- Form [1]
Form (lat. forma, »Gestalt«), im Gegensatz zur Materie (s.d.), dem Stoffe, die Art und Weise (das Wie), wie die Teile eines Ganzen (dessen Was) zu diesem verbunden sind. Eine solche kann es daher nur bei einem aus Teilen (Einheiten) Bestehenden (Zusammengesetzten), aber bei jedem solchen, sei es ein bloß äußerlich (kollektiv) oder innerlich (organisch) verbundenes Ganze, muß es eine F. geben. Nur das gänzlich Einfache, Teillose (der mathematische Punkt im Raum, der Augenblick in der Zeit, das teillose Atom in der Körperwelt, die einfache Sinnesempfindung im Bewußtsein) besitzt keine F. Dagegen lassen sich sowohl in der mathematischen Welt an jeder (Raum-, Zeit- oder Zahlen-) Größe als in der realen Körperwelt an jedem (seinen letzten Elementen nach aus einfachen Atomen bestehenden) unorganischen wie organischen Körper, in der Bewußtseinswelt an jedem (seinen letzten Bestandteilen nach schließlich auf einfache Elemente zurückführbaren) Phänomen des Vorstellens (Anschauens, Begreifens, Urteilens und Schließens), Fühlens und Strebens (Begehrens und Wollens) Materie und F. (die Bestandteile und deren Verknüpfung), wenn auch nicht in Wirklichkeit voneinander trennen (da die Verbindung zwischen den Teilen unauflöslich sein kann), aber doch in Gedanken (in der Abstraktion) voneinander sondern. In gleichem Sinne unterscheidet Kant die sinnlichen Empfindungen als den Stoff der Erkenntnis von den Anschauungs- und Denkformen, durch deren Hinzutritt erst die Vorstellung von Gegenständen entstehe. Wissenschaften, welche die F. im obigen Sinne zum Gegenstand haben, heißen Formwissenschaften. Im engern Sinne werden jedoch nur die Mathematik und die Logik Form- (formale) Wissenschaften genannt, insofern sie es mit den nicht in der objektiven Natur der Dinge, sondern in der Beschaffenheit des sie auffassenden Subjekts begründeten Formverhältnissen zu tun haben. Bei Aristoteles bedeutet F. (eidos) im Gegensatz zur Materie (hyle) das begriffliche Wesen des Gegenstandes.
In der Ästhetik ist F., wie sonst, die sich von andern unterscheidende Art und Weise, in der ein Gegenstand oder eine Tätigkeit in die Erscheinung tritt. Dieser Begriff der F. bildet also einerseits den Gegensatz zu dem Stoff, dem Material, anderseits zu dem Gedanken, der Absicht, dem noch nicht zu einer bestimmten Erscheinungsweise geprägten geistigen Leben, das sich durch die F. offenbart. Insofern ästhetisch nur diejenigen seelischen Inhalte sind, die nicht allein gedacht, sondern in einer bestimmten konkreten F. verkörpert worden sind, ist der oft geäußerte Satz berechtigt, daß beim Kunstwerk alles auf die F. ankomme: der echte Künstler denkt jeden Inhalt von Anfang an und unwillkürlich immer gleich in der F., die er ihm geben kann; er verwirft Inhalte, die ästhetisch-wirksamer Formgebung widerstreben. Anderseits ist es aber völlig verkehrt, die starken Wirkungen, die von dem Inhalt des Kunstwerkes ausgehen, als außerästhetisch zu bezeichnen: Inhalt und F. bilden in der Wirklichkeit eine Einheit, deren bedeutender Eindruck gerade dadurch zustande kommt, daß beide Elemente auf das innigste verschmolzen sind. Daher wirkt auch alle echte F. von innen heraus, sie ist innere F., sie ist dem Inhalt und der Auffassungsweise, die in dem Kunstwerk zum Ausdruck kommt, auf das genaueste angepaßt. Dem gegenüber versteht man unter äußerer F. eine solche, bei der dieser enge Zusammenhang mit dem Inhalt gelöst ist, eine F., die nur nach hergebrachten Regeln äußerlich aufgetragen ist, und die des individuellen Gepräges entbehrt. Die Wohlgefälligkeit der äußern F. (»Schönheit«) beruht auf der Anordnung der Teile der zusammengesetzten Gebilde der Wahrnehmung. So sind bei optischen Eindrücken die symmetrische Gliederung, die Gliederung nach dem Goldenen Schnitt, die Wellenlinie, bestimmte Farbenharmonien, bei akustischem Rhythmus, harmonische Zusammenklänge und Tonintervalle die Grundlagen des starken ästhetischen Gefühls, das die F. erregt.
In der Rechtswissenschaft versteht man unter F. die Kundgebung des ein Rechtsgeschäft zum Ausdruck bringenden Gedankens durch genau bestimmte, sakramentale Worte oder symbolische Handlungen. In der Jugendzeit der Völker spielen diese Formen eine große Rolle, bei steigender Kulturentwickelung werden dieselben jedoch als eine drückende Fessel empfunden und abgestreift. Das römische Recht wie das deutsche Recht besaßen einen großen Formenschatz, allein schon das gemeine Recht und, ihm sich anschließend, das preußische Landrecht und der Code civil haben den Grundsatz der Formfreiheit mehr und mehr angenommen, bis endlich das Handelsgesetzbuch und das Bürgerliche Gesetzbuch als Grundsatz die Formlosigkeit der Rechtsgeschäfte angenommen haben und eine besondere F. nur dann verlangten, wenn dieselbe durch das Gesetz oder durch eine den Erklärenden bindendes Rechtsgeschäft (Vertrag, Testament) vorgeschrieben ist. Das Bürgerliche Gesetzbuch kennt nachstehende Formen: 1) die Schriftlichkeit, d. h. Niederschrift der Erklärung und eigenhändige Unterschrift des Erklärenden. Schriftform ist unter anderm notwendig für den Miet- und Pachtvertrag, wenn er für länger als ein Jahr abgeschlossen wird (§ 566, 581 des Bürgerlichen Gesetzbuches); für Vereinssatzungen, falls es sich um die Eintragung des Vereins handelt (§ 59); für Bürgschaftsübernahme (§ 766); für Schuldversprechen und Schuldanerkenntnis (§ 780, 781); für das eigenhändige Testament (§ 2231), wobei noch besonders die eigenhändige Niederschrift des Testaments sowie eigenhändige Angabe des Ortes und des Tages der Testamentserrichtung durch den Testator gefordert wird. Nach § 130 der Gewerbeordnung ist auch für den Lehrlingsvertrag Schrift form nötig, wenn auf Grund desselben die Zurückführung des entlaufenen Lehrlings verlangt wird. 2) Die gerichtliche oder notarielle Beurkundung, d. h. die Niederschrift der mündlich abgegebenen Willenserklärung durch einen Richter oder Notar in einem Protokoll. Dieses Protokoll muß in deutscher Sprache abgefaßt sein, Ort und Tag der Verhandlung, Namen der Beteiligten und Mitwirkenden enthalten, von den beteiligten Personen eigenhändig unterschrieben und genehmigt sein und ebenso die Unterschrift sämtlicher mitwirkenden Personen enthalten. Gefordert wird die gerichtliche oder notarielle Beurkundung für das Schenkungsversprechen (§ 518), für den Antrag auf Ehelichkeitserklärung (§ 1730), für die Einwilligung zur Annahme an Kindes Statt (§ 1748, Abs. 3), für die Anfechtung eines Erbvertrages durch den Erblasser (a 2282, Abs. 2), für den Ehevertrag (§ 1434), den Erbvertrag (§ 2276), für die Errichtung einer Handelsgesellschaft (§ 182 des Handelsgesetzbuches) u. a. 3) Die öffentliche Unterschriftsbeglaubigung, d. h. die Beglaubigung nicht der Erklärung selbst, sondern nur der Unterschrift (§ 129). Hierfür sind als Urkundspersonen teilweise Amtsgerichte und Notare (Preußen), teilweise nur Notare (Bayern), teilweise Amtsgerichte, Notare und Gerichtsschreiber (Sachsen), teilweise Amtsrichter, Bezirksnotare und öffentliche Notare, Ortsvorsteher und Ratsschreiber (Württemberg) zuständig. Die Unterschrift muß in Gegenwart der betreffenden Urkundsperson vollzogen und anerkannt werden (§ 183, Reichsgesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit). Diese öffentliche Unterschriftsbeglaubigung kann insonderheit verlangen der Schuldner, wenn er nach Zahlung der Schuld seinen Schuldschein nicht zurückerhält (§ 371), beim gesetzlichen Güterrechte die beiden Ehegatten (§ 1372), der Zessionar über Abtretung der Forderung (§ 403, 1154). Vorgeschrieben ist die öffentlich beglaubigte Urkunde vor allem für die Anmeldung zum Vereinsregister (§ 77), für Anfechtung der Ehe nach dem Tode des andern Ehegatten (§ 1342), für den Antrag auf Eintragung in das Güterrechtsregister (§ 1560). 4) Die Erklärung vor dem Grundbuchamt insonderheit für die Auslassung (s.d.). (§ 925 u. 1025.) 5) Die Erklärung vor dem Standesbeamten, eine nur für die Eheschließung zugelassene, für alle in Deutschland zu schließenden Ehen gleiche Formvorschrift (§ 1317). Dieselbe besteht darin, daß die Verlobten vor dem zuständigen Standesbeamten persönlich und bei gleichzeitiger Anwesenheit erklären, die Ehe miteinander eingehen zu wollen, und daß der Standesbeamte nach Erledigung der Vorfragen die Verlobten als nunmehr rechtmäßig verbundene Eheleute erklärt. Haben die Parteien für ein Rechtsgeschäft eine bestimmte F. vereinbart, so ist diese Vereinbarung gültig, jedoch genügen im Zweifel für alle Erklärungen die telegraphische Übermittelung und bei Verträgen Briefwechsel (§ 127). Die Nichtbeachtung der durch das Gesetz vorgeschriebenen F. hat die Nichtigkeit des betreffenden Rechtsgeschäftes zur Folge; bei Mangel der vereinbarten F. ist im Zweifel gleichfalls das betreffende Rechtsgeschäft nichtig. Haben die Parteien jedoch trotz Formvernachlässigung beiderseits erfüllt, so ist im Zweifel anzunehmen, daß sie auf Beobachtung der F. stillschweigend verzichtet haben. Vgl. Völderndorff, Die F. der Rechtsgeschäfte (Erlang. 1855); Lobe, Die F. der Rechtsgeschäfte nebst Verzeichnis der formbedürftigen Rechtsgeschäfte (Leipz. 1901).
In der Grammatik unterscheidet man zwischen innerer und äußerer F.: jene geht auf die Gestaltung des Sinnes, der Bedeutung, diese auf die des Lautlichen. – In der Mathematik heißt F. die äußere Gestalt eines der allgemeinen Größenlehre (Analysis) angehörigen Ausdrucks oder eines geometrischen Gebildes; Theorie der Formen, s. Invariantentheorie und Zahlentheorie. – In der Turfsprache der Grad der jeweiligen Leistungsfähigkeit eines Konkurrenten. Man spricht von »guter F.«, »schlechter F.«, »großer F.« eines Pferdes, auch eines Jockeis, eines Rennstalles etc. Das Pferd ist »außer F.« heißt soviel wie: das Pferd besitzt zurzeit nicht mehr die Leistungsfähigkeit, die es früher gezeigt hat.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.