- Arbeiterkolonien
Arbeiterkolonien, im allgemeinen Niederlassungen für Arbeiter und Arbeiterfamilien. Dieselben können den Zweck haben, Arbeiter seßhaft zu machen, indem ihnen auf einer Ansiedelung der allmähliche Erwerb von Grundstücken zu freiem Eigentum ermöglicht wird (daher auch Ackerbaukolonien genannt); im engern Sinne ländliche Niederlassungen, die dazu bestimmt sind, Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen, die augenblicklich keinen Erwerb finden und daher dem Wanderbettel anheimfallen oder anheimzufallen drohen, Beschäftigung zu gewähren. Die Bezeichnung A. gehört der neuern Zeit an, früher war mehr die Benennung Armenkolonien üblich. womit freilich der Gedanke nahegelegt ist, als ob es sich nur um dauernde Verpflegung Verarmter handle. Versuche der gedachten Art wurden im kleinen gemacht von dem Freiherrn v. Voght in Flottbeck bei Hamburg und vom Herzog von Larochefoucauld in Liancourt (Frankreich), in größerm Maßstabe 1818 von General van den Bosch, unter dessen Leitung sich in Holland die Maatschappij van Weldadigheed (Gesellschaft der Wohltätigkeit) bildete, die brotlose, arbeitsfähige und arbeitswillige Leute in A. ansiedeln, Findelkinder in Erziehung nehmen und Gewohnheitsbettler zwangsweise zur Arbeit anhalten wollte. Es wurden die freien Kolonien Frederiksoord, Wilhelmsoord und Wilhelminasoord u.a. gegründet, die später vom Staat übernommen wurden.
Im Anschluß an die holländischen Versuche wurde Ende der 30er Jahre des 19. Jahrh. vom Pastor Heldring, Direktor Jahn u.a. auch für Preußen die Gründung von A. zur Einschränkung der Wanderbettelei angeregt, jedoch ohne Erfolg. Später versuchten dann die evangelischen Herbergen zur Heimat (s. Herberge) und die katholischen Gesellenvereine (s. d.) sowie die Vereine gegen Hausbettel (s. Bettelwesen) die Wanderunterstützung zweckmäßiger zu gestalten. Allein die Erfolge waren nicht erheblich, teils weil es an einer einheitlichen, ein größeres Gebiet umfassenden Organisation fehlte, teils weil die vorhandenen Einrichtungen mehr gegen äußere Erscheinungen als gegen die Ursachen des Übels ankämpften. Als zu Ende der 70er Jahre der Wanderbettel in Deutschland neuerdings in bedrohlicher Weise um sich gegriffen hatte, kam man wieder auf die frühern Bestrebungen zurück. Pastor v. Bodelschwingh, der das Elend der armen Wanderer in Westfalen kennen gelernt hatte, verbreitete solche Ideen und rief, unterstützt von Freunden der innern Mission, in einzelnen preußischen Provinzen Vereine zur Bekämpfung der Vagabundenplage und zur Errichtung von A. und Verpflegungsstationen (s. Naturalverpflegungsstationen) ins Leben. Nachdem er schon längere Zeit hilfsbedürftigen und würdigen Wanderern in der Anstalt Bethel gegen Arbeit dauernde Unterkunft gewährt hatte, gründete er die erste deutsche Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf (1882) zu dem Zwecke: 1) arbeitslustige und arbeitslose Männer jeder Konfession und jeden Standes so lange in ländlichen und andern Arbeiten zu beschäftigen, bis es möglich geworden ist, ihnen anderweit lohnende Arbeit zu beschaffen und ihnen so die Hand zu bieten, bom Vagabundenleben loszukommen; 2) arbeitsscheuen Vagabunden jede Entschuldigung abzuschneiden, daß sie keine Arbeit hätten. In den folgenden Jahren griff die Bewegung für A. um sich, so daß zur Zeit (nach der Zeit der Gründung geordnet) folgende 29 A. bestehen: Wilhelmsdorf in Westfalen, Berlin mit Reinickendorf, Kästorf in Hannover, Vicking in Schleswig-Holstein, Friedrichswille in Brandenburg, Dornahof in Württemberg, Seyda in der Provinz Sachsen, Dauelsberg in Oldenburg, Wunscha in Schlesien, Meierei in Pommern, Karlshof in Ostpreußen, Ankenbuck in Baden, Neu-Ulrichstein in Hessen, Lühlerhein in der Rheinprovinz (evangelisch), Schneckengrün im Königreich Sachsen, Elkenroth in der Rheinprovinz (katholisch), Simonshof in Bayern, Maria-Veen in Westfalen (katholisch), Alt-Latzig in Posen, Magdeburg in der Provinz Sachsen, Gailsdorf in Thüringen, Erlach in Württemberg, Hamburg, Hohenhof in Schlesien (katholisch), Hilmarshof in Westpreußen. Herzogsägmühle in Bayern, Urst in der Rheinprovinz (katholisch), Lieske im Königreich Sachsen, Schernau in der Pfalz. Der Gesamtbestand der belegbaren Plätze betrug Ende November 1900: 3489, der der Kolonisten 2899; im ganzen waren seit 1882: 119,078 Kolonisten aufgenommen, 116,325 entlassen worden. Der Grundbesitz der A. beträgt ca. 4000 Hektar. Die 24 Vereine, von denen diese A. erhalten werden, unterstehen dem Zentralverband deutscher A., dessen Vorsitzender zur Zeit Geheimrat v. Massow (Potsdam) und dessen Organ »Der Wanderer« (Bethel bei Bielefeld) ist. Die Mittel zur Unterhaltung werden durch Beiträge der Mitglieder, freie Liebesgaben, Legate etc., z. T. auch durch Zuschüsse öffentlicher Körper (insbes. der Provinzen und Kreise) aufgebracht. – Alle A. haben eine gemeinsame Hausordnung. Die Vergütung für die Arbeit der Kolonisten, die als Notgroschen und zur Beschaffung einer anständigen Kleidung dienen soll, beträgt nicht über 25 Pf. im Winter, 40 Pf. im Sommer. Die Beschäftigung besteht in der Regel in land- und forstwirtschaftlichen, nur ausnahmsweise in gewerblichen Arbeiten. Die Grundlage der A. ist eine christliche. Jede Kolonie kann Kolonisten ohne Unterschied der Heimat aufnehmen, solange der Raum reicht; doch sollen die in den betreffenden Landesteilen Heimat- oder Unterstüzungswohnsitz-Berechtigten bevorzugt werden. – Neben den eigentlichen A. gibt es mehrere Abarten: Zweigkolonien als Filialen der Hauptkolonien, ferner die Heimatskolonien. Die letztern haben den Zweck, denjenigen Kolonisten, die sich als tüchtig erwiesen haben, die Möglichkeit zu gewähren, sich seßhaft zu machen und durch eigne landwirtschaftliche Arbeit ihr Brot zu verdienen. Die erste derartige Kolonie war Friedrich-Wilhelmsdorf bei Geestemünde; ihr folgten Schäferhof bei Pinneberg und die Moorkolonie Freistatt in Hannover. Auch Trinkerheilstätten und Strafkolonien für rückfällige Kolonisten (»Kolonienbummler«) hat man mit den A. zu verbinden gesucht. Durch Pastor Isermeyer in Hildesheim u.a. wurde die Bewegung für A. auch auf die Errichtung weiblicher A. ausgedehnt, von denen zur Zeit zehn bestehen, nämlich: Elberfeld-Barmen, Lippspringe in Westfalen, Großsalza in der Provinz Sachsen, Himmelsthür bei Hildesheim, Borsdorf bei Leipzig, Tobiasmühle bei Radeberg, Steglitz bei Berlin, Köstritz bei Gera, Eckenheim bei Frankfurt. a. M., Plötzensee bei Berlin. Vgl. Stursberg, Über A. und Naturalverpflegung etc. (Gotha 1883); v. Bodelschwingh, Die Ackerbaukolonie Wilhelmsdorf (Bielef. 1882); Derselbe, Vorschläge zur Vereinigung aller deutschen A. (2. Aufl., das. 1884); Berthold: Die Entwickelung der deutschen A. (Leipz. 1887; fortgesetzt Berl. 1889 u. 1893), Statistik der deutschen A. (Berl. 1891), Die deutschen A., ihre Entstehung und Entwickelung 1882–1895 (das. 1897); Märker, Vagabundennot, A. und Verpflegsstationen (Heilbr. 1887); Artikel »A.« im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, Bd. 1 (2. Aufl., Jena 1898); »Protokolle der ordentlichen Versammlungen des Zentralvorstands deutscher A. in den Jahren 1884 ff.« (Berl.); Berichte der Vereine für A.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.