- Melanchthon
Melanchthon (Melanthon, gräzisierter Name für Schwarzerd), Philipp, Luthers Kampfgenosse, der »Lehrer Deutschlands « (praeceptor Germaniae), geb. 16. Febr. 1497 zu Bretten in der damaligen Pfalz, gest. 19. April 1560 in Wittenberg. Sein Vater Georg M. war ein tüchtiger Waffenschmied. Sein Großvater mütterlicherseits, der Amtmann Johannes Reuther, ließ dem Knaben den ersten Unterricht im Lateinischen erteilen. 1507 verlor M. in einer Woche Großvater und Vater und kam nun nach Pforzheim in das Haus seiner Großmutter, einer Schwester Reuchlins, der an dem begabten Knaben großen Gefallen fand. Im Alter von zwölf Jahren bezog M. die Universität Heidelberg und erwarb sich nach zwei Jahren das Bakkalaureat. Aus dem Unterricht, den er den Söhnen des Grafen von Löwenstein erteilte, gingen schon damals die Grundlinien seiner griechischen Grammatik hervor. Da man ihm wegen seiner Jugend die Magisterwürde vorenthielt, siedelte er 1512 nach Tübingen über, wurde hier 1514 Magister, wandte sich immer entschiedener dem Humanismus zu und hielt Vorlesungen über Terenz, Cicero und die griechische Grammatik. Daneben beschäftigte er sich auch mit Theologie, Jurisprudenz, Medizin. Zum eingehenden Studium der Bibel veranlaßle ihn erst die Erasmische Ausgabe des Neuen Testaments (1516). Reuchlin vermittelte seine Übersiedelung als Professor der griechischen Sprache nach Wittenberg. Seine Antrittsrede 29. Aug. 1518 (»De corrigendis adolescentiae studiis«) machte Epoche in der Geschichte des deutschen Schulwesens und fand vor allem den Beifall Luthers. En ger und inniger wurde der Anschluß beider aneinander durch die Disputation zu Leipzig. Wiewohl hier M. nur die Rolle eines bescheidenen Ratgebers spielte, so ward er doch in den Kampf mit Eck hineingezogen, als er in einem Brief an Öcolampadius den Verlauf des Gesprächs geschildert hatte; in seiner Entgegnung auf Ecks nun erfolgenden Angriff entwickelte er zum erstenmal die Grundsätze gesunder protestantischer Exegese. Am 18. Aug. 1520 verehelichte sich M. mit Katharina Krapp, Tochter des Bürgermeisters von Wittenberg. »Magister Philipp« war damals schon auch in die theologische Fakultät eingetreten; die erste Frucht seiner biblischen Vorlesungen waren die berühmten »Loci communes rerum theologicarum« (1521; beste Ausg. von Kol de, 3. Aufl., Erlang. 1900), die erste protestantische Dogmatik. Während der bilderstürmerischen Bewegung zeigte sich M. den Zwickauer Schwärmern gegenüber ratlos. Hier wie sonst bewährte er sich allerdings neben Luther als der kleinere Geist, als das wissenschaftliche Talent neben dem religiösen Genie. Gleichwohl hat die besonnene Mäßigung, das durch geschichtliche Studien und klassische Bildung gereifte Urteil, die große Klarheit seiner Darstellungsgabe zum Fortgang der Reformation neben Luthers glaubensvoller Tatkraft zweifellos das allermeiste beigetragen. Namentlich ist aus seiner gewandten Feder in der Folgezeit eine ganze Reihe von politisch-theologischen Schriften geflossen, die tief in den Gang der deutschen Reformation eingegriffen haben, so die »Epitome doctrinae christianae« (1524), wodurch Philipp von Hessen gewonnen ward; sein auf Wunsch des Kurfürsten von der Pfalz über die zwölf Artikel der Bauern 1525 abgegebenes Urteil, das deren Forderungen zurückwies; sein »Unterricht der Visitatoren und Pfarrherren im Kurfürstentum Sachsen« (1528), die erste, auch für andre Länder vorbildlich gewordene Kirchen- und Schulordnung; vornehmlich aber die Augsburgische Konfession (s. d.) samt ihrer Apologie (1530); der Traktat »De potestate papae«, den er 1537 im Auftrag des Schmalkaldener Fürstenkongresses schrieb, und die »Repetitio confessionis Augustanae saxonica« (1551).
Schon zu Luthers Lebzeiten fand keine wichtige Verhandlung der evangelischen Stände statt, zu der M. nicht zugezogen worden wäre. So nahm er teil am Marburger Gespräch 1529, bei dem er sich mit Zwingli unterredete, während Luther mit Öcolampadius disputierte, an den Reichstagen zu Speyer 1529, mit dessen Protest er nicht einverstanden war, und zu Augsburg 1530, woselbst seine Nachgiebigkeit gegen die katholische Lehre in dem an den Reichstag sich knüpfenden Religionsgespräch so weit ging, daß Landgraf Philipp von Hessen seinem Gesandten den Auftrag erteilte, »dem weltweisen, vernünftigen, verzagten Philippo in die Würfel zu greifen«, und die Nürnberger sogar den Verdacht schöpften, M. sei bestochen; er nahm ferner teil an dem Konvent zu Schmalkalden 1537, an den Religionsgesprächen mit den Oberländern zu Kassel 1535 und Wittenberg 1536 sowie mit den Katholiken zu Hagenau 1540, Worms und Regensburg 1541 (s. Religionsgespräche); 1545 verfaßte er die »Wittenberger Reformation«, die den Katholiken große Zugeständnisse in bezug auf die bischöfliche Verfassung der Kirche machte. Nicht minder war er persönlich beteiligt bei der Einführung der Reformation im Herzogtum Sachsen und Meißen und im Kurfürstentum Köln unter Hermann von Wied; in Kirchen- und Schulsachen wurde er nach Nürnberg, Leipzig, Jena, Tübingen, Heidelberg, Frankfurt berufen, ohne daß er sich je hätte entschließen können, Wittenberg dauernd zu verlassen. Auch Frankreich und England suchten ihn vergeblich zu gewinnen. Leider haben die unaufhörlichen Vermittelungsversuche und Ausgleichsvorschläge, die M. in dieser vielgespaltenen Tätigkeit als theologischer und philologischer Professor, als Kirchen- und Schulmann, als Publizist und Diplomat produzierte, ihm immer heftigere Vorwürfe eingetragen, und die von den strengen Anhängern Luthers ausgestreute Saat der Verdächtigung reiste schon bei dessen Lebzeiten zu bedenklicher Höhe. Namentlich als bekannt wurde, daß M. sich im Gegensatz zu seiner noch in der Augsburgischen Konfession niedergelegten Überzeugung im Punkte des Abendmahls den Schweizern nähere, trübte sich das Verhältnis zwischen ihm und Luther merkbar. Aber als M. 1540 in Weimar aus Kummer über die Doppelehe des Landgrafen von Hessen, zu der er selbst in Form eines Beichtrates gemeinsam mit Luther seine Zustimmung gegeben, schwer erkrankt war, da war es Luther, der, herbeigeeilt, ihn durch sein Gebet aus tiefer Melancholie herausriß. Im Februar 1546 hielt M. dem dahingeschiedenen Freunde die Leichenrede, beklagte sich jedoch in einem Briefe vom 28. April 1548 an Christoph v. Carlowitz über die »unziemliche Knechtschaft«, die er ertragen, »als Luther öfter seinem Temperament folgte, in dem eine nicht geringe Streitlust lag«. Allerdings war es vornehmlich Melanchthons Verdienst gewesen, daß der Friede zwischen beiden erhalten blieb.
Wie Luther es früher gewünscht hatte, trat M. dessen Erbe an. Das Ansehen, das Luther genossen, ging fast ganz auf ihn über; aber es war nicht ausreichend, um den Haß der Eiferer für Luthers Ruhm und Namen im Zaum zu halten. Bis zu seinem Tode verfolgte ihn die »Wut der Theologen« (»rabies theologorum«), wie er selbst es nannte. Sein äußeres Leben wurde dadurch ein sehr bewegtes. Der Krieg trieb ihn 1547 aus Wittenberg weg. Als dann seine Weigerung, das Interim zu unterzeichnen, den Zorn des Kaisers erweckte, kehrte er, in die Dienste des Kurfürsten Moritz getreten, nach Wittenberg zurück, leitete die Wiederherstellung der Universität und arbeitete das Leipziger Interim (s. d.) aus, wodurch er sich maßlose Angriffe von Flacius zuzog, sich einen Verräter gescholten und in den Adiaphoristischen Streit (s. Adiaphora) verwickelt sah. Allerdings ist M. damals und früher schon bis an die äußerste Grenze der Nachgiebigkeit gegangen; er wollte alle Härten im Ausdruck der Bekenntnisschriften wegschleifen, um dadurch die Grundlage für die Unterhandlungen auf dem Konzil zu Trient zu gewinnen, wohin er schon 1552 abgereist war, als der Umschlag in der Politik des Kurfürsten ihn zurückrief. Bald darauf brach der Streit über das Abendmahl von neuem und heftiger aus als je. M. galt auf diesem Punkt bereits als verkappter Calvinist (s. Kryptocalvinisten), während er gleichzeitig durch Zugeständnisse, die er dem freien Willen in der Bekehrung machte, zu katholisieren schien und als Synergist verrufen ward. Auf dem Religionsgespräch zu Worms 1557 zeigte es sich, daß der Haß der Jenenser Lutheraner gegen M. so groß war, daß selbst die Gegenwart der katholischen Abgeordneten seine Ausbrüche nicht zu hindern vermochte. Krank und angegriffen kam er von der Reise nach Worms in sein vereinsamtes Haus zurück. Während seiner Abwesenheit war ihm seine Frau gestorben, und dieser war seine ihm am meisten ähnliche Tochter Anna, deren Ehe mit dem leichtsinnigen Sabinus ihm schweren Kummer bereitet hatte, schon 1547 vorangegangen. Im Frankfurter Rezeß (s. d.) von 1558 kam noch einmal unter den protestantischen Fürsten seine vermittelnde Richtung zur Geltung. Von Gram, Kränkungen und Mißerfolg gebeugt, starb M. 19. April 1560. Seine Leiche wurde neben der Luthers beigesetzt. Es überlebten ihn zwei Kinder, ein Sohn, Philipp, der 1603 als Konsistorialsekretär starb, von des Naters großen Gaben aber nur seine Milde geerbt hatte, und eine Tochter, Magdalena (gest. 1576), die Gemahlin des Arztes und kursächsischen Kanzlers Peucer, von der noch heute in Kolmar Nachkommen leben. Lange verhinderte die vorwiegend orthodox kirchliche Richtung eine gerechte Würdigung der Stellung Melanchthons zu dem Reformationswerk. Anerkannt und unangefochten blieb aber seine Wirksamkeit als Gelehrter, und seine verschiedenen Lehrbücher über Rhetorik, Philosophie etc. wurden nur sehr allmählich aus den Schulen verdrängt. Bildnisse Melanchthons nach dem Leben gibt es von Lukas Cranach, der ihn häufig auf verschiedenen Altersstufen porträtiert hat (s. Tafel »Reformatoren«), von A. Dürer, der sein Bildnis bei Melanchthons Aufenthalt in Nürnberg 1526 in Kupfer gestochen hat (das künstlerisch wertvollste), und von dem Augsburger Medailleur Friedrich Hagenauer von 1543 (s. Tafel »Medaillen I«, Fig. 9). Denkmäler wurden ihm 1864 in Bretten, 1865 in Wittenberg (beide von Drake) und 1883, mit Luther zusammen, in Leipzig (von Schilling) errichtet. An Stelle des zu Anfang des 18. Jahrh. verfallenen Geburtshauses wurde seit 1897 ein monumentaler gotischer Neubau (Melanchthonhaus) mit einem Melanchthonmuseum errichtet und 20. Dez. 1903 eingeweiht. Seine Werke gaben am vollständigsten Bretschneider und Bindseil im »Corpus Reformatorum« (Halle und Braunschw. 1834 bis 1860, 28 Bde.) heraus. Eine Ergänzung dieser Ausgabe ist durch den Verein für Reformationsgeschichte in Aussicht genommen. Ergänzungen dazu sind: Bindseil, Ph. Melanchthonis epistolae, judicia, consilia etc. (Halle 1874); Hartfelder, Melanchthoniana paedagogica (Leipz. 1892); Loesche, Analecta Lutherana et Melanchthoniana. Tischreden Luthers und Aussprüche Melanchthons (Gotha 1892); Haußleiter, Melanchthon-Kompendium. Eine Sammlung von Lehrsätzen Melanchthons in Luthers Werken (Greifsw. 1902). Aus der überreichen Literatur sind hervorzuheben: C. Schmidt, Philipp M., Leben und ausgewählte Schriften (Elbers. 1861); Meurer, Melanchthons Leben (2. Aufl., Leipz. 1869); Herrlinger, Die Theologie Melanchthons in ihrer geschichtlichen Entwickelung (Gotha 1879); Hartfelder, Philipp M. als Praeceptor Germaniae (Bd. 7 der »Monumenta Germaniae paedagogica«, Berl. 1889); Sell, Philipp M. und die deutsche Reformation bis 1531 (Halle 1897); Kawerau, Die Versuche, M. zur katholischen Kirche zurückzuführen (das. 1902); Ellinger, Philipp M., ein Lebensbild (Berl. 1902). Volkstümliche Schriften sind: Schäfer, Philipp Melanchthons Leben (Gütersloh 1894); Beyschlag, Philipp M. und sein Anteil an der deutschen Reformation (Freib. 1897); Cohrs, Philipp M., Deutschlands Lehrer (Halle 1897); Krüger, Philipp M. Eine Charakterskizze (das. 1905).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.