- Nil [2]
Nil, mit 6397 km (vom Viktoriasee ab 5589 km) der zweitlängste Strom der Erde nächst Mississippi-Missouri, der bedeutendste Strom Afrikas (s. Karte »Ägypten«) nach Länge und geschichtlicher Bedeutung, hat, an Wasserfülle dem Kongo und Niger nachstehend, nach den neuesten Berechnungen von Lyons (»Geographical Journal«, 1905) ein Stromgebiet von 2,867,600 qkm, entspringt nördlich des Tanganjikasees als Kagera (s. d.) oder Alexandra- Nil, der in den Victoria Nyanza (1129 m) an dessen Westufer unter 0°55´ südl. Br. mündet (s. Karte »Äquatorialafrika«). Am Nordrande des Victoria Nyanza fließt der Kivira (Victoria oder Somerset-Nil) ab, der hinter den Riponfällen (5 m hoch) den See Gita Nzige und den großen Sumpf Kioga (Kodscha) bildet und in zahlreichen Fällen (Murchisonfälle, 44 m) mit einem Gefäll von 695 m auf 150 km nach Norden, dann in scharfer Biegung bei Fauvera westwärts fließt und bei Masungo den Albertsee (680 m) am Nordostende betritt, der durch den Semliki den Abfluß des südlichern Albert Edward-Sees (965 m) empfängt. Den Albertsee verlassend als Bahr el Dschebel (»Fluß der Berge«, 190,700 qkm Stromgebiet), fließt er, 0,5 bis 2 km breit, 5–12 m tief, ruhig dahin, so daß größere Fahrzeuge hier verkehren können. Bei Dufilé-Nimule (31/2° nördl. Br.) hindern Katarakte die Schifffahrt, die erst hinter Gondokoro, der seit 1901 wieder aufblühenden Grenzstation gegen Uganda (465 m ü. M.), frei wird, wohin Dampfer von Chartum gelangen können. Hinter Redschaf, vorbei an dem ebenfalls belgischen Ladó, durchfließt der Strom eine fieberige, zur Regenzeit von unzähligen Flußbetten durchzogene Sumpflandschaft (Ambatschstrauch, Papyrus etc.), den berüchtigten »Sedd«, teilt sich unter 71/2° nördl. Br. in zwei Hauptadern, von denen der Bahr el Seraf (östlich) einen direktern Weg nach Norden einschlägt und dabei unter 91/2° nördl. Br. in langer westöstlicher Senke alle südlichen Flußadern aufnimmt. Nördlich vom 7.° oberhalb Kanisseh (ehemalige Missionsstation Heiligenkreuz) beginnt auf der linken Seite ein weites Sumpfgebiet mit zahlreichen Wasserströmen in den N. zu treten. Hier am No-See wurden die von Nero ausgesandten Forschungsreisenden durch die kolossalen Ansammlungen von schwimmenden Grasmassen (bis 7 m dick und 2 km lang) aufgehalten, welche die Flußläufe auch heute noch oft verstopfen und sie in ein andres Bett zwingen.
In jener Senke strömt zum Bahr el Dschebel von W. der Bahr el Gazal (Gazellenstrom) mit einem Stromgebiet von 552,100 qkm, eine Fortsetzung des aus zahllosen Flußläufen in Dar Für und Dar Fertit entstandenen Bahr el Arab. Zuflüsse von Norden fehlen ganz oder gehören zur Klasse der periodisch fließenden Wadis; von der Wasserscheide zwischen N. und Kongo dagegen sind sie sehr zahlreich. Die bedeutendsten sind Rol (zum Bahr el Gazal), Dschau (mit dem Tondj zum Apabu vereinigt), Dschur (der wasserreichste, mit dem Wau), Dembo (im Oberlauf Pango genannt), Kuru, Sabu u.a.; dem Bahr el Arab geht von S. her der Bahr el Fertit zu. Nach Vereinigung des Bahr el Gazal und Bahr el Dschebel fließt der Fluß östlich bis zum Sobat (244,900 qkm Stromgebiet), der oft große Stauungen verursacht (5° nördl. Br.), dann in scharfem Knie nach Norden als Bahr el Abiad (Weißer N., 353,500 qkm Stromgebiet). Vom Sobat bis Chartum fließen dem N. nur die periodisch gefüllten Rinnsale mehrerer »Chor« zu, nachdem er bei Goz Abu Goma die Seddregion verlassen und El Düem passiert hat. Bis Chartum (15°36´ nördl. Br., 388 m ü. M.) beträgt das Gefälle vom Albertsee ab 312 m. Hier mündet rechtwinklig rechts der 1350 km lange Bahr el Asrak (Blauer Fluß, 331,500 qkm Stromgebiet), bei Hochwasser mit 6014, bei Niedrigwasser 159 m in der Sekunde Wassermenge (Bahr el Abiad 5005, bez. 297 m). Der Bahr el Abiad ist doppelt so breit wie der Bahr el Asrak, ihre Wasser fließen auf 15 km unvermischt nebeneinander, dieser unterhält den Wasserlauf bis zum Meer, jener bringt die befruchtende Überschwemmung (Schwellzeit Juni bis September). Der Bahr el Asrak entspringt als Abai in Abessinien unter 10°15´ nördl. Br., 2800 m ü. M., durchfließt den Tanasee (1760 m), verläßt ihn 200 m breit, 3 m tief an der Südseite, tritt nach zahlreichen Fällen und Stromschnellen (bis Rosaires) in gewundenem Lauf aus dem Gebirge und unterhalb Fazogl in die Steppenflächen von Senaar, die er nordwestlich bis Chartum durchströmt. Rechts gehen ihm Beschilo, Dschamma, Jabus und Tumat zu, links Dinder und Rahad (lang, aber wasserarm). Der Fall des Stromes vom Tanasee (1755 m) bis Chartum beträgt 1370 m. Unterhalb Chartum, unter 18° nördl. Br., nimmt der N. bis zu seiner Mündung (3000 km) bei Berber von rechts seinen letzten Zufluß, den Atbara (s. d., 220,700 qkm Stromgebiet), auf; dann beginnt der Durchbruch durch die durchschnittlich 330 m hohe Wüstentafel. Der Fluß wird nun gemäß dem Vordringen durch die einzelnen Höhenzüge von W. oder O. zum Ausweichen genötigt, wodurch er in S-förmiger Krümmung die Bajudasteppe umschließt. Die Nilschwellung beginnt bei Gondokoro im Februar, in Chartum Ende März, in Dongola Ende Mai. Von Chartum bis Wadi Halfa passiert der N., 250 m fallend, sechs Katarakte (Stromschnellen und Strudel, keine Wasserfälle), die bei Hochwasser für kleinere Fahrzeuge fahrbar sind. Der sechste liegt zwischen Chartum und Schendi bei Wadi Bischara, der fünfte unterhalb Berber (die Insel Mogrāt umfließend), der vierte zwischen Es Sālamat und Meraui (lange Reihe von Schnellen, 74 km lang), der dritte hinter der Insel Argo, bei Hannik unterhalb Neu-Dongola, der zweite (große) in dem Felsental Batn el Hadschar oberhalb Wadi Halfa, 15 km lang. Unter 24° beginnt der erste Katarakt mit drei Inseln, deren kleinste Philä ist, und endigt bei Assuân (104 m ü. M.), die Insel Elephantine einschließend. Oberhalb der Atbaramündung hat der N. eine Breite von 320, unterhalb des fünften Katarakts von 460, an den Katarakten selbst von 80–150 m. Bei Esneh aus dem Kreidesandstein in das eocäne Land tretend, verbreitert er sich bis Kairo von 550 auf 2200 m. Die größte Tiefe beträgt bei Trockenzeit 5, die geringste an den Stromschnellen 1 m, zur Hochsommerzeit bei Esneh 14, bei Kairo 10–12 m. Die westlichen Ufer sind 60–100 m hoch, die Talbreite steigt von Abu Hammed bis Kairo von 0,6–50 km. namentlich von Edfu an, wo sie plötzlich auf 3 km wächst. Zwischen Assuân und Kairo beträgt das Gefälle nur 92 m, weiter bis zum Meere noch 10 m. Die Breite des Schwemmlandes übersteigt nirgends 15 km, der Fluß fließt meistens auf der Ostseite. Das Niltal von Assuân bis Kairo, 900 km lang, besitzt eine Bodenfläche von 17,000 qkm. Die Wüste tritt oft nahe an den Fluß heran. Die östliche Hochebene, Dschebel Mokattam (»steile Felswand«), fällt senkrecht ab, die westliche, libysche, senkt sich in schräger Böschung (s. Karte »Umgebung von Kairo«).
Oberhalb Beni Suef entsendet der N. den Josephskanal oder Bahr Jussuf (350 km) in die Depression des Fayûm (s. d.); zwischen beiden Armen liegt reiches Kultur land. Ehemals wurde durch diesen Arm der Möris (s. d.) gespeist. 22 km unterhalb Kairo teilt sich der 1 km breite Strom in die zwei Hauptarme von Damiette und Rosette. Beide Arme schließen das am Meer 270 km breite und 171 km lange Delta ein, das einen Flächeninhalt von 22,200 qkm hat (s. das Textkärtchen). Der Nilarm von Damiette ist allein stets schiffbar, versandet aber auch mehr und mehr. Beide Arme waren im Altertum weniger bedeutend als die pelusische Mündung im O. und die kanobische im W., zwischen denen von O. her noch die tanitische, mendesische, phatnische (oder bukolische), sebennytische und bolbinitische Mündung genannt werden. Von den das Delta in einer Länge von 13,440 km durchziehenden Kanälen ist am bedeutendsten der unterhalb Rahmanijeh vom Rosettearm ausgehende und bei Alexandria (s. d.) ausmündende, 77,7 km lange und 30 m breite Mahmudiehkanal (s. d.). Der kurze Menufkanal verbindet im südlichen Deltateil den Rosette- und Damiettearm. Der tanitische Arm ist in den Muis, der pelusische in den Äbu el Meneggekanal umgewandelt worden. Der vereinigte N. von Chartum bis zum Mittelmeer hat bei 1900 km Länge bedeutendes Gefälle: Berber liegt 350, El Kab (zwischen dem vierten und fünften Katarakt) 294, Wadi Halfa am zweiten Katarakt 128, Siut 70 m ü. M. Der Abstand zwischen Quelle und Mündung beträgt in Luftlinie 4120 km.
An der Stelle des jetzigen Niltals war weil ins Land hinein in postpliocäner Zeit ein schmaler Meeresgolf, dessen Niveau noch heute an beiden Rändern der begrenzenden Felsabstürze durch Bohrmuschellöcher und Konchylienlager bezeichnet ist. Auf dem alten Meeressand ist der vom N. herabgeführte Schlamm abgelagert, jetzt 10–12, an der Spitze des Deltas 13 bis 16 m mächtig. Zur Zeit der Nilschwelle ist Ägypten nicht mehr, wie einst, ein großer See; unter Leitung besonders dazu angestellter Ingenieure wird das Wasser in Kanäle abgezweigt und nach Bedarf in das durch Dämme in Becken zerlegte Kulturland verteilt, bis der nötige Nilschlamm abgesetzt ist. Dieser Nilschlamm enthält auf 100 Teile an Wasser und Sand 63, kohlensaurem Kalk 18, Quarz, Kiesel, Feldspat, Hornblende, Epidot 9, Eisenoxyd 6 und kohlensaurer Bittererde 4 Proz. Während dieser Überflutungen hängen viele Dörfer nur durch Dämme miteinander zusammen: ein für das Land charakteristischer Anblick. Der Verlauf und die Höhe der Überschwemmungen hängt ab vom Regenfall in den abessinischen Gebirgsgegenden. Das für die Kultur günstigste Mittel des höchsten Wasserstandes betrug zu Herodots Zeiten 16 Ellen (daher der Nilgott im Vatikan von 16 Kindern umgeben, vgl. den folgenden Artikel), gegenwärtig beträgt es 7,5–8 m des Nilometers (Mikyâs); auf der Insel Roda bei Kairo schon 847 aufgestellt, steht er unter einem besondern Aufseher, seine Beobachtungen der Wasserhöhe werden vom 1. Juli ab täglich in Kairo ausgerufen. Der Unterschied des höchsten und niedrigsten Wasserstandes beträgt bei Kairo 7,5 m, bei Theben 8,5, bei Assuân 15 m. Über die Anlagen zur Regulierung der Nilüberschwemmungen s. Ägypten, S. 184.
Bei den alten Ägyptern hieß der N. in der heiligen Sprache Jeter-'o (»Großer Fluß«), koptisch Jero, Jaro, dan. ch hebräisch Je' or, bei den Griechen Neilos, wahrscheinlich eine Umgestaltung des semitischen Namens Nahal, den sie vermutlich von den Phönikern hörten. Bei den Nubiern heißt der Fluß Tossi oder Nil-tossi, bei den Arabern el-Nil oder auch Bahr, wie jeder andre größere Fluß. Der N. genoß bei den alten Ägyptern und später bei Griechen und Römern göttliche Verehrung; das Steigen des Nils (nach der Lehre der alten Ägypter durch das Fallen einer Träne der Isis in den Fluß veranlaßt) begeht man noch heute, wie zur Pharaonenzeit, mit großen Festlichkeiten. Der N., dem ein Tempel in Nilopolis geweiht war, wurde mannweiblich, mit Bart und weiblichen Brüsten, von blauer Hautfarbe dargestellt, in der griechisch-römischen Kunst als liegender Flußgott (s. den folgenden Artikel).
Die Frage nach dem Ursprung des Nils beschäftigte bereits die alten Griechen und Römer; »caput Nili quaerere« (»die Quelle des Nils suchen«) war zu einer sprichwörtlichen Redensart für die Ausführung von etwas Unmöglichem geworden. Bis 1863 dienten zur Orientierung nur die Ptolemäischen Karten. Schon Eratosthenes beschreibt uns vortrefflich den Strom mit seinen Krümmungen von Meroe, vom 17.° nördl. Br. bis zur Mündung, und auf den Karten des Agathodämon zu den Tafeln des Ptolemäos erhalten wir ein getreues Bild von dem S-förmigen Lauf des Stromes in Nubien. Die von Nero ausgerüstete Expedition, die auf dem Weißen N. bis in die Region des heutigen Sees No gelangte, wo der Gazellenfluß mit dem N. sich vereinigt, brachte weitere Kunde. Ptolemäos (125 n. Chr.) wußte, daß der rechte Hauptarm des Flusses, der Blaue N., aus dem Tanasee und der Weiße N. aus Seen der südlichen Erdhälfte entspringe (s. Nilseen). Strabon kannte den Sobat (Asta-Sobas), den rechten Nebenfluß des Weißen Nils (9° nördl. Br.). Über das Quellgebiet des Blauen Nils war man in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten durch Kosmas Indikopleustes unterrichtet. Die Kunde vom Ursprung des Bahr el Afrak im Tanasee war zwar aufgefrischt durch portugiesische Missionare in Abessinien (17. Jahrh.), aber so in Vergessenheit geraten, daß der Schotte Bruce (Ende des 18. Jahrh.) als Entdecker der Quelle des Blauen Nils gefeiert wurde. Erst 1839 ging man ernstlich an die Entdeckung der Quellen des Weißen Nils: Mehemed Ali rüstete eine Expedition aus, die bis 6°33-nördl. Br. gelangte, während eine zweite, an der die Franzosen Arnaud, Sabatier und Thibaut und der Deutsche Ferdinand Werne teilnahmen, 1841 bis 5° nördl. Br. vordrang. Zahlreiche Reisende suchten dann vergeblich das alte Rätsel zu lösen, bis 1863 die Engländer Speke und Grant die großen Nilseen entdeckten, die als Ursprungsstätte des Stromes angesehen wurden, und bis Stanley 1876 die Flüsse fand, die dem umfangreichsten dieser Seen, dem Victoria Nyanza (s. d.), zuströmen. Den größten derselben, den auf der Westseite einmündenden Kagera (s. d.), verfolgten Baumann, Ramsay und Kandt bis zu seinen Quellen, so daß damit der Ursprung des Nils endlich festgestellt war. Vgl. Afrika, Entdeckungsgeschichte, S. 147 f.
Vgl. außer den Reisewerken von Speke, v. Heuglin, Baker, Marno, Beltrame u.a. und der bei Afrika und Ägypten angegebenen Literatur: Dittmer, Kemi und das Nilsystem (Berl. 1874); v. Prokesch-Osten, Nilfahrt bis zu den zweiten Katarakten (Leipz. 1874); Janko, Das Delta des Nils (Budapest 1890); Baumann, Durch Massailand zur Nilquelle (Berl. 1894); R. H. Brown, History of the barrage at the head of the Delta of Egypt (Lond. 1896); Henze, Der N., seine Hydrographie und wirtschaftliche Bedeutung (Halle 1903); H. H. Johnston, The Nile quest (Lond. 1903); M. Schanz, Ägypten und der ägyptische Sudân (Halle 1904); Willcocks, The Nile in 1904 (Kairo 1904); Kandt, Caput Nili (Berl. 1904); Palanque, Le N. à l'époque pharaonique (Par. 1903); Hayes, Sources of Blue N. (Lond. 1905); Lampe, Bewässerung Ägyptens, und Said Ruete, Geplante Bewässerungsanlagen im Gebiet des obern Nils (beide Schriften in der »Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin«, 1902 u. 1904), und die Reisehandbücher für Ägypten von Meyer und Bädeker.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.