Eisenbahnhygiene

Eisenbahnhygiene

Eisenbahnhygiene ist der Inbegriff der hygienischen Maßregeln zu gunsten der Eisenbahnbeamten (Arbeiter) und der Reisenden. Der größten Fürsorge bedürfen, wie die Statistik beweist, die den Zug begleitenden Leute: Lokomotivführer und Heizer, Zugführer, Schaffner und Bremser. Unter ihren Leiden spielen Rheumatismus und die Krankheiten der Verdauungs- und Atmungsorgane eine bedeutende Rolle. Sie werden durch den Dienst gezwungen, von der Familie vielfach getrennt zu leben und müssen die hieraus sich ergebenden Unregelmäßigkeiten während des ganzen Jahres ertragen, ihre Mahlzeiten liegen meist unregelmäßig, ihre Dienstzeit fällt oft ganz oder doch teilweise in die Nacht, auch sind sie den Unbilden der Witterung am meisten ausgesetzt. Alle Eisenbahnverwaltungen stellen diesen Beamten Schutzkleidung (Pelze, Filzstiefel), auch hält man für die Fahr- und Lokomotivbeamten auf den Stationen, wo sie abgelöst werden und bis zur Rückfahrt längern Aufenthalt nehmen müssen, Unterkunftsräume bereit, d.h. Zimmer (Säle sind wegen der Störungen nicht zu empfehlen), die Gelegenheit zum Ruhen bieten, sowie Kochherde, um Essen zu kochen oder wenigstens mitgebrachtes Essen anzuwärmen, Bäder und Bücher, um die Leute von dem Besuch von Schenkwirtschaften abzulenken. Für die Beamten, die längere Zeit Aufenthalt nehmen müssen, sind Betten vorhanden. Die Bettüberzüge werden dem Beamten geliefert, der verpflichtet ist, dieselben mit sich zu führen. Solche Fürsorge für die Beamten liegt im eigensten Interesse der Verwaltung. Sollen Unfälle möglichst hintangehalten werden, so müssen die Züge von streng nüchternen Leuten begleitet werden, die auch nicht unter dem Druck einer durchschwärmten Nacht stehen. Trifft man die Einrichtung, daß das Personal der Züge warme Speisen und Getränke in den Bahnhofswirtschaften zu ermäßigten Preisen erhält, so entfällt der Vorteil, die Leute aus den Wirtschaften fern zu halten. Den Aufenthalt im Übernachtungsraum wird der Beamte nicht gleich achten können mit der in der eignen Wohnung bei der Fa milie verbrachten Zeit; der Aufenthalt am fremden Ort ist deshalb tunlich zu beschränken, ohne die Forderungen des Personen- und des Güterverkehrs zu schädigen. Diese Forderungen und die Rücksicht auf das Wohl der Beamten liefern die Grundlage für die Ausstellung des Fahrturnus. Dieser wird beeinflußt durch Wünsche der Beamten auf Vermehrung der Fahrten (Verlängerung der Dienstzeit), denn neben dem Gehalt (Lohn) werden meist Fahrtengelder gewährt. Wünsche auf Verminderung der Fahrten werden selten laut. Sonntagsruhe kann den Beamten der Personenzüge aus naheliegenden Gründen nicht gewährt werden, aber auch bei dem Güterdienst entstanden Schwierigkeiten, denn am Sonnabend oder in der folgenden Nacht mußten die Mannschaften, die an den Wochentagen auf der fremden Station zu den Übernachtungsräumen gingen, ohne Dienst zum Wohnorte zurückkehren. Da die Wege ohne Dienst teilweise sehr groß wurden, mußte man vielfach Fahrpersonal nach kleinen Stationen versetzen, das bis dahin fast ausschließlich an den Eisenbahnknotenpunkten wohnte. Nüchternheit muß für alle Eisenbahnbeamten, insbes. auch für die Stations- und Bahnbewachungsbeamten, gefordert werden, wenn ihnen gleich für ihre Gesundheit nicht dieselben Gefahren wie der erstbesprochenen Klasse drohen Sie haben festen Wohnsitz und können deshalb den Bedürfnissen regelmäßiger Ernährung leichter genügen; die Anstrengungen des Nachtdienstes treffen sie indes in gleichem Maß, und der Nachtdienst verleitet zu Unregelmäßigkeiten im Essen und Trinken. – Die Beamten beider Klassen müssen in genügender Entfernung die Signale sehen und bei Dunkelheit deren Farben eikennen können, sie dürfen nicht farbenblind sein, im Laufe der Zeit muß die Untersuchung der Augen auf Sehweite und Farbenunterscheidung wiederholt werden, da beide Befähigungen dem Wechsel unterworfen sind. Lokomotivführer und Heizer pflegen im Alter von 46–50 Jahren pensioniert zu werden. Zugführer, Schaffner etc. 51–55 Jahre alt, Stationsbeamte 56 bis 60 Jahre alt etc. Bei der frühzeitigen Invalidität der Lokomotivführer (Heizer) sollen die von der Lokomotive ausgehenden Erschütterungen wesentlich mitwirken. Reichliche Urlaubserteilung wird den Rückgang der Körperkräfte am meisten aufhalten: alle 10 Tage eine 24stündige Ruhepause, jährlich ein mindestens 14tägiger Urlaub (mit den Jahren sich mehrend). Tuberkulosegefahr droht den Eisenbahnbediensteten ebenfalls in bedeutendem Maße; die Ansteckung wird man mehren, wenn man, wie dies leider vielfach Sitte ist, Signalpfeifen, Hörner etc. bei der Ablösung von dem einen Beamten auf den andern übergehen läßt.

Die bessern Abteilwagen bieten auf den preußischen Staatsbahnen für jeden Sitzplatz 1. Klasse 1,90 cbm Luftraum, 2. Klasse 1,28 cbm, 3. Klasse 0,84 cbm; die Durchgangswagen geben günstigere Zahlen: 1. Klasse 2,24, 2. Klasse 1,50, 3. Klasse 1,00. Die Sitzbreiten sind bei beiden Wagenarten fast gleich, nämlich 1. Klasse 0,80 m, 2. Klasse 0,60 m, 3. Klasse 0,50 m. Die verhältnismäßig geringen Maße für den Luftraum weisen darauf hin, daß eine gute Lüftung zu erstreben ist; die Mittel dazu sind aber bisher nicht gefunden. Die Fenster zu benutzen, verbietet meist die Außentemperatur; die Öffnungen der Oberlichtaufbauten wird der Reisende häufiger benutzen, sie bringen aber in der Regel noch mehr Staub, Asche und Ruß in den Wagen als die Seitenfenster. – Die Heizungsfrage bietet bisher noch mehr Schwierigkeiten als die Lüftung. Um möglichst gute Ergebnisse zu erzielen, wird es sich empfehlen, bei 15° im Wagen die Heizung abzustellen, denn es wird schwer zu erreichen sein, hohe Temperaturen herabzustimmen. Die Beleuchtung der Eisenbahnwagen, die früher bei Verwendung von Kerzen, Öl- und Petroleumlampen den Ansprüchen wenig genügte, hat etwa seit 1875 durch die Einführung des Fettgases sich bedeutend gehoben. Seit 1897 tritt das Acetylengas mit dem Fettgas in Konkurrenz; meist werden beide Gasarten gemischt. In Zügen mit bester Ausstattung ist auch elektrische Beleuchtung in Ausführung gekommen. Die letztgenannten Beleuchtungsarten gestatten das Lesen in den Wagen; die Reisenden werden aber wohl meist zu dem Urteil kommen, daß es sich empfiehlt, das Lesen nicht zu weit auszudehnen, denn die Vibrationen der Wagen pflegen einen wenig guten Einfluß auf Augen und Gehirn auszuüben. Die Bestrebungen der Techniker gehen dahin, diese Erschütterungen abzuschwächen; dazu dient ein möglichst weiter Radstand und gute Federung des Wagens, daneben eine gute Unterhaltung des Oberbaues. – Für die Hygiene ist insbes. die Wagenreinigung zu betonen; sie ist in der 3. und 4. Klasse leicht auszuführen, denn Fußböden, Wände und Decken gestatten die Anwendung von Seife, auch wenn nötig von Desinfektionsmitteln; nur die Fußdecken bieten einige Schwierigkeiten. Bei der 1. und 2. Klasse dagegen sind solche Schwierigkeiten überall vorhanden, insbes. bei den Bezügen der Polster und bei den Federböden. Komprimierte Luft, durch Schläuche in die Wagen geleitet, fördert große Mengen von Staub, der sich zu langen Fäden und Knäueln zusammenschließt aus Winkeln, Falten und Böden heraus. Dem Arbeiter steht bei der vorbeschriebenen Wagenreinigung, der die Arbeit mit Besen und Handfeger vorausgehen muß, ein Schutzhelm, daneben auch Schutzkleidung zur Verfügung. Die Fußteppiche werden zur Reinigung (Desinfektion) aus den Wagen herausgenommen, mit Wasserdampf desinfiziert und auf einer Klopfmaschine mechanisch behandelt. Der Reinigung der in den Wagen befindlichen Aborte muß selbstverständlich besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Dies gilt aber ebenso von den Aborten der Bahnhöfe, deren Lage zu den haltenden Zügen oft zu bemängeln ist. Es müßte als oberster Grundsatz gelten, daß Abort und Trinkwasser vom Zug in kürzester Zeit zu erreichen sein sollen. Trinkwasser müßte im Sommer auch an den Zügen ausgeboten werden; ein geringes Entgelt wird der Reisende gern zahlen.

Ansteckende Krankheiten und Epidemien können durch die Eisenbahn leicht übertragen werden; oft ist festgestellt, daß Personen mit beginnendem Typhus, daß ein Scharlach-Rekonvaleszent Fahrgäste waren, ebenso Pockenkranke und Cholerakranke. Für Cholerafälle haben die preußischen Bahnen besondere Maßnahmen veröffentlicht auf Grund von internationalen Besprechungen, die in Dresden 1893 statthatten. Als Maßnahmen gegen die Tuberkulose kommt Ausstellung von geeigneten Spucknäpfen in Bahnhöfen und Wagen in Betracht, daneben häufige Reinigung der Fußdecken und Waschen der Wagenböden. – Gegen die Übertragung von Viehseuchen (Milzbrand, Maul- und Klauenseuche und die verschiedenen Schweinekrankheiten) sind Vorschriften erlassen. Für Deutschland gilt das Reichsgesetz vom 25. Febr. 1876. Vgl. Braemer, Eisenbahnhygiene (in Weyls »Handbuch der Hygiene«, Bd. 6, Jena 1896).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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