Kristalle, flüssige

Kristalle, flüssige

Kristalle, flüssige (hierzu Tafel »Flüssige Kristalle«). Lange Zeit hielt man die Eigenschaft zu »fließen« für eine besondere Eigentümlichkeit der Flüssigkeiten im Gegensatz zu den festen Körpern. Daß letztere tatsächlich unter Umständen doch fließen, wie der Asphaltstrom auf der Insel Trinidad oder die Gletscher, suchte man darauf zurückzuführen, daß pechartige Körper eigentlich nur zähe Flüssigkeiten seien, und Eis infolge der Regelation scheinbar plastische Veränderungen zulasse. Die Beobachtungen von Tresca (1864) über den Ausfluß von festem Blei unter hohem Druck und die Entdeckung der Translation längs Gleitflächen sowie der künstlichen Zwillingsbildung bei Kristallen durch Reusch widerlegten aber jene alten Ansichten. O. Lehmann fand in dem Jodsilber einen Körper, der beim Erhitzen vor dem Schmelzen in eine regulär kristallisierende Modifikation übergeht, von solcher Weichheit, daß man sie früher für zähflüssig gehalten hatte. Noch weichere Kristalle fanden sich bei den Oleaten der Alkalien und solche, die nur die Konsistenz von Öl haben, bei verschiedenen Verbindungen des Cholesterins und insbes. bei Paraazoxybenzoesäureäthylester. Derartige fließende Kristalle nehmen in einer spezifisch gleichschweren Flüssigkeit schwebend nicht Kugelform an, wie etwa ein Öltropfen in verdünntem Alkohol, sondern polyedrische Form und einheitliche Auslöschung im polarisierten Licht wie andre Kristalle, doch zeigen sich die Ecken und Kanten infolge der Wirkung der Oberflächenspannung abgerundet (Tafel, Fig. 1, Paraazoxybenzoesäureäthylester), und wenn zwei solche Kristalle in Berührung gebracht werden, fließen sie sofort zu einem einheitlichen Kristall zusammen (Fig. 2, ölsaures Ammoniak), ebenso wie zwei Öltropfen sich zu einem vereinigen. Die weichsten dieser Kristalle treten in zylindrischen und eiförmigen Gestalten auf (Fig. 3), häufig zu Zwillingen und Drillingen vereinigt (Fig. 4 u. 5, Cholesterylbenzoat). Bei verschiedenen Stoffen, z. B. Paraazoxyphenetol, Methoxyzimtsäure etc., wurden aber auch wirklich s. K. aufgefunden, die freischwebend vollkommene Kugelgestalt annehmen und sogar in einem Falle leichter flüssig sind, d. h. geringere innere Reibung zeigen, als die bei weiterm Erhitzen bis zum »Schmelzpunkt« aus ihnen entstehende isotrope Flüssigkeit. Solche Kristalltropfen (Fig. 6–23, Paraazoxyanisol) zeigen in der Stellung, in der die Achse, um welche die Moleküle symmetrisch angeordnet sind (Fig. 8), in der Sehrichtung liegt (erste Hauptlage), eine dunkle oder helle Schliere, den »Kernpunkt« (Fig. 6 u. 7), und im polarisierten Licht infolge von Dichroismus farblose und gelbe Quadranten (Fig. 9 u. 10), die bei Anwendung gekreuzter Nicols von einem schwarzen oder (infolge von Drehung der Polarisationsebene) farbigen Kreuz begrenzt erscheinen (Fig. 11 u. 12) und bei geringer Dicke des Präparates, ähnlich wie dünne Kristallplatten, außerdem eine von der Dicke und dem Winkel zwischen den Nicols abhängige Interferenzfarbe aufweisen. Steht die Symmetrieachse senkrecht zur Sehrichtung (Fig. 13), so zeigen kugelförmige Tropfen eine spindelförmige Schliere (Fig. 14), und solche, die zu einer dünnen Scheibe zusammengepreßt sind, zwei Pole (Fig. 15), die im polarisierten Lichte die Ausgangspunkte der farblosen, bez. gelben Felder (Fig. 15) und der schwarzen, bez. farbigen Büschel bei gekreuzten oder halbgekreuzten Nicols sind (Fig. 16, 17 u. 18). Die schönsten Farben zeigen Mischungen von p-Azozyanisol und p-Azozyphenetol bei dem Mischungsverhältnis, bei dem die dunkeln Kreuze und Büschel völlig schwarz erscheinen (d. h. wo keine Drehung der Polarisationsebene auftritt), oder die reinen Stoffe bei halbgekreuzten Nicols (Fig. 13). Da die Tropfen auch anisotrop sind bezüglich der Reibung, geraten sie, wenn von unten erwärmt, alle im gleichen Sinne in Drehung. Für verschiedene Stoffe ist die Rotationsrichtung verschieden, sie läßt sich auch durch geringe Zusätze fremder Substanzen umkehren. Infolge dieses Rotationsbestrebens ist die spindelförmige Schliere gewöhnlich S-förmig oder spiralig verdreht (Fig. 19), und die Tropfen zeigen scheinbar am Rande zwei schräge Einschnitte (Fig. 20). Auch bezüglich der magnetischen Permeabilität zeigt sich Anisotropie, indem sich im Magnetfelde die Symmetrieachsen den Kraftlinien parallel zu stellen suchen, außerdem aber alle von dieser Achse und der Oberfläche entferntern Moleküle sich so zu stellen suchen, daß die eine Auslöschungsrichtung in die Richtung der Kraftlinien fällt (Fig. 21). Mit dem Verschwinden des Magnetismus nehmen die Moleküle momentan ihre frühere Lage wieder an. Beim Zusammenfließen zweier Tropfen in der ersten Hauptlage tritt zwischen den beiden Kernpunkten eine viereckige Schliere auf (Fig. 22). Erwärmt man stark, so daß infolge des Rotationsbestrebens eine Verdrillung der Struktur eintritt, so erkennt man, daß diese Konvergenzpunkte die Stellen sind, wo die Grenzen der noch nicht zu einem einheitlichen Körper verschmolzenen Teile der Tropfen sich berühren (Fig. 23). Allmählich werden diese immer kleiner (spontane Homöotropie), und plötzlich verschwindet das eine Paar, so daß nur ein Kernpunkt übrigbleibt. Bei Aggregation mehrerer Tropfen ist die Zahl der viereckigen Konvergenzpunkte stets um eins kleiner als die der runden Kernpunkte, da sie nach und nach paarweise (ein runder und ein viereckiger) verschwinden und schließlich, nachdem die Struktur eine einheitliche geworden ist, ein runder Punkt übrigbleiben muß. Im polarisierten Licht zeigen solche Tropfen entsprechend viele farblose und gelbe Felder (Fig. 24, eventuell auch Interferenzfarbe) und zwischen gekreuzten Nicols außerdem die die Felder trennenden dunkeln oder farbigen Büschel (Fig. 25). Wird ein Aggregat in Strömung gebracht, so werden die Kern- und Konvergenzpunkte zu Strichen verzerrt (Fig. 26). Beimischung einer isotropen Substanz vermindert die Doppelbrechung, so daß auch dickere Präparate lebhafte Interferenzfarben zeigen. Ist der beigemischte Stoff farbig, so kann dichroitische Färbung entstehen. Bei großem Gehalt an isotroper Substanz zeigt sich die Doppelbrechung nur noch um die Kern- und Konvergenzpunkte und an den Grenzen der einzelnen Individuen, die deshalb zwischen gekreuzten Nicols, wenn sie deren Diagonalen parallel sind, als helle Bänder erscheinen (Fig. 27), die durch große, scheinbar isotrope Gebiete voneinander getrennt sein können. Daß letztere nur durch unregelmäßige Anordnung der Moleküle isotrop sind, erkennt man daraus, daß alsbald intensive Doppelbrechung auftritt, wenn ein Druck auf die Masse ausgeübt und dieselbe hierdurch in Strömung gebracht wird, oder bei Einwirkung magnetischer oder elektrischer Kräfte. Kristalltropfen verschiedener Substanzen können sich zu Mischungen vereinigen. Ebenso kann man Misch- und Schichtkristalle aus flüssigen und fließenden Kristallen erhalten. Die letztern zeigen eine eigentümliche, der Trichitenbildung bei festen Kristallen entsprechende Schraffierung (Fig. 28), aus der auf nahezu gleiche Dicke der den Schichtkristall zusammensetzenden Lamellen zu schließen ist. Diese kann so gering sein, daß sie erst bei mehr als tausendfacher Vergrößerung erkennbar wird und lebhafte Beugungsfarben hervorruft. Häufig findet gleichzeitig Zwillingsbildung statt, wodurch schachbrett- oder mosaikartige bunte Zeichnungen in großer Mannigfaltigkeit entstehen. Auch unregelmäßige, feinkörnige Aggregate fließender Kristalle, speziell von Cholesterinverbindungen, zeigen prachtvolle Farbenerscheinungen bei Betrachtung mit freiem Auge, die noch nicht ganz aufgeklärt sind.

Aus der Existenz flüssiger Kristalle folgt nach O. Lehmann vor allem die Unhaltbarkeit der optischen Theorien, welche die Doppelbrechung mit der Elastizität und mit elastischen Spannungen in Beziehung bringen wollen, denn Flüssigkeiten besitzen nur temporäre Elastizität, ihre Elastizitätsgrenze ist Null. Ferner folgt, daß die anisotrope Struktur nicht durch elastische Kräfte bedingt wird, sondern allenfalls durch elektrische oder elektromagnetische Kräfte. Eine brauchbare Theorie der Kristallstruktur muß also von den elektrischen Atomladungen, den Elektronen (s. d.), ihren Ausgang nehmen, und das Attribut fest ist aus der Kristalldefinition zu streichen. Ferner beweisen die flüssigen Kristalle, daß die physikalischen Eigenschaften eines Körpers, besonders Löslichkeit, Schmelzpunkt, Dampftension etc., nicht von der Art der Aggregation der Moleküle abhängen (vgl. Kristallwachstum), daß also die sogen. drei Aggregatzustände (Phasen) eines Körpers keineswegs solche sind, sondern enantiotrope Modifikationen, die sich durch die Konstitution der Moleküle unterscheiden, und ebenso die sogen. polymorphen Modifikationen, d. h., daß es keinen eigentlichen Polymorphismus gibt, sondern nur chemische und physikalische Isomerie. Aus gleichem Grunde können amorphe Körper von den kristallisierten Modifikationen desselben Stoffes nicht dadurch unterschieden sein, daß sie regellose Aggregate derselben Moleküle sind, sondern sie müssen als Gemenge mehrerer Modifikationen betrachtet werden. Eine kritische Temperatur im Sinne der van der Waalsschen Theorie der Kontinuität des Gas- und Flüssigkeitszustandes kann es nicht geben, die Tatsachen sind vielmehr als Lösungserscheinungen der beiden Modifikationen aufzufassen; eine kritische Temperatur für Kristalle z. B. kann es deshalb nicht geben, weil diese Gase nicht zu lösen vermögen. Die von W. Thomson gefundene Abhängigkeit der Dampf-, bez. Lösungstension an der Oberfläche eines Tropfens von deren Krümmung, die bei eiförmigen Kristalltropfen nicht vorhanden sein kann, da sonst beständige Strömungen im Innern stattfinden müßten, führt zu Beziehungen zwischen den genannten Größen und der Kristallisationskraft (Absorptionskraft, molekulare Richtkraft, Elastizität), da durch deren Wirkung die Tensionsverschiedenheiten kompensiert werden.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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