Széchenyi

Széchenyi

Széchenyi (Szécsényi, beides spr. ßētschēnji), ein ungar. Adelsgeschlecht, das seit dem Schluß des 16. Jahrh. emporkommt und vom 17. Jahrh. ab bedeutende Kirchenfürsten und Staatsmänner aufweist:

1) Georg, geb. 1592, gest. 1695 in Tyrnau, wurde 1632 Domherr von Gran, 1644 Bischof von Fünfkirchen, 1648 von Veszprim, 1658–68 von Raab, 1668–85 Erzbischof von Kalocsa, zugleich Administrator des Raaber Bistums, 1685–95 Graner Primas; ein »Wunder der Freigebigkeit« genannt.

2) Paul, Pauliner Eremit, geb. 1642, gest. 1710, bekleidete die Ordensprofessur der Theologie und Philosophie, wurde Prior und Generaldefinitor des Ordens, 1676 Bischof von Fünfkirchen und kaiserlicher Rat, Abt von St. Gotthard und Propst von Raab, 1687 Bischof von Veszprim und 1696 Erzbischof von Kalocsa, forderte Leopold I. offen zur Einhaltung der Verfassung auf und verhandelte nach 1703 in dessen Auftrag wiederholt mit Franz Rákóczi II. in Angelegenheit des Friedens.

3) Stephan, Graf von, ungar. Staatsmann, »der größte Ungar«, geb. 21. Sept. 1792 in Wien, gest. 8. April 1860 in Döbling bei Wien, Sohn des durch Stiftung des ungarischen Nationalmuseums bekannten Grafen Franz von S. (gest. 20. Dez. 1820), diente zuerst (1809) beim adligen Insurrektionsheer gegen die Franzosen und nahm an der Schlacht bei Raab Anteil, machte dann in der regulären Armee die wichtigsten Feldzüge des europäischen Völkerkriegs mit, zeichnete sich als Ordonnanzoffizier insbes. 1813 bei Leipzig aus, indem er am Vorabend der Völkerschlacht den Befehl Schwarzenbergs rechtzeitig Blücher und Bernadotte überbrachte, schied aber 1826 aus dem Militärdienst, um sich unter dem Eindruck einer englischen Studienreise der Förderung der daniederliegenden geistigen und industriellen Interessen seines Vaterlandes zu widmen und die Nation aus ihrer Lethargie aufzurütteln. Verdienste erwarb er sich namentlich durch seine Gabe (60,000 Gulden) zur Errichtung einer ungarischen Akademie, durch seine Bemühungen (1832) zur Errichtung eines ungarischen Nationaltheaters und Konservatoriums der Musik und zur Erbauung einer festen Donaubrücke zwischen Pest und Ofen sowie 1834 als Kommissar für die oberste Leitung der Regulierungsarbeiten am Eisernen Tor und der Regulierung des Theißbettes. Auf dem Gebiete der politischen Reformen geriet er aber nicht nur mit den Konservativen (Dessewffy) und der Regierung (Metternich), sondern insbes. mit Ludw. Kossuth in Zwiespalt und hatte viel mit Spott und Argwohn zu kämpfen. Trotzdem verlor er nicht den Mut (»Ungarn war nicht, es wird aber sein«). Im ersten verantwortlichen Ministerium (März 1848) nahm er neben Kossuth das Portefeuille für Kommunikation und öffentliche Arbeiten an. Die patriotischen Besorgnisse seiner überaus sensitiven Natur hatten aber nach dem Bruche mit Österreich und dem Beginn des Freiheitskampfes für S. eine von seinen Freunden längst befürchtete Geisteskrankheit zur Folge, worauf er im Oktober 1848 in eine Irrenanstalt nach Döbling gebracht wurde, wo er auch nach seiner scheinbaren Genesung verblieb. Als die Polizei in ihm den Verfasser der in London 1859 anonym erschienenen Broschüre »Ein Blick auf den anonymen Rückblick« vermutete, die den von Bach inspirierten »Rückblick« und das Bachsche Regiment scharf verurteilte, geriet er in io hohe Aufregung, daß er sich erschoß. Die Trauer um »den größten Ungarn«, welchen Ehrentitel ihm sein größter politischer Gegner Kossuth verliehen hatte, war allgemein. 1880 wurde ihm in Pest und 1897 in Ödenburg ein Denkmal errichtet. Von seinen Schriften sind noch hervorzuheben: »Hitel« (»Über den Kredit«, deutsch, Pest 1830), »Világ« (»Licht, oder aufhellende Bruchstücke und Berichtigung einiger Irrtümer und Vorurteile«; deutsch, das. 1832) und »Stadium«, 1. Teil (Leipz. 1833), das drittbedeutendste, den Reformplan enthaltend, die ihm den Beinamen »Vater der Reform« erwarben; ferner »A Kelet népe« (»Das Volk des Ostens«, Pest 1841); »Politikai programmtöredékek« (»Politische Programmfragmente«, das. 1846) und »Hunnia« (1858). Erst in jüngster Zeit begann die Ungarische Akademie, durch Herausgabe einer würdigen Ausgabe seiner Werke ihre Dankesschuld abzutragen. Zuerst erschienen »Széchényis Tagebücher«, herausgegeben von Anton Zichy (Budap. 1884), dann seine Briefe (1889), hierauf »Hitel« und »Világ« (1904–05). Vgl. M. Lónyai, Graf Stephan S. und seine hinterlassenen Schriften (deutsch von A. Dux, Budap. 1875); Aur. Kecskeméty, Graf Stephan Széchenyis staatsmännische Laufbahn (Pest 1866); M. Falk, Sz István. (magyar. 1867); Ant. Zichy, Biographie des Grafen Stephan S. (magyar. 1895–97, 2 Bde.); L. Kovách, Die letzten Lebensjahre Széchenyis (magyar. 1888, 2 Bde.); Eug. Gaál, Die nationalökonomischen Bestrebungen Széchenyis (magyar. 1902–03, 2 Bde.). – Sein Neffe Graf Emerich, geb. 15. Febr. 1825, gest. 11. März 1898 in Budapest, war eine Zeitlang ungarischer Reichstagsabgeordneter und vom Dezember 1878 bis Oktober 1892 österreichischer Botschafter in Berlin, ein andrer Neffe, Graf Paul, geb. 1838, gest. 28. Okt. 1901 in Budapest, war von 1882–89 ungar. Handels- und Ackerbauminister.

4) Béla, Graf von, Asienreisender, Sohn des vorigen, geb. 3. Febr. 1837 in Budapest, studierte in Berlin und Bonn Staatswissenschaft, war 1861 Mitglied des ungarischen Landtags, bereiste 1863 Nordamerika, 1865 Algerien und unternahm 1877–80, begleitet vom Obersten Kreitner (s. d.) und dem Geologen L. v. Lóczy, eine Reise nach Asien, auf der er nach längerm Aufenthalt in Indien, Java und Japan von Schanghai aus über Sutschou bis Tunhwang-hsiën vordrang und über Batang nach Bhamo in Hinterindien zurückkehrte. S. veröffentlichte: »Amerikai útam« (»Meine amerikanische Reise«, Pest 1865) und mit Kreitner und Lóczy: »Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Reise des Grafen Béla S. in Ostasien 1877–1880« (nach dem 1890erschienenen ungarischen Original, Wien 1893, nebst Atlas). Vgl. auch Kreitner, Im fernen Osten (Wien 1881).

5) Andor, Graf von, Enkel von S. 3), Reisender, geb. 1. Aug. 1865 in Budapest, unternahm 1888–90 eine Forschungsreise nach den Südseeinseln, ging 1891 nach dem Somalland Afrikas und 1892–93 durch Rußland, Persien und Belutschistan nach Indien und China. Seine Reiseberichte veröffentlichte er in den Schriften der Wiener Geographischen Gesellschaft.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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