Enantiotropīe

Enantiotropīe

Enantiotropīe (griech., »Gegenwendung«), die Fähigkeit der verschiedenen Formen eines dimorphen Körpers durch Temperaturveränderung sich vorwärts und rückwärts ineinander umzuwandeln, im Gegensatz zur Monotropie, wobei die Umwandlung nur in einem Sinne möglich, d.h. die eine Modifikation stets labil (metastabil), die andre stets stabil ist. Nachdem man zu Ende des 18. Jahrh. Stoffe kennen gelernt hatte, die bei gleicher chemischer Zusammensetzung verschiedene physikalische Eigenschaften zeigten (Isomerie, Allotropie), glaubte Mitscherlich (1821) erkannt zu haben, daß ein und derselbe Stoff lediglich durch verschiedenartige Aggregation der Moleküle verschiedenartige Kristallform annehmen und durch Änderung der Molekularaggregation infolge Erwärmung oder Abkühlung entsprechende Änderungen seiner physikalischen Eigenschaften erleiden könne (Polymorphismus). Beispielsweise geht rotes Quecksilberjodid beim Erhitzen in gelbes über und zwar unter Wärmeverbrauch, ähnlich wie er beim Schmelzen eines Körpers eintritt. Beim Abkühlen verwandelt sich das gelbe Jodid wieder in rotes unter Freiwerden der gleichen Wärmemenge. Die äußerste Temperatur, bis zu der eine Modifikation erhitzt oder abgekühlt werden kann, ohne sich umzuwandeln, bezeichnet man als Grenztemperatur. Die beiden Grenztemperaturen für eine Umwandlung hielt man für verschieden, entsprechend der Vorstellung, daß bei Umstellung der Moleküle ein gewisser Reibungszustand zu überwinden sei. Zahlreiche mikroskopische Beobachtungen von O. Lehmann ergaben indes, speziell bei den enantiotropen Stoffen, daß, wenn die beiden Modifikationen in Berührung sind, eine bestimmte Umwandlungstemperatur existiert, bei deren Über- oder Unterschreiten sofort Umwandlung im einen oder entgegengesetzten Sinn eintritt, wenn auch die Umwandlungsgeschwindigkeit bei geringer Überschreitung nur klein ist und (allerdings nur bis zu einem gewissen Maximum) mit steigender Überschreitung anwächst. Wie der Schmelzpunkt und Siedepunkt ist die Umwandlungstemperatur vom Druck abhängig, und es kann deshalb darauf, wie van't Hoff gezeigt hat, der zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie zur quantitativen Bestimmung der in Betracht kommenden Größen angewendet werden. Sie ist ferner abhängig von der Reinheit der Substanz und kann durch fremde Zusätze, welche Bildung von Mischkristallen bedingen, erhöht oder erniedrigt werden; die Umwandlungsgeschwindigkeit wird hierdurch aber stets vermindert, häufig so sehr, daß die Umwandlung überhaupt nicht mehr stattfindet. Die Umwandlung kann sich auch, und zwar bei derselben Temperatur, unter Vermittelung eines Lösungsmittels vollziehen, falls sich beide Modifikationen nebeneinander in gesättigter Lösung befinden, da über der Umwandlungstemperatur die eine, unterhalb derselben die andre Modifikation leichter löslich ist und deshalb von der schwerer löslichen stabilen Modifikation aufgezehrt wird. Charakteristisch für die enantiotropen Modifikationen ist, daß die Umwandlung auch bei völliger Abwesenheit eines Lösungsmittels, also im festen Zustand stattfinden kann. Bei chemisch isomeren Körpern, die zuweilen ebenfalls durch Temperaturänderungen ineinander übergeführt werden können, ist solche Umwandlung im festen Zustand bis jetzt nicht beobachtet worden. Letztere sind von den polymorphen Modifikationen vor allem auch dadurch verschieden, daß sie verschiedenes chemisches Verhalten, meist auch verschiedenes Molekulargewicht aufweisen; ferner dadurch, daß sie nachweisbar auch in Lösungen und Schmelzen existieren können sowie im Dampf- oder Gaszustand, so daß Schmelzpunkt, Löslichkeit, Dampftension oder Siedetemperatur einer Substanz durch Beimischung einer isomeren geändert werden können, was durch Zusatz einer polymorphen Modifikation nicht möglich ist. Ebensowenig können letztere nicht wie isomere Körper (z. B. in Schwefelkohlenstoff löslicher und unlöslicher Schwefel) unter sich Mischkristalle oder feste amorphe Gemische bilden. Auf Grund dieser Unterschiede nimmt die sogen. Raumgittertheorie an, daß die Moleküle polymorpher Stoffe identisch und nur in verschiedener Weise angeordnet sind. Völlig regellose Lagerung soll den von Fuchs (1833) als Amorphismus bezeichneten glasigen oder harzigen Zustand bedingen.

Sind zwei enantiotrope Modifikationen nicht in Berührung, so können sie oft weit über die Umwandlungstemperatur überhitzt oder überkühlt werden, ja es ist im erstern Falle, z. B. bei salpetersaurem Ammoniak, das vier feste enantiotrope Zustände besitzt, möglich, die Überhitzung oder Überkühlung so weit zu treiben, daß eine Modifikation vollständig übersprungen wird. Die Umwandlungserscheinungen gleichen in jeder Hinsicht den als »Schmelzen« und »Sieden« bezeichneten sogen. Aggregatzustandsänderungen, so daß man folgerichtig auch Schmelze und Dampf einer Substanz als enantiotrope Modifikationen bezeichnen muß. Beim Erhitzen des gewöhnlichen rhombischen Schwefels kann leicht die zwischen 95,4° und dem Schmelzpunkt 115° beständige monokline Modifikation übersprungen, also der rhombische Schwefel zum Schmelzen, d.h. zur Umwandlung in die flüssige Modifikation, gebracht werden. In solchen Fällen zeigt sich, daß stets die labile Modifikation den niedrigern Schmelzpunkt und entsprechend im Falle der Lösung die größere Löslichkeit besitzt. Durch Auflösung der labilen Modifikation entsteht eine Lösung, die bezüglich der stabilen übersättigt ist. Gleiches gilt für die monotropen Modifikationen. Durch Erhöhung des Druckes kann man zuweilen (z. B. bei salpetersaurem Ammoniak) eine derartige Verschiebung der Umwandlungstemperaturen bewirken, daß eine Modifikation überhaupt als stabile Modifikation existenzunfähig wird, indem die Grenzen des Temperaturbereichs, in dem sie beständig ist, sich entgegengesetzt verschieben und schließlich zusammenfallen. Dies gilt auch, wenn die eine Modifikation die Schmelze ist, d.h. unter starkem Druck kann sich eine enantiotrope Modifikation wie eine monotrope verhalten. Gleiche Wirkung kann auch durch fremde Zusätze, die Mischkristalle bilden, bewirkt werden. Wird eine Substanz mit monotropen Modifikationen nur wenig über den Schmelzpunkt erhitzt und langsam abgekühlt, so erstarrt sie in der stabilen Modifikation, bei starker Erhitzung und rascher Kühlung in der labilen.

Ein großer Teil der polymorphen Körper besitzt überhaupt nicht die Fähigkeit, sich umzuwandeln. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um Fälle chemischer Isomerie, die als solche bisher nicht erwiesen werden konnten. Ähnlich den enantiotropen Körpern gehen auch manche wasserhaltigen Verbindungen im festen Zustand in Verbindungen mit anderm Wassergehalt über, so daß auf Ähnlichkeit des Wesens beider zu schließen ist. Man hat die Kristallwasseraufnahme deuten wollen als Zwischenlagerung von Wassermolekülen zwischen die Moleküle der wasserfreien Substanz; dies kann indes nicht zutreffen, da die Eigenschaften solcher Mischkristalle, ganz abgesehen davon, daß, wenn Mischung eintritt, dieselbe nicht nur in einer bestimmten Proportion, wie die Bindung von Kristallwasser, sondern in völlig oder bis zu gewisser Grenze veränderlichen Verhältnissen stattfindet, die ungefähr Mittelwerte zwischen denjenigen der Komponenten darstellen, was bei wasserhaltigen Kristallen durchaus nicht der Fall ist. Man gelangt hierdurch zu dem Schluß, daß Verbindungen von verschiedenem Wassergehalt und demnach auch enantiotrope Modifikationen, entgegen der Mitscherlichen Auffassung, nicht durch die Art der Aggregation der Moleküle, sondern durch deren Beschaffenheit verschieden sind. Zu gleichem Ergebnis führt die Erfahrung, daß für die Ausscheidung verschiedener Modifikationen aus einem Schmelzfluß unter Umständen dessen vorherige Behandlung von wesentlichem Einfluß ist, vor allem aber die Existenz flüssiger Kristalle, deren Verhalten beweist, daß die Art der Aggregation der Moleküle eines Körpers nur ganz untergeordneten Einfluß auf deren Eigenschaften haben kann, insbes. Schmelzpunkt und Löslichkeit gar nicht beeinträchtigt, während doch diese für enantiotrope Modifikationen (sowie auch für monotrope und amorphe, welch letztere überhaupt keinen Sättigungspunkt und Schmelzpunkt besitzen) sehr verschieden ist. Hierdurch erscheint die oben erwähnte Raumgittertheorie widerlegt und diejenige Auffassung bestätigt, die Polymorphismus und Amorphismus als einen Fall von Isomerie betrachtet und zum Unterschied von der chemischen als physikalische Isomerie bezeichnet. Ebenso wie bei der Umwandlung wasserhaltiger Kristalle ist auch bei enantiotropen und monotropen Modifikationen die neu auftretende Form im allgemeinen regelmäßig orientiert gegen die früher vorhandene. Unter Umständen findet diese Parallelrichtung mit solcher Kraft statt, daß sich auch das ganze Äußere des Kristalls ändert, z. B. eine gerade Kristallnadel wie bei Protekatechusäure in eine schiefe oder mehrfach geknickte übergeht, oder sich gar in zwei oder mehr Teile spaltet. Vgl. O. Lehmann, Molekularphysik (Leipz. 1888 bis 1889, 2 Bde.); Roozeboom, Die heterogenen Gleichgewichte (Braunschw. 1901); Tammann, Kristallisieren und Schmelzen (Leipz. 1903); O. Lehmann, Flüssige Kristalle (das. 1903). – Über E. in der Philosophie s. Enantiodromie.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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