Periosts entstehen, werden unvollständiger und später als beim normalen Knochenwachstum in knöcherne Substanz umgewandelt. Es handelt sich also bei der R. nicht um Knochenerweichung, sondern um abnormes Weichbleiben von Gebilden, die unter normalen Verhältnissen durch Einlagerung von Kalksalzen hart geworden sein würden. Die Markhöhle vergrößert sich in dem rachitischen Knochen in gleicher Weise wie im gesunden Knochen; da jedoch der erstere keinen Zuwachs von fester Knochensubstanz an seinem Umfang gewinnt wie beim gesunden Knochen, so wird er sich leichter biegen und knicken lassen als vor Eintritt der R. Die weichen Gelenkenden der Knochen sind bei der R. plump und verdickt (daher die Bezeichnung: doppelte Glieder), die Röhrenteile der Knochen durch die Last des auf sie drückenden Körpers und durch den Muskelzug gekrümmt und gebogen. Am auffallendsten ist diese Krümmung an den Beinen, indem die Kniee weit voneinander entfernt stehen. Oft werden die Verbindungsstellen der vordern Rippenenden mit den Rippenknorpeln nach innen eingebogen, während das Brustbein nach vorn geschoben wird. Diese Verunstaltung (Hühnerbrust) erklärt sich aus der weichen Beschaffenheit der erwähnten Stellen, durch die sie die Fähigkeit verloren haben, dem äußern Luftdruck bei der inspiratorischen Erweiterung des Brustkorbes Widerstand zu leisten. Die Verbindungsstelle der Rippen mit ihren Knorpeln ist beträchtlich angeschwollen, und die Summe dieser Anschwellungen bildet einen halbkreisartigen Bogen, dessen Konvexität nach oben sieht (rachitischer Rosenkranz). An der Wirbelsäule können sich infolge der R. Verkrümmungen ausbilden. Das Becken wird häufig und manchmal in hohem Grad in der Art verunstaltet, daß sein gerader Durchmesser sich verkürzt und das Promontorium sich der Schambeinfuge nähert (rachitisches Becken, das späterhin als Geburtshindernis auftreten kann). Knickungen und Brüche der Knochen sind bei R. nichts Seltenes, pflegen aber ohne Zerreißung des Periosts abzulaufen. Die Fontanellen des Schädels schließen sich bei R. auffallend spät, die Gesichtsknochen scheinen manchmal in hohem Maße verdickt und ausgetrieben. Wenn die R., wie in der Regel, heilt, so schwellen die Gelenkenden ab, die Knochen werden fest; die Verkrümmungen der Glieder werden aber nur zum Teil wieder ausgeglichen. Individuen, welche die R. in sehr hohem Grade gehabt haben, bleiben gewöhnlich klein, und da zugleich der Schädel bei ihnen im Verhältnis zum Gesicht sehr groß ist, so gewähren solche Menschen einen eigentümlichen Anblick. Über die Ursachen der R. ist man nicht genügend unterrichtet. Offenbar handelt es sich um eine gewisse Unfähigkeit der Knochenzellen und des Knochengewebes, Kalk in sich aufzunehmen, bez. festzuhalten. Worin diese Anomalie begründet ist, ist unbekannt. Unwahrscheinlich ist, daß im Blute kreisende kalklösende Stoffe, z. B. Milchsäure, die Ursache der Knochenweichheit sei. Die ältere Anschauung, daß die Kalkzufuhr in der Nahrung oder die Kalkresorption im Darm eine mangelhafte sei, ist hinfällig. Sehr begünstigt wird die Entstehung der R. durch Mangel an Luft und Licht, schlechte und falsch zusammengesetzte Ernährung; auch Vererbung und das Klima (feuchtkalte Niederungen) sind bedeutungsvoll. Die R. entwickelt sich meistens zwischen dem vierten Lebensmonat und dem Ende des zweiten Jahres. Vor und während der Entwickelung der R. leiden die Kinder fast immer an Darmkatarrhen mit dünnen, grünlichen Stuhlentleerungen, sie magern ab und geben bei Bewegung der Glieder Zeichen von Schmerz von sich. Dann treten die Anschwellung der Gelenkenden und der rachitische Rosenkranz hervor. Fällt der Anfang der Krankheit in eine Zeit, wo das Kind noch keine Gehversuche gemacht hat, so bleiben die Glieder selbst bei jahrelanger Dauer der Krankheit oft von jeder Verkrümmung frei. Die Zähne brechen bei den rachitischen Kindern spät und unregelmäßig hervor. Die R. hat gewöhnlich eine Dauer von 2–3 Jahren. Geht die Krankheit in Genesung über, so verliert sich zunächst die hochgradige Magerkeit des Körpers, die Kinder fangen wieder an, sich zu bewegen. Aber gerade jetzt, wo die Knochen noch nicht fest sind, ist die Gefahr von Knochenverkrümmungen am größten. Wenn die Kinder erst im zweiten oder dritten Lebensjahr oder noch später erkranken, so fehlen der chronische Darmkatarrh und die Magerkeit, oft sogar die Schmerzen, und die Krankheit zeigt sich durch die allmählich zunehmende Verkrümmung der Knochen, die, vom Unterschenkel anfangend, nach oben fortschreitet, wobei die Kinder einen unbeholfenen und watschelnden Gang bekommen. Die Verhütung der R. erfordert reichliche Darbietung von Luft und Licht, gute Hautpflege, zweckmäßige Ernährung, sorgfältige Behandlung von Verdauungsstörungen. Die Behandlung bedient sich der gleichen Maßnahmen. Hierdurch kann der beginnende rachitische Prozeß ganz abgeschnitten werden und mit dem weitern Wachstum völlige Gesundung eintreten. Durch bloße Einführung von kohlensaurem oder phosphorsaurem Kalk in den Körper kann man die R. nicht heilen. Mit Recht sehr gebräuchlich sind bei der R. die Solbäder. Frühe Darreichung von Fleisch und jungen Gemüsen in geeigneter Form ist ratsam. Wenn die dargereichte Milch bei künstlicher Ernährung abgekocht werden muß, so ist doch auf nur kurzes Kochen zu achten (s. Kinderernährung). Die Kinder müssen so lange ruhig auf dem Rücken liegen, bis die Knochen sich vollständig konsolidiert haben. Aufsitzen im Bett, zu frühzeitiges Aufstehen und Herumgehen begünstigen die Verkrümmung und Knickung der Knochen. Vielfach kann die Verunstaltung an den untern Extremitäten, wo sie am schwersten zu sein pflegt, durch Anwendung passender Stützmaschinen ganz verhindert oder wenigstens vermindert werden. Zurückbleibende Verkrümmungen können auf operativem Wege gebessert werden. Vgl. Kassowitz, Die Symptome der R. (Leipz. 1886); Vierordt, R. und Osteomalacie (Bd. 7 von »Nothnagels Spezieller Pathologie und Therapie«, Wien 1896); Elze, Das Wesen der R. und Skrofulose und deren Bekämpfung (Berl. 1897); Monti, Kinderheilkunde in Einzeldarstellungen, Heft 11: Rachitis (Wien 1900); Zweifel, Ätiologie, Prophylaxis und Therapie der R. (Leipz. 1900); Schreiber, Prophylaxis und Therapie der R. (Berl. 1901).

Unter den Haustieren kommt R. (Knochenweiche) am häufigsten bei jungen Schweinen und Hunden vor, führt zu Gelenkauftreibungen, Verkrümmung der Gliedmaßen und völliger Verkümmerung (Zwergwuchs) und wird durch unrichtige Ernährung (Mangel von Kalksalzen) verschuldet, z. B. durch ausschließliche Verfütterung von Kartoffeln an Schweine und von Fleisch (ohne Knochen) an Hunde. Vorbeugen kann man der R. durch sorgsame Mischung der Nahrung mit kalkreichern Nahrungsmitteln (Milch, bez. Brot) sowie Beigabe von präpariertem Knochenmehl (1 Tee- bis 1 Eßlöffel) zu jedem Futter. Behandlung tierärztlich (mit Phosphor). Auch bei Fohlen und Kälbern kommt R. vor, bei letztern angeboren. Im Wesen von der R. verschieden ist die Knochenbrüchigkeit (s. d.).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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