- Murner [2]
Murner, Thomas, Satiriker, geb. 24. Dez. 1475 zu Oberehnheim im Elsaß, gest. daselbst 1537, trat in das Minoritenkloster zu Straßburg, empfing mit 19 Jahren die Priesterweihe, studierte darauf in Freiburg, ging dann nach Paris, Krakau (wo er Bakkalaureus der Theologie wurde), Köln, Rostock, Prag und kehrte um 1499 nach Straßburg zurück. Er hielt sich hierauf als öffentlicher Lehrer zu Freiburg i. Br. auf und veröffentlichte u.d. T.: »Nova Germania« (Straßb. 1502) eine Schrift wider Wimpfelings »Germania«, in der er zu beweisen suchte, daß es im Elsaß eine französische Partei gäbe und Frankreich Ansprüche auf diese Provinz habe. Der Magistrat von Straßburg legte Beschlag auf diese Schrift, die bis auf sechs Exemplare vernichtet wurde (mit Wimpfelings Schrift neu hrsg., Straßb. 1874). M. wurde 1505 vom Kaiser Maximilian als Dichter gekrönt und hielt sich abwechselnd in Krakau, Freiburg, Bern, Speyer und Frankfurt auf. In dieser Zeit erregte er Aufsehen durch einige Lehrbücher, in denen er die Logik und andre Wissenschaften den Schülern spielend beibringen wollte. Besonders charakteristisch für ihn und seine Zeit sind aber zwei Werke, mit denen er 1512 hervortrat. Erstens »Die Narrenbeschwörung«, die mehrere Auflagen erlebte (neue Ausg. von Spanier, Halle 1893; vgl. Spanier, Über Murners »Narrenbeschwörung« und »Schelmenzunft«, in den »Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur«, Bd. 18, das. 1894). Die Anregung zu diesem Werk verdankt M. offenbar dem »Narrenschiff« des Sebastian Brant, aus dem er auch Holzschnitte übernahm und auf seine Weise neu verwertete. M. geißelt darin in elsässischer Mundart die Laster und Torheiten seiner Zeit und verschont keinen Stand, auch den geistlichen nicht. Sodann die »Schelmenzunft« (neue Ausg. von Matthias, Halle 1890; photolithogr. Ausg., Berl. 1881), die aus Predigten, die M. zu Frankfurt a. M. gehalten hatte, entstand und eine beißende Satire auf alle Kreise der menschlichen Gesellschaft war (lat. u. d. T.: »Nebulo nebulonum«, Frankf. 1620 u. ö.). Einen ernsthaftern Charakter trägt die »Andächtig geistliche Badenfahrt« (1514; neu hrsg. von Martin, Straßb. 1887). Echt volkstümlich ist dagegen Murners humoristische Schrift »Die Mülle (Mühle) von Schwyndelsheim und Gredt Müllerin Jarzeit« (Straßburg 1515; neue Ausg. von Albrecht in Martins »Straßburger Studien«, Bd. 2, das. 1883–84). Von 1515–21 finden wir M. in Italien, in Straßburg, von wo aus er dem Kaiser Maximilian eine Übersetzung von Vergils »Äneide« in Knittelversen widmete (1515), in Trier und Basel, wo er 1519 die juristische Doktorwürde erwarb und wegen seines Strebens nach Popularisierung der Rechtswissenschaft mit den Fachgelehrten in Streit geriet, dann in Italien und 1521 wieder in Straßburg. In diesen Jahren entstand auch seine »Gäuchmatt« (»Narrenwiese«, Basel 1519; neue Ausg. von Uhl, Leipz. 1896). M. zeigt darin, welche Mittel und Künste die Weiber anwenden, um die Männer zu Gäuchen (Narren) zu machen, und läßt dabei eine ansehnliche Reihe berühmter Männer auf der Matte erscheinen. In dem Streit Reuchlins mit den Dominikanern stellte er sich auf die Seite der Humanisten; seine 1520 veröffentlichte Übersetzung von Luthers Schrift »De captivitate babylonica« hat dagegen bereits eine antilutherische Tendenz; noch weit unzweideutiger wandte er sich in demselben Jahre mit der »Christlichen und brüderlichen Ermahnung« auf die Seite von Luthers Gegnern und wurde bald in eine heftige Polemik verwickelt. 1522 übersetzte er Heinrichs VIII. von England Traktat »De septem sacramentis« und verteidigte ihn in seiner Schrift »Ob der Künig uß Engelland ein Lügner sei oder der Luther«. Gleichzeitig erschien von ihm (1522) das allegorisch-satirische Gedicht: »Von dem großen lutherischen Narren, wie ihn Doktor M. beschworen hat« (hrsg. von Heinr. Kurz, Zürich 1848), wo die schwächern Seiten der Reformationsbewegung so geschickt und eindringlich dargelegt sind, wie in keiner andern unter den zahlreichen Streitschriften dieser Zeit. Wegen dieser Schriften wurde er auch bei einer Reise nach England 1523 vom König huldreich aufgenommen. Nach seiner Rückkehr zerfiel er mit dem Rate der immer mehr zur Reformation neigenden Stadt Straßburg; 1525 flüchtete er vor den aufständischen Bauern in die Schweiz, wo er im Kanton Luzern als Pfarrer angestellt wurde, wohnte 1526 dem Religionsgespräch von Baden (im Aargau) bei, mußte aber 1529 wegen heftiger Streitigkeiten mit den Evangelischen die Schweiz verlassen und wandte sich nun nach Heidelberg, wo ihn Kurfürst Friedrich wohlwollend aufnahm. Zuletzt hatte er eine kleine Pfründe in Oberehnheim. M. war einer der genialsten und fruchtbarsten Schriftsteller seiner Zeit, aber ein zügelloser Charakter und abenteuerlicher Geist. Die satirische Polemik ist sein eigentliches Element, »wo er harmlos ist, wird er auch leicht langweilig« (Martin). Schließlich sei noch erwähnt, daß ihm manche die Abfassung der hochdeutschen Bearbeitung des Volksbuches von Eulenspiegel (s. d.) zuschreiben. Murners Schriften, von denen die meisten selten sind, bilden, über 50 an der Zahl, eine ganze Bibliothek. Vgl. Ch. Schmidt, Histoire littéraire de l'Alsace, Bd. 2 (Par. 1879); Ries, Quellenstudien zu Murners satirisch-didaktischen Dichtungen, Teil 1 (Dissertation, Berl. 1890); W. Kawerau, M. und die Kirche des Mittelalters (Halle 1890) und M. und die deutsche Reformation (das. 1891, beides in den Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte); Ott, Über Murners Verhältnis zu Geiler (Bonn 1896); J. Popp, Die Metrik und Rhythmik Th. Murners (Dissertation, Heidelb. 1899).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.