Innere Mission

Innere Mission

Innere Mission, christliche, namentlich evangelische Vereinstätigkeit, die neben Linderung der äußern Not zugleich Befestigung oder Wiedererweckung des christlichen und kirchlichen Sinnes in gefährdeten oder bereits entfremdeten Gliedern der Gemeinde erstrebt. Was die i. M. bezweckt, ist auch in frühern Jahrhunderten unter mancherlei Formen geübt oder angestrebt worden (vgl. Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit, Stuttg. 1882–84, Bd. 1 und 2), erschien jedoch fast ausschließlich als Aufgabe des geistlichen Amtes oder als freiwillige Leistung sogen. Orden, d. h. vom weltlichen Berufsleben gesonderter eigner Genossenschaften. In der rationalistisch-gemeinnützigen Zeit von 1750–1820 geschah viel Gutes an Armen und Verlassenen, aber weniger in kirchlichem Sinn als im Geist allgemeiner Philanthropie. Die Notwendigkeit vermehrter kirchlicher Fürsorge für Arme und Verkommene drängte sich in Deutschland den christlich angeregten Kreisen auf, die nach den Befreiungskriegen in größern Städten und gewerbreichen Gegenden einer verarmten und gleichzeitig der Kirche entfremdeten Bevölkerung gegenüberstanden. Anregende Vorbilder boten namentlich England und Schottland dar. Doch entwickelte sich die Sache in Deutschland eigenartig aus örtlichem Bedürfnis. Die Begründung von Rettungshäusern (s. d.) für die verwahrloste Jugend durch Joh. Falk in Weimar (1813) und die Brüder Grafen v. d. Recke-Volmerstein in Overdyck und Düsselthal (1816) sowie die Stiftung der Bildungsanstalt für Armenschullehrer in Beuggen (1820) bei Basel durch Ch. H. Zeller waren die ersten denkwürdigen Schritte auf dieser Bahn. Im gleichen Sinn eröffnete 1833 J. H. Wichern, von der frommen und gemeinnützigen Amalie Sieveking angeregt, das Rauhe Haus (s. d.) bei Hamburg und Th. Fliedner 1836 die erste evangelische Diakonissenanstalt in Kaiserswerth am Rhein. Den zusammenfassenden Namen der »innern Mission«, durch den derartige Bestrebungen in Parallele mit der äußern oder Heiden- und Judenmission (s. Mission) gesetzt wurden, gab ihnen zuerst im Anschluß an den Göttinger Theologen Fr. Lücke (s. d.) Wichern. Einen mächtigen Gönner fand die i. M. seit 1840 an König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, und neuen Aufschwung erhielt sie durch die Erfahrungen des unruhigen Jahres 1848, die auf dem ersten Kirchentag zu Wittenberg 1849 zur Begründung des Deutschen Zentralvereins für i. M. führten, der 1903 seinen 32. Kongreß in Braunschweig abhielt. Außer den schon erwähnten Rettungshäusern für verwahrloste Kinder wie den Diakonissenhäusern für Armen-, Krankenpflege und den Kleinkinderschulen umfaßt die i. M. noch Vereine und Anstalten für einzeln stehende Jünglinge und Mädchen (Jünglingsvereine, Mägdeherbergen, Herbergen zur Heimat, Marthastifter), Gefängnisvereine, besonders für entlassene Sträflinge, Arbeiterkolonien zur Rettung arbeitsscheuer Herumtreiber, Magdalenenhäuser zur Rettung gesunkener Frauen etc. In großen Städten, wie Berlin, Hamburg, Breslau, sucht man neuerdings alle derartigen Bestrebungen in Gestalt sogen. Stadtmissionen einheitlich zu ordnen. Auch haben in vielen größern Städten die Vereine für i. M. eigne Häuser für ihre Versammlungen etc. erbaut (evangelische Vereinshäuser, meist mit Herbergen zur Heimat [gegen 300 in Deutschland] verbunden; vgl. Herberge). Vielfach berührt die i. M. sich mit allgemeinen staatlichen und sozialen Interessen, vorzüglich auf dem Gebiete des Armenwesens (Arbeiterkolonien, s. d., Verpflegstationen für landstreichende Bettler etc.) und des Gefängniswesens, wie denn Wichern, der tatkräftigste Vertreter der innern Mission in Norddeutschland, seit 1852 in ein amtliches Verhältnis zum preußischen Gefängniswesen trat und 1858 als vortragender Rat in das Ministerium des Innern wie in den Oberkirchenrat zu Berlin berufen ward. Mit der sonstigen, nicht erklärt kirchlichen Vereinstätigkeit wie auch mit dem adligen Johanniterorden (s. d.) u. a. ist die i. M. häufig in Arbeitsgemeinschaft getreten und hat durch diese mannigfachen Berührungen allmählich viel von dem engherzig pietistischen Anstrich verloren, der ihr oft mit unbilliger Einseitigkeit, aber nicht immer unverdient, vorgeworfen worden ist. Im letzten Jahrzehnt brachte die lebhaftere Beschäftigung mit der sogen. sozialen oder Arbeiterfrage (s. d.) der innern Mission neuen Aufschwung und erhöhte Beachtung in weitern Kreisen, aber auch mancherlei Kontroversen unter ihren Freunden und Förderern, die auf den evangelisch-sozialen Kongressen (namentlich 1894 in Frankfurt a. M.) u. a. lebhaften Ausdruck fanden. – Auf katholischer Seite herrscht ebenfalls reger Eifer für die Aufgaben der innern Mission, die dort, meist unter dem Namen der christlichen Charitas, mit Aufwendung großartiger Mittel von Vinzentiusvereinen, Bonifatiusvereinen u. dgl. betrieben wird. Nur mischt sich dort, der katholischen Grundrichtung entsprechend, leicht propagandistische Absicht in die übrigens durch rege Opferwilligkeit ausgezeichnete hilfreiche Liebe. Vgl. »Fünfzig Jahre innere Mission« (Bericht des Zentralausschusses, Berl. 1898); Busch, Die i. M. in Deutschland (Gotha 1877); Schäfer, Die i. M. in Deutschland (mit andern, Hamb. 1878–83, 6 Bde.), Leitfaden der innern Mission (4. Aufl., das. 1903), Praktisches Christentum. Vorträge aus der innern Mission (Gütersl. 1888–96, 3 Bde.) und Die i. M. in der Schule (5. Aufl., das. 1900); E. Schneider, Die i. M. in Deutschland (Braunschw. 1888, 2 Tle.); Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit, Bd. 3 (Stuttg. 1890); die betreffenden Teile in Zimmers »Handbibliothek der praktischen Theologie« (Gotha 1891 f.); Wurster, Die Lehre von der innern Mission (Berl. 1894); Wichern, Gesammelte Schriften, Bd. 3 (Hamb. 1902); A. Jentsch, Wege und Ziele der innern Mission (Leipz. 1901); Evers, Die Berliner Stadtmission (Berl. 1902); »Bibliothek für i. M.« (Leipz. 1890 ff.); »Monatsschrift für i. M.« (hrsg. von Busch, Gütersl. 1880 ff.). Organ des Zentralvereins sind die von Wichern begründeten »Fliegenden Blätter des Rauhen Hauses« (Hamb., seit 1843).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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