- Leonardo
Leonardo, ital. Maler, Architekt und Bildhauer, genannt da Vinci (spr. wintschi) von seinem Geburtsort, dem Bergdorf Vinci bei Empoli, wo er 1452 als der natürliche Sohn Ser Pieros, Notars der Signoria von Florenz, geboren wurde, gest. 2. Mai 1519 im Schloß Clos-Lucé bei Amboise in Frankreich. Er zeigte früh Begabung für die Kunst, so daß er zu dem Maler und Bildhauer Verrocchio zu Florenz in die Lehre trat, in dessen Bild, die Taufe Christi (Akademie in Florenz), L. einen Engel hineinmalte. Von 1472–78 wird L. mehrfach in Urkunden erwähnt. Doch haben sich von seinen Jugendwerken nur folgende erhalten, die ihm mit Sicherheit zuzuschreiben sind: die Untermalung einer Anbetung der Könige (Florenz, Uffizien) und ein heil. Hieronymus, ebenfalls nur in brauner Untermalung (Rom, Vatikanische Galerie). Neuerdings ist ihm auch eine Verkündigung in den Uffizien zu Florenz zugeschrieben worden, die jedoch wahrscheinlich ein Werk des Ridolfo Ghirlandajo ist. Eine andre Verkündigung im Louvre zu Paris scheint jedoch ein Jugendwerk von L. zu sein. Groß ist dagegen die Zahl der Zeichnungen aus dieser ersten Periode, die, meist in Kreide, Rötel und mit der Feder ausgeführt, sich in der Windsorbibliothek, im Louvre, in der Akademie zu Venedig, in der Ambrosianischen Bibliothek zu Mailand, in den Uffizien zu Florenz, im Britischen Museum zu London und in der Albertina zu Wien befinden. Eine besondere Gruppe darunter bilden die Karikaturen, Ergebnisse seiner physiognomischen Studien, in denen sich aber auch seine Neigung zum Bizarren kundgibt. Sie sind mehrfach gestochen worden (unter andern von W. Hollar). Auch seine plastischen Übungen setzte er später in Florenz fort und widmete sich daneben mathematischen und physikalischen, namentlich mechanischen Studien sowie der Architektur. Auch war er nicht nur ein gewandter Sänger und Lautenspieler, sondern konstruierte auch ein eignes Instrument, erfand ein neues Griffbrett für die Viola und entwarf eine Zeichnung zu einer neuen Lyra. Endlich finden wir ihn als Dichter, namentlich als Improvisator erwähnt; doch hat sich nichts von seinen Dichtungen erhalten. Dabei zeichnete er sich durch Schönheit, Kraft und Gewandtheit des Körpers aus und glänzte durch Geist und Witz. Um 1484 berief ihn Herzog Lodovico il Moro, dem er in einem noch erhaltenen, seine Fähigkeiten aufzählenden Schreiben seine Dienste hauptsächlich als Kriegsingenieur angeboten hatte, nach Mailand, und hier entfaltete L. bis 1499 eine umfangreiche und vielseitige Tätigkeit. Das Hauptwerk, das er hier ausführen sollte, war das kolossale Modell einer Reiterstatue des Herzogs Francesco Sforza, das von den Zeitgenossen als Wunderwerk gepriesen, aber von französischen Armbrustschützen 1499 zerstört wurde, ehe es überhaupt zur Ausführung gelangt war. Entwürfe und Zeichnungen dafür befinden sich in der Windsorsammlung. Daneben wurde seine Tätigkeit als Architekt beim Mailänder Dom und als Ingenieur beim Bau des Martesanakanals hauptsächlich in Anspruch genommen. Von Staffeleibildern haven sich aus der Mailänder Zeit folgende erhalten: das unter dem Namen: La belle Ferronnière bekannte Frauenbildnis im Louvre, dessen Echtheit übrigens nicht zweifellos ist, die wahrscheinlich schon in Florenz begonnene Madonna in der Felsgrotte [Vierge aux rochers] (in zwei Exemplaren, von denen das im Louvre das eigenhändige Original ist, während das in der Nationalgalerie zu London eine spätere, wohl unter seiner Aussicht ausgeführte Schülerkopie ist, vielleicht von Ambrogio de Predis, von dem auch die beiden seit 1898 hinzugekommenen Flügelbilder mit Engeln sind) und der auferstandene Christus zwischen den Heiligen Leonardo und Lucia (Berliner Galerie, wohl nur Schulbild). Zwischen L. und Ambrogio de Predis streitig ist auch das Bildnis der Beatrice d'Este (in der Ambrosiana zu Mailand). Leonardos Hauptwerk in Mailand ist aber das noch vor 1499 vollendete Abendmahl des Herrn im Refektorium der Dominikaner von Santa Maria delle Grazie, das leider durch Vernachlässigung, mutwillige Zerstörungen und schlechte Restauration so beschädigt worden ist, daß jetzt nur noch ein Schatten des ursprünglichen Gemäldes vorhanden ist. Das Bild ist 28 Fuß lang, enthält Figuren von anderthalber Lebensgröße und ist in Öl an die Hauptwand des Refektoriums gemalt. Es ist oft, am besten von R. Morghen und R. Stang, gestochen worden. Es zeigt die reichste und reinste Entfaltung aller in der menschlichen Seele schlummernden Regungen und den schönsten Fluß der Linien in allen Gruppen und Formen. Das Typische wie das Porträtmäßige ist überwunden und eine ideale Wirklichkeit geschaffen, die ebenso wahr und lebendig wie edel und geistvoll ist. Bei der Zerstörung des Gemäldes sind die zahlreichen Kopien von Marco d'Oggionno und andrer Schüler Leonardos (eine in der Londoner Akademie) und die von andern Kopisten gezeichneten Pastellköpfe der Apostel sm großherzoglichen Palais zu Weimar (in Braunschen Photographien 1893 herausgegeben von Ruland) und im Museum zu Straßburg i. E. wichtig. Außerdem verfertigte L. in Mailand noch eine große Anzahl von Zeichnungen der verschiedensten Art und Kartons, nach denen seine Schüler Gemälde ausführten, die gewöhnlich als Werke seiner Hand ausgeführt werden. Auch soll er in Mailand eine Kunstakademie gegründet haben, über die jedoch keine sichern Nachrichten vorliegen. Für seine Schüler schrieb er einen »Trattato della pittura«, worin er sie in erster Linie an die Natur, nicht an die Antike wies; für besonders wichtig aber erklärte er das Studium der Perspektive und der Anatomie und zeichnete selbst um 1494 die Teile des menschlichen Körpers, die er bei seinem Unterricht als Vorlagen gebraucht haben soll. Ein Band mit 235 großen anatomischen Zeichnungen befindet sich in der königlichen Handzeichnungensammlung zu London. Dann arbeitete er an einem Werk des Mathematikers Luca Pacioli über die menschliche Proportion und über Perspektive, in dem zugleich die geometrischen Gesetze abgehandelt sind; auch fertigte er 60 Zeichnungen dazu. Die Originalhandschrift mit den Zeichnungen kam an die Ambrosiana zu Mailand, und 1509 erschien das Werk gedruckt und mit Holzschnitten versehen u. d. T.: »De divina proportione«. Unter der großen Zahl von Schülern, die L. auf diesem Wege heranbildete, werden Cesare da Sesto, Gian Antonio Boltraffio, Francesco Melzi, Marco d'Oggionno, Andrea Solari, Gian Pedrini, Bernardino de'Conti, Ambrogio de Predis, Soddoma, Gaudenzio Ferrari, Bernardino Luini genannt. Nach dem 1499 erfolgten Sturz des Hauses Sforza verliest L. Mailand, 1500 war er kurze Zeit in Venedig, und 1502 war er im Dienst Cesare Borgias als Kriegsingenieur in der Romagna tätig. 1503 finden wir ihn in Florenz, wo er von dem Gonfaloniere Pietro Soderini wohl aufgenommen und mit einem Jahrgeld bedacht wurde. Das erste Werk, das er hier schuf, war ein Karton zu einem Altarbilde der Servitenkirche daselbst, die Madonna mit dem Kinde, dem kleinen Johannes und der heil. Anna darstellend, den er aber nicht ausführte. Er befindet sich jetzt in der Akademie zu London. In diese Zeit gehört auch das Bildnis der Mona Lisa, der schönen Frau des Francesco del Giocondo (jetzt im Louvre zu Paris, ein Werk von bestrickendem Zauber), und jenes der Ginevra, der Gemahlin des Amerigo Benci (verloren gegangen). Von dem Rate der Stadt hatte er den Auftrag erhalten, in dem neuen Ratssaal ein großes Bild an die Mauer zu malen, wozu L., mit Michelangelo wetteifernd, die Schlacht zwischen den Florentinern und Mailändern bei Anghiari (1440) wählte. Die Ausführung ward 1505 begonnen, aber oft unterbrochen und schließlich aufgegeben. Dagegen erhielt sich der 1505 vollendete Karton noch geraume Zeit und bildete für die heranwachsenden Maler eine Quelle des Studiums. Er ging später zugrunde, und nur von der Mittelgruppe, einem Reiterkampf um eine Standarte, hat sich eine Nachbildung in einer Zeichnung des Louvre (wahrscheinlich von Rubens) erhalten, die von Edelinck gestochen ist. Nachdem L. 1505 einige Zeit in Barbiga zugebracht, wo seine Familie ein Gut hatte, war er 1506 wieder in Mailand, bis ihn die Signoria nach Florenz zurückberief, 1508 in Vaprino als Gastfreund des Grafen Melzi und zuzeiten auch in Canonica, wo ihn die Schiffbarmachung des Naviglio della Martesana beschäftigte, sowie im folgenden Jahr die Vollendung des Kanals von San Christoforo bei Mailand. Hier leitete er 1509 die Dekoration des Triumpheinzugs König Ludwigs XII. und erhielt dafür von ihm eine Strecke Wassers aus dem Naviglio bei San Christoforo als Eigentum, wo er eine bewunderungswürdige Schleuse und einen Stapelplatz anlegte. Zugleich ernannte ihn der König zum Hofmaler mit Gehalt. Ende 1509 begab sich L. nach Florenz, 1512 kehrte er nach Mailand zurück und hielt sich 1514 eine Zeitlang am Hofe Leos X. in Rom auf, wo er jedoch nur wenige, nicht erhaltene Werke ausführte. Der letzten Mailänder Zeit gehören die heil. Anna selbdritt (vgl. Mark, The St. Anne of L., Lond. 1882) und die Halbfigur eines heil. Johannes im Louvre an. Nachdem er 1515 wieder kurze Zeit in Florenz gelebt, war er noch in demselben Jahr beim Einzug Franz' I. von Frankreich in Mailand und befand sich seitdem im Gefolge des Königs, den er 1516 nach Frankreich begleitete. Hier scheint er indes wenig gearbeitet zu haben. Daß er in den Armen des Königs gestorben sein soll, ist eine Fabel.
Als Maler hat L. das Hauptverdienst, daß er der Zeichnung die sichere anatomische Grundlage gegeben und das Körperliche in der Beleuchtung zuerst dargestellt hat. Auch strebte er zuerst ein Helldunkel und eine möglichst vollkommene Modellierung an, die er durch zarte Übergänge der Umrisse und Töne ineinander (sfumato) zu erreichen suchte. Seine Karnation hat etwas Glatt-Marmornes; eigen ist sein Gesichtsausdruck bei den Frauen, der in das Lächelnde übergeht; er war hierin ein Vorbild Correggios. Er wußte die merkwürdigsten Verbindungen der menschlichen und der Tiergestalt zur Anschauung zu bringen und wandte letztere schon zu politischen Satiren an. Namentlich aber ist das Porträt durch ihn zur vollsten Selbständigkeit und Vergeistigung gebracht worden, indem es ihm zuerst gelang, das seine Spiel der Empfindungen in seinen Köpfen auszudrücken. Der Ernst männlichen, tätigen wie forschenden Geistes spricht sich besonders in dem heiligen Abendmahl und in dem Reiterkampf um die Standarte, die L. eigne Anmut und Lieblichkeit aber in seinen heiligen Familien aus. Da L. sich in der Ausführung nie genugtun konnte, erklärt es sich, daß er so wenige Gemälde hinterließ, und selbst diese sind zum Teil noch unvollendet. Fast nicht minder schätzbar als seine Gemälde sind Leonardos physikalische und mathematische Schriften. Seine von rechts nach links (in Spiegelschrift) geschriebenen Manuskripte (L. war linkshändig und malte auch mit der linken Hand) sind mit Zeichnungen versehen, so daß der Gedanke mit der Illustration zusammengeht. In der Mechanik kannte L. unter anderm die Gesetze der auf einen Hebelarm schief wirkenden Kräfte, den gegenseitigen Widerstand der Hebelarme, die Gesetze der Reibung, den Einfluß des Schwerpunktes auf ruhende und bewegte Körper, die Anwendung des Prinzips des Stoßes auf verschiedene Fälle etc. In der Optik beschrieb er vor Porta die sogen. Camera optica, erklärte das Wesen der farbigen Schatten, die Bewegungen der Iris, die Wirkungen, welche die Dauer des Eindrucks im Auge hervorbringt, u.a. Ein großer handschriftlicher und artistischer Schatz von L. war bis 1796 in der Ambrosiana zu Mailand. Man bewahrte daselbst 16 Bände Handschriften und Zeichnungen, wahrscheinlich zum Teil Studienbücher. Sie wurden in dem genannten Jahr als Kriegsbeute nach Paris gebracht, von wo nach dem Sturz Napoleons I. die Ambrosiana nur den berühmten »Codex atlanticus« zurückerhielt, während 12 Bände in Paris (Bibliothek des Instituts) zurückblieben. Ein Band befindet sich im Britischen Museum zu London, andre Manuskripte im South Kensington Museum daselbst und in Windsor. Leonardos Schriften wurden herausgegeben in Auswahl von J. P. Richter (»The literary works of L. da Vinci«, Lond. 1883, 2 Bde.), das »Buch von der Malerei« von Ludwig (mit Übersetzung und Kommentar, Wien 1882, 3 Bde.), der »Codex atlanticus« von der Akademie dei Lincei (»Il codice atlantico«, Mail. 1893–1904), der im Besitz des Fürsten Trivulzio in Mailand befindliche Kodex von Beltrami (Mail. 1891). Die Herausgabe der Pariser Manuskripte besorgten Ravaisson-Mollien (Par. 1880–92, 6 Bde.) und Sabachnikoff (»Codice sul volo degli uccelli«, das. 1893). Eine vollständige Faksimilienreproduktion der Manuskripte in Windsor, im Britischen und im South Kensington Museum zu London erscheint seit 1901 in Paris (auf 41 Bände berechnet). Vgl. L. Amoretti, Memorie storiche sulla vita, gli studj e le opere di L. da Vinci (Mail. 1804); Brown, The life of L. da Vinci (Lond. 1828); Fumagalli, Scuola di L. da Vinci in Lombardia (Mail. 1811); Gallenberg, L. da Vinci (Leipz. 1834); Rio, Léonard de Vinci et son école (Par. 1855); Clément, Michelangelo, L., Raffael (a. d. Franz. von Clauß, Leipz. 1870); Begliojoso, Saggio delle opere di L. da Vinci (Mail. 1872); Heaton und Black, L. da Vinci and his works (Lond. 1873); M. Jordan, Untersuchungen über das Malerbuch des L. da Vinci (Leipz. 1873); Grothe, L. da Vinci als Ingenieur und Philosoph (Berl. 1874); A. Houssaye, Histoire de Léonard de Vinci (2. Aufl., Par. 1876); Brun in Dohmes »Kunst und Künstler«, 3. Teil; Müller-Walde, L., Lebensskizze und Forschungen über sein Verhältnis zur Florentiner Kunst und zu Raffael (Münch. 1889–90, unvollendet); G. Séailles, Léonard de Vinci, l'artiste et le savant (Par. 1892); Uzielli, Ricerche intorno a L. da Vinci (2. Aufl., Turin 1896); A. Rosenberg, L. da Vinci (Bielef. 1898); Müntz, Léonard de Vinci, l'artiste, le penseur, le savant (Par. 1899); Wolynskij, L. da Vinci (russ., Petersb. 1900); Wolff, L. da Vinci als Ästhetiker (Straßb. 1902); Baratta, L. ed i problemi della terra (Tur. 1902); »L. der Denker, Forscher und Poet« (Auswahl, Übersetzung, Einleitung von Marie Herzfeld, Leipz. 1904); McCurdy, L. (Lond. 1904).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.