- Innere Kolonisation
Innere Kolonisation, die Bezeichnung der Maßnahmen, durch die in den europäischen Kulturstaaten anbaufähiges, aber nicht genügend besiedeltes Land mit bäuerlichen Wirten besetzt oder bei übermäßigem Vorherrschen des Großgrundbesitzes dieser zwecks Herstellung einer günstigern Besitzverteilung zerschlagen und in kleinere und mittlere bäuerliche Besitzungen zerlegt wird. In frühern Zeiten (s. Germanisieren) wurde besonders angestrebt, noch nicht bebaute oder durch langjährige Kriege verödete Ländereien durch Ansetzung von Gemeinden für die Kultur zu gewinnen. So rief in dem damals menschenarmen Preußen 1635 der Große Kurfürst 15,000 französische Protestanten ins Land; so siedelte 1732 Friedrich Wilhelm I. in Ostpreußen 17,000 Salzburger an; Friedrich d. Gr. besetzte zahlreiche Kolonien mit schweizerischen, pfälzischen und andern Einwanderern; während seiner Regierungszeit sind nicht weniger als 300,000 Personen in dieser Weise in Preußen angesiedelt worden. Unter dem Einfluß der Malthusschen Bevölkerungstheorie und den individualistischen Doktrinen traten mit Beginn des 19. Jahrh. die Bestrebungen für i. K. zurück und die Kunst, zu kolonisieren, betätigte sich in Deutschland, abgesehen vom nordwestlichen Moorgebiete (s. unten), nur gelegentlich. Erst in neuerer Zeit hat man durch umfassende Kolonisation den mittlern und kleinen Grundbesitz vornehmlich in denjenigen Gebietsteilen zu mehren gesucht, wo die Ausbreitung großer Landgüter die Entwickelung des ländlichen Mittelstandes gehemmt oder räumlich beschränkt hat. Man machte in Preußen die Wahrnehmung, daß trotz der großen Bodenflächen, die einer intensivern Kultur gewonnen und zahlreichen bäuerlichen Familien ausreichende Nahrung gewähren konnten, die Ab- und Auswanderung aus den landwirtschaftlichen Distrikten des Ostens, der Mitte und des Südens des preußischen Staates einen außerordentlichen Umfang annahm. So verloren diese Gebiete durch Abwanderung in die gewerbreichen Distrikte des Westens 1885–90 nicht weniger als 873,000 Köpfe. Während letztere eine wachsende Reservearmee ansammelten, gebrach es den östlichen Ackerbaudistrikten an Arbeitskräften und standen Tausende von ländlichen Arbeiterwohnungen leer. Ebenso hat der Wunsch, ein Stück Land zu Eigentum zu erwerben, in derselben Periode und aus den nämlichen Distrikten 330,000 Menschen, und zwar gerade die tüchtigsten Kräfte der Landarbeiterschaft, dem Vaterland entzogen und über das Meer geführt. Mit der Erkenntnis der Ursachen, des Umfanges und der schädlichen Wirkungen solcher Zustände begannen die Versuche durch Verbesserung der Grundbesitzverteilung, vornehmlich in den ostelbischen Gebieten die Entvölkerung zu beseitigen und einen lebensfähigen Stand kleiner und mittlerer bäuerlicher Wirte zu schaffen. Zu diesem Ende versuchten schon früh einige Gutsbesitzer, ihre Arbeiter in kleine Unternehmer im Wege der Verleihung von kleinen Eigentumsparzellen umzuwandeln und dadurch seßhaft zu machen, auch legten sie in Westpreußen und Pommern zur Besserung der eignen Vermögensverhältnisse unter Einschränkung des großwirtschaftlichen Betriebes Parzellenkolonien an. Auch die preußische Regierung hatte in den 1830er und 40er, zuletzt in den 70er Jahren namentlich in Neuvorpommern auf parzellierten Domänen eine Anzahl von Bauerndörfern angelegt. Alle diese Versuche hatten aber infolge von mancherlei Mißgriffen keine oder nur sehr geringe Erfolge aufzuweisen. Arbeiterstellen können nur dann zur Verbesserung der sozialen Zustände beitragen, wenn sie sich in beschränkter, der Arbeitsnachfrage angepaßter Zahl an bäuerliche Gemeinden anschließen. Von der Errichtung von Häuslerstellen ist man in Preußen ganz zurückgekommen, die Ursache für das Mißlingen bäuerlicher Ansiedelungen fand man in dem unrichtigen Bemessen des dem Einzelnen zugewiesenen Landes. In Erkenntnis und unter Vermeidung dieser Mißgriffe begann man in neuester Zeit andre Wege einzuschlagen. Es geschah dies durch Gesetz vom 26. April 1886, das deutsche Ansiedelungen in Posen und Westpreußen befördern sollte (s. Ansiedelung) und durch Gesetz vom 7. Juli 1891, betreffend die Förderung der Errichtung von Rentengütern (s. d.).
Für die Inangriffnahme einer innern Kolonisation im Osten sind neben den wirtschaftlichen und sozialpolitischen auch deutschnationale Gesichtspunkte bestimmend gewesen. Es ist nachgewiesen, daß durch den Wegzug deutscher Arbeiter, denen die niedrigere Lebenshaltung des polnischen Proletariats eine unüberwindliche Konkurrenz schafft, insonderheit die Provinzen Posen und Westpreußen mehr und mehr dem Polentum verfallen. Dies zu verhindern und das Deutschtum durch Heranziehung tüchtiger Kräfte zu stärken und zu mehren, ist die nationale Seite der Kolonisation in den Ostprovinzen, die von der Ansiedelungskommission bei der Auswahl der Ansiedler auch immer scharf im Auge behalten wurde.
Neben der Ansiedelungskommission sind indes auch die Generalkommissionen (s. d. und Ablösung, S. 44) tätig gewesen. Aber während jene nur Deutsche als Kolonisten ansetzte, hat die Generalkommission zu Bromberg mit staatlichem Kredit auch zahlreiche polnische und andre nichtdeutsche Ansiedler unterstützt; dagegen hat die Generalkommission in Frankfurt a. O. solche nur in beschränktem Maße zugelassen. Auf polnischer Seite hat man den Bestrebungen, das Anwachsen des Polentums zu verhindern, durch die Gründung von Landerwerbsgenossenschaften entgegenzutreten gesucht. Doch wurden diese Versuche erst lebensfähig durch das Rentengütergesetz vom 7. Juli 1891, das die Behörden ermächtigt, mittlern und kleinern Landwirten zum Ankauf von Grund und Boden und zur ersten Einrichtung Darlehn zu gewähren. Von dieser Vergünstigung machten die Polen ausgiebigen Gebrauch, doch scheinen ihre Kolonien trotzdem nicht zu gedeihen.
In Mecklenburg-Schwerin, wo nach dem Dreißigjährigen Kriege viele Bauernhufen wüst lagen, das Land aber trotzdem unter Auswanderung zu leiden hatte, schuf man seit 1853 in den zum großherzoglichen Domanium gehörigen Dorfschaften bis 1800 etwa 4000 Büdnereien, die aber, weil die Besitzgrößen nicht richtig bemessen waren, nicht recht gedeihen wollten. Dagegen hat sich die seit 1846 auf Domanialland begonnene Begründung von Händlerstellen (bis 1899: 8959) sehr gut bewährt und einen Stamm gutsituierter Arbeiter entstehen lassen. Ein nach langjährigen Verhandlungen zustande gekommenes Gesetz vom 28. Mai 1898, das nach dem Muster des preußischen Rentengütergesetzes die Gründung von bäuerlichen Ansiedelungen auf ritterschaftlichem Gebiet anregen wollte, hat bisher fast keine Anwendung gefunden.
Rein wirtschaftlichen Zwecken danken die Fehn- und Moorkolonien ihre Entstehung. Man folgte hier dem Beispiel des benachbarten Holland (s. unten). Die erste Fehnkolonie wurde 1630 von dem Grafen Landsberg-Velen bei der Papenborg (der heutigen Stadt Papenburg) angelegt. In neuerer Zeit gründete man solche Kolonien in Ostfriesland und 1856 in Oldenburg (Augustfehn im Lengener Moor). Sie zählen jetzt 17,000 Einw., die 10,000 Hektar unter Kultur haben und deren Torf-, Küsten- und Seeschiffe etwa 17,000 Reg.-Ton. Raumgehalt besitzen. Die Hauptkanäle haben eine Länge von 197, die Nebenkanäle von 60,5 km. Dazu kommen noch die kleinen oldenburgischen Kolonien Peters-, Elisabeth-, Barger-, Friedrichsfehn u. a. Moorkolonien wurden an der untern Weser und ihrem Nebenfluß Wümme mit Hamme, an der Oste, in Ostfriesland, Oldenburg, im jetzigen Regierungsbezirk Osnabrück schon seit 1720 und bis in die neueste Zeit angelegt. Jetzt gibt es mehr als 250 derselben mit 55,000 Hektar und 60,000 Einw. Doch bleibt hier noch viel zu tun, da allein in der Provinz Hannover 560,000 Hektar solchen Landes der Kultur zu gewinnen sind. S. Moorkolonien.
In England, wo der Grund und Boden fast ausschließlich in den Händen weniger Großgrundbesitzer ist und die Auswanderung zum großen Teil in dem sich auch hier mehr und mehr geltend machenden Wunsch, auf der eignen Scholle zu wohnen, wurzelt, wurden 1887 und 1890 Allotment Acts erlassen, wonach die County-Councils (Kreisausschüsse) Land erwerben können, auch durch Enteignung, um dasselbe in Parzellen von 1 Acre (0,4 Hektar) an Tagelöhnern. a. gegen geringe Pacht zu überlassen. Schon weiter geht die Small Holding Act von 1892, wonach die County-Councils Grundeigentum erwerben können, aber ohne Zwang, um dasselbe in Parzellen von 1–50 Acres (0,4–20 Hektar) unter sehr günstigen Bedingungen zu verkaufen. Jedoch sind die Erfolge des Gesetzes bisher minimal gewesen. Die ganze Veranstaltung ist angeblich durch das Gesetz 1894, betreffend die Schaffung von Tarish Councils, hinfällig geworden. In Rußland wurde 18. Mai 1882 der Bauernbank die Aufgabe gestellt, durch Kreditgewährung Bauerngemeinden oder auch einzelnen Bauern den Ankauf von Land zu ermöglichen, 1889 auch durch Gesetz die Besiedelung der sibirischen Domänen erleichtert, durch Gesetze von 1888 und 1895 die Wirksamkeit der Bauernbank auf ganz Rußland, außer Finnland, ausgedehnt. In Italien hat der ausgedehnte Latifundienbesitz die größten sozialen Mißstände hervorgerufen, aber erst nach den jüngsten Aufständen in Sizilien hat sich einer der bedeutendsten Großgrundbesitzer entschlossen, seine Güter zur Ansiedelung zahlreicher kleiner Bauernfamilien zu zerschlagen. In den Niederlanden wurden bereits um 1600 Fehnkolonien in den dortigen Mooren, anfangs von Privaten und Gesellschaften, teilweise mit reichlicher Staatsunterstützung, dann auch von der Stadt Groningen angelegt. Jetzt bestehen elf solcher Kolonien mit trefflichem Acker-, Wiesen- und Weideland. In neuester Zeit gründete man die Landbaukolonien Fredericksoord, Wilhelmsoord und Wilhelmina-Oord, die den Zweck haben, Arbeiterfamilien fest anzusiedeln. Vgl. die Literatur bei Art. »Germanisieren«; ferner Behaim-Schwarzbach, Hohenzollernsche Kolonisationen (Leipz. 1874); »Schriften des Vereins für Sozialpolitik«, Bd. 32 (Aufsätze von Schmoller, Theil, Rimpler und Sombart, das. 1886) und Bd. 56: Sering, Die i. K. im östlichen Deutschland (das. 1893), und Artikel »Kolonisation« (innere) im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, Bd. 5 (2. Aufl., Jena 1900); Hugenberg, J. K. im Nordwesten Deutschlands (Straßb. 1891).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.