- Ziege [2]
Ziege (Capra L., hierzu Tafel »Ziegen«), Gattung der paarzehigen Huftiere aus der Unterordnung der Wiederkäuer und der Familie der Horntiere (Cavicornia), kräftig gebaute Tiere mit starken, nicht sehr hohen Beinen, gedrungenem Hals, verhältnismäßig kurzem Kopf, großen Augen, meist ohne Tränengruben und Klauendrüsen, mit ausgerichteten, schmal zugespitzten Ohren und bei beiden Geschlechtern mit abgerundet vierschneidigen oder zweischneidigen, vorn wulstig verdickten, an der Innenseite glatten Hörnern, die sich halbmondförmig nach hinten wenden oder sich dann leierartig an der Spitze ausbiegen. Die Schnauzenspitze besitzt einen sehr kleinen, nackten Fleck zwischen den Nasenlöchern; das Kinn trägt einen Bart, der Schwanz ist kurz und pflegt aufrecht getragen zu werden. Alle Ziegen entwickeln einen eigentümlichen, in der Brunstzeit besonders durchdringenden Geruch (Bocksgeruch). Sie waren ursprünglich auf Mittel- und Südasien, Europa und Nordafrika beschränkt und bewohnen durchweg das Gebirge. Sie leben gesellig, klettern und springen sehr geschickt und mutig, sind vorsichtig und scheu, kämpfen aber im Notfall und zeigen eine gewisse Rauflust. Die Ziegen nähren sich von saftigen Gebirgspflanzen, erhalten sich auch in einem armen Gebiet, bedürfen aber des Wassers und lecken begierig Salz. Man teilt die Gattung in zwei Untergattungen: Steinbock (Ibex Wagn.), mit vorn abgeplatteten Hörnern ohne Kiel (s. Steinbock und Tafel »Ziegen«, Fig. 1), und Z. (Hircus Wagn.), mit seitlich komprimierten Hörnern, vorn mit Kiel. – Die Bezoarziege (Paseng, wilde Z., C. Aegagrus L. Fig. 2), 1,5 m lang, mit 20 cm langem Schwanz, 95 cm hoch, ist hell rötlichgrau, an den Halsseiten und gegen den Bauch hin heller, an Brust und Unterhals dunkel schwarzbraun, an Bauch, Innen- und Hinterseite der Schenkel weiß; der Schwanz ist schwarz. Über den Rücken verläuft ein dunkel schwarzbrauner Streifen, und ein gleichfarbiger Streifen scheidet die Oberseite von der Unterseite. Sie bewohnt die Gebirge Kleinasiens und Persiens, mehrere Inseln des Mittelländischen Meeres, vielleicht auch die Gebirge Griechenlands, und lebt in Herden von 40–50 Stück, die sich im Herbst bei Beginn der Paarungszeit in kleinere Rudel auflösen. Noch vor Beginn des Frühlings wirft die Z. 2–3 Junge. In ihrem Wesen gleicht die Bezoarziege vielfach dem Steinbock. Man jagt sie des Fleisches, des Felles und Gehörns, bisweilen auch der Bezoarkugeln halber, die man in ihrem Magen findet und arzneilich benutzt. Sie ist wohl dasselbe Tier, dessen Homer bei Beschreibung der Kyklopeninsel gedenkt. Die Schraubenziege (Markhor, C. Falconeri Wagn., Fig. 3), 1,4 m lang, mit 18 cm langem Schwanz, 80 cm hoch, mit 1 m langen Hörnern, die sich mehr oder weniger gerade nach oben und hinten richten und sich schraubenförmig um sich selbst winden. Das Haar ist auf dem Ober- und Vorderhals, an der Brust, den Schultern und längs des Rückens bis zum Kreuz mähnenartig verlängert und fällt bei alten Böcken bis auf die Fußwurzelgelenke herab. Die Farbe ist hell graubraun, auf dem Oberkopf und nach den Beinen zu dunkler; Bart und Schwanz sind dunkelbraun, die Innenseite der Beine und der Bauch fast weißgrau. Sie bewohnt die höchsten Teile des tibetischen Himalaja, findet sich auch auf dem Hindukusch, in Kaschmir und Afghanistan und führt im allgemeinen dieselbe Lebensweise wie die vorige.
Die Hausziege (C. Hircus L.), deren Abstammung von einer wild lebenden Art nicht nachgewiesen ist, kommt in äußerst zahlreichen Varietäten: gehörnt und ungehörnt, mit kurzen und langen hängenden Ohren, mit glattem und welligem Haar, vor und ist überallhin verbreitet (s. die Karte »Verbreitung der wichtigsten Haussäugetiere« beim Artikel »Haustiere«). Die verschiedenen Varietäten lassen sich untereinander kreuzen und liefern fruchtbare Bastarde. Man unterscheidet: die Angoraziege (Kamelziege, C. Hircus angorensis, Fig. 4), ein schönes, großes Tier mit kurzem Hals und Kopf, eigentümlich gewundenem, starkem Gehörn und überaus reichem, dichtem, langem, seinem, weichem, seidenartigem, lockig gekräuseltem, weißem Wollhaar, das die spärlich vorhandenen Grannen fast überwuchert. Sie war den Alten nicht bekannt und wurde von Angora in Kleinasien weiter verbreitet, auch in Europa und Nordamerika eingeführt, entartet aber in den meisten fremden Ländern, nur in Südafrika und Kalifornien hält sie sich durch viele Generationen. Sie liefert die Angorawolle. Vgl. Thompson, Die Angoraziege (deutsch, Berl. 1902). Die Kaschmirziege (C. Hircus laniger) ist 1,5 m lang, an den Schultern 60 cm hoch, mit langen, schraubenförmig gedrehten Hörnern und langem, straffem, seinem und schlichtem Grannenhaar, das die kurze, außerordentlich seine, weiche, flaumartige Wolle überdeckt. Die Farbe ist weiß oder schwach gelblich, auch hell- oder dunkelbraun und schwarz. Die Kaschmirziege findet sich von Groß- und Kleintibet über die Bucharei bis zum Lande der Kirgisen und ist in Bengalen eingeführt worden. Sie liefert das Material zu den Kaschmirschals. Die Akklimatisation dieser Z. in Frankreich ist seit 1819 gelungen, auch hat man durch Kreuzung mit der Angoraziege eine ergiebige Mittelrasse erzielt. In Österreich und Württemberg hat sich die Nachzucht nicht erhalten. Von geringem Interesse sind die Mamberziege (C. Hircus mambricus) in Kleinasien und Ägypten und die buckelnasige oder thebaische Z. (C. Hircus thebaicus) in Oberägypten, die schon auf den ältern ägyptischen Denkmälern vorkommen.
Die Hausziege findet sich gegenwärtig fast bei allen Völkern; sie ist hauptsächlich für das Gebirge geeignet, und ihre Zucht gibt noch unter Umständen Erträge, wo die des Schafes unmöglich ist. Die Z. ist fruchtbarer, gibt mehr Milch und ist genügsamer als das Schaf; dagegen ist sie weniger mastfähig und gibt geringeres Fleisch. Ihre Naschhaftigkeit und Launenhaftigkeit erschweren die Zucht; an geeigneter Stelle aber ist sie billig zu erhalten, versorgt das Haus mit Milch und liefert Dünger für ein kleines Stück Land. Daher wird die Z. von kleinern Leuten gehalten (»Kuh des armen Mannes«), während sie in intensiv bewirtschafteten Gegenden und bei größerm Wohlstand verschwindet. Das männliche Tier heißt Bock, das weibliche Geiß oder Z., das Junge Zicklein, Kitzlein, Gitzi. Den Bock liebt man groß, kurzhalsig, mit dickem Kopf, niederhängenden Ohren, dicken Schenkeln, starken Beinen, langem, starkem Bart, dichter, aber sanfter Wolle ein Bock reicht im Alter von 2–8 Jahren für 100 Ziegen hin. Die Geiß soll ziemlich hoch, breit im Kreuz und in der Lende, dick im Schenkel und mehr zierlich gebaut sein, seine, zarte, kurze Haare und ein großes Enter mit langen Zitzen haben. Die Paarungszeit dauert von Ende August bis November; die Geiß ist 24 Stunden brünstig und 11 Tage nach der Geburt des Jungen wieder; sie geht 21–22 Wochen trächtig und lammt (wirft, hickelt, zickelt) im Februar, März oder April 1–2, nicht selten auch 3 oder selbst 4 Junge. Man verwendet sie bis zum 9. oder 10. Jahr zur Zucht. Vor dem Lammen wird sie mit gutem Heu und nur mit überschlagenem Wasser ernährt. Das Kitzlein läßt man, wenn es zur Zucht bestimmt ist, 6 Wochen, sonst nur 3 Wochen saugen, gibt aber schon nach 14 Tagen Heu und zarte Blätter. Es folgt nach 5 Tagen der Alten überall hin, ist nach 1/2 Jahr zur Fortpflanzung geeignet und nach einem Jahr erwachsen. Die Z. liebt als Futter vor allem trockene, gute Kräuter, weniger geil gewachsenes Futter, Laub, Zweige, Wald- und sonstiges Gras und Klee und lernt im Stall Stroh, Rüben, Kartoffeln, Schwarzmehl, Kleie, Ölkuchen, Spülicht, alle Arten Garten- und Küchenabfälle u. dgl. fressen. Im Futter sehr wählerisch, richtet sie bei freiem Umherlaufen an Bäumen, in Gärten und auf Feldern großen Schaden an und verdirbt bei Stallhaltung viel Futter durch Herauswerfen, weshalb man öfters, aber in kleinern Portionen, füttern muß. Salz rechnet man auf ein erwachsenes Tier 3 kg im Jahr. Gewisse giftige Pflanzen, wie Bilsenkraut, Zeitlose, Schierling, Wolfsmilch, Hundspetersilie u. dgl., kann die Z. selbst in ziemlichen Quantitäten vertragen. Die Z. ist manchen Krankheiten ausgesetzt, als: Unverdaulichkeit, Trommelsucht, Drehkrankheit, Euterverhärtung, Klauenübel, Knochengeschwülsten (namentlich an den Kopfknochen), Lungenschwindsucht etc. Auch schwere Geburten kommen häufiger vor als bei Schafen, und die fieberhaften Krankheiten sind immer lebensgefährlich. Die Milch der Z. ist sehr reich an Butter, resp. Fett und Käsestoff, auch an Zucker, bei reinlicher Haltung, guter, gesunder Stallung und richtiger Fütterung ohne Beigeschmack, sonst aber widerlich scharf und von unangenehmem Geruch. Sie liefert den vielfach sehr beliebten »Ziegenkäse«, die gesottene Milch und der Rahm in Italien süße »Ricotta« (Käse). Das Fleisch der jungen Tiere ist fast etwas zu zart, das älterer Ziegen nicht schlecht. Über Benutzung des Felles s. Ziegenfelle, des Haares s. Ziegenhaar. Die Hörner dienen zu Drechslerarbeiten. Vgl. Anderegg, Die Schweizer Ziegen (Bern 1887); Julmy, Die Ziegenrassen der Schweiz (Aarau 1896); Wilsdorf, Die Schweizer Saanenziege (2. Aufl., Berl. 1907); über Ziegenzucht die Schriften von L. Hoffmann (Stuttgart 1898), Klöpfer (6. Aufl., Essen 1902), Renesse (Münster 1901), Zürn (2. Aufl., Leipz. 1906), Dettweiler (Berl. 1902), Hilpert (4. Aufl., das. 1901), Lang (Leipz. 1901), Bödeker (Hannov. 1907); Heine, Praktische Ziegenzucht (Neudamm 1907); Crepin, La chèvre, son histoire, son élevage pratique (Par. 1906); »Zeitschrift für Ziegenzucht« (Organ der Ziegenzuchtvereine, Hannover).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.